Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: C. Dinkel und I. Karle

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Sexagesimae, 19. Februar 2006
Predigt zu Markus 4,26-32, verfasst von Kirsten Bøggild (Dänemark)
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


(Text der dänischen Perikopenordnung)

Vertrauen in die Zukunft

Die beiden kurzen Gleichnisse, die wir eben gehört haben, bringen ein grenzenloses Vertrauen in die Zukunft zum Ausdruck. Das Reich Gottes, die Barmherzigkeit wird aus eigener Kraft groß und machtvoll werden. Wir brauchen uns keine Sorgen zu machen, es wird mit der Sicherheit eines Naturgesetzes ganz von selbst geschehen. Während die Zeit verstreicht, w ährend wir leben, während wir wachen und während wir schlafen. Die Gnade Gottes wird wachsen und sich von ihrem eigenen Beginn an ausbreiten. Wie der Same in der Erde aus seiner eigenen biologischen Kraft zu Korn wird. Wie das Senfkorn aus seiner geringen Größe zu einer großen Pflanze heranwächst mit Zweigen, die so groß sind, dass Vögel darin Nester bauen können, aus eigener Kraft und aus eigener Bestimmung. Oder wie ein Embryo in der Gebärmutter, das von selbst geboren wird und heranwächst und zu einem erwachsenen Menschen wird mit seinem eigenen Leben und seiner eigenen Geschichte. Das Mysterium des Wachsens können wir überall in der Natur und im Menschenleben beobachten. Und so sind es denn auch nicht wir, die das Reich Gottes oder den Anfang dazu geschaffen hätten. Es kommt von Gott, wie es ja selbst sagt. Er ist die Quelle des Wachstums der Liebe. Er ist derjenige, der Gnade vor Recht ergehen lässt – und damit beginnen die Wirkungen der Gnade, sich Geltung zu verschaffen. Dass Menschen dankbar sind, neuen Mut bekommen, einander Liebe und Fürsorge erweisen, Glauben an die Zukunft bekommen... Die Gnade breitet sich wie Ringe im Wasser aus. Es wird möglich, daran zu glauben, dass sich das Leben erneuert.

Es ist eine Glaubenssache, dass es so ist. Dass die Gnade ihre Wirkungen wie Ringe im Wasser ausbreitet. Dass alles am Ende gut sein wird. Und dass es deshalb sinnvoll ist, an die Zukunft zu glauben. – Es gibt so viele Dinge, die uns Angst machen vor der Zukunft und uns denken lassen, alles hinge davon ab, was wir selbst tun oder nicht tun. Das macht uns pessimistisch. Denn wir wissen sehr wohl, dass wir nicht viel Macht über die Zukunft haben, weder über unsere eigene noch über die Zukunft anderer oder über die Zukunft der Welt. – Was aber geschähe, wenn wir auf die Gleichnisse Jesu hörten und den Glauben daran annähmen, dass das Reich Gottes in Zukunft von selbst wachsen und groß werden wird?! Dass alles am Ende gut sein wird? Man stelle sich vor, an die Zukunft glauben zu können! Welch eine Freiheit! Freiheit von Angst, von Sorge, von Enttäuschung über das Leben und das Schicksal!

Man sagt, alte Menschen würden milde und freundlich. Was geht da vor sich? Ist die Milde im Gemüt mit den Jahren gewachsen? Mit den Erfahrungen und der Menschenkenntnis eines langen Lebens? Damit dass man sich selbst und andere im Guten wie im Bösen kennen gelernt hat? Hat ein langes Leben sie mit ihren Mitmenschen versöhnt, weil sie erfahren haben, dass das Leben sie mit sich selbst versöhnt hat, obwohl sie es nicht verdienten? – Aber man sagt auch, dass alte Menschen verdrießlich und mürrisch werden. Warum nun das? Geschieht das, weil sie die Freude vergessen haben? Die Freude an anderen Menschen? Geschieht das, weil ihr Leben in Enttäuschung über das, was es war, geendet ist? Und weil sie sich nicht damit versöhnen können? Weder mit Gott noch mit Menschen und sich deshalb im Grunde nicht mit sich selbst versöhnen können?

Das bedeutet, dass das Reich Gottes im persönlichen Leben heranwachsen und groß werden kann, in Gemüt und Geschichte des einzelnen Menschen. Aber es bedeutet auch, dass es im persönlichen Leben, im Gemüt des einzelnen Menschen vertrocknen und sterben kann. Beide Möglichkeiten sind vorhanden. Aber das Entscheidende ist, dass es, wenn es keimt, von selbst wächst. Und das ist der Grund, weshalb der Einzelne in seinem persönlichen Leben grenzenloses Vertrauen in die Zukunft haben kann, Vertrauen darauf, dass alles am Ende gut wird.

Aber woher hat der Einzelne diesen Glauben an die Gnade der Geschichte – wenn nicht vom Christentum? Von der Verkündigung der Kirche? Er ist nicht von selbst entstanden wie eine angeborene Selbstverständlichkeit. Aber der Gedanke, dass die Geschichte des Menschen als durch die Gnade Gottes erleuchtet erfahren werden kann, das ist ein Gedanke, der mit der christlichen Verkündigung gekommen ist. Und auch wenn man nicht in die Kirche zum Gottesdienst hineingeht, um den biblischen Texten und der Liturgie der Kirche zuzuhören, so lebt der Gedanke dennoch in unserem gemeinsamen Unterbewusstsein, weil er ein entscheidender Bestandteil unserer gemeinsamen Geschichte in tausend Jahren gewesen ist. Die Gebäude der Kirchen – besonders die alten wie z.B. unser 800 Jahre alter Dom hier in Aarhus – stehen in der Landschaft und im Stadtbild als eine Erinnerung an etwas, das vielleicht fern und unverständlich, zugleich aber ewig und unentbehrlich ist. Sie stehen da als Symbole der Gnade Gottes, hier und jetzt und am Ende der Geschichte, sowohl der individuellen Geschichte als auch der kollektiven. Das Gebäude der Kirche als Symbol der Erneuerung von Zeit und Ort durch die Gnade, von Geschichte und Entwicklung. Als Symbol, dass die Zukunft offen ist, nicht verschlossen. Hin und wieder ist es, als ob Schuld und Unglück der Geschichte alles füllten und jegliche Hoffnung auf Erneuerung und Zukunft zunichte machten. Aber da ist es die Gnade der Geschichte, dass die Vergangenheit in einem neuen Licht gesehen werden kann, so dass sie nicht verschließt sondern das Tor öffnet für ein reicheres Leben mit einem neuen und mehr umfassenden Verständnis. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft erscheinen in einem neuen Licht, und eine neue Vision der Zukunft kann Leben und Nahrung erhalten. Die Gnade erlöst die Vergangenheit; das wird erfahren durch Tage und Jahre, als ob sich die Zeit selbst bewegte und frei macht. Niemand und nichts steht still, auch wenn man es so empfinden kann. Die Geschichte bewegt alles, und wenn das übergeordnete Symbol der Geschichte die Gnade Gottes ist, dann sind Befreiung und Erneuerung entscheidend in jeder kleinen und großen Geschichte. Viele Gefühle und Gedanken kreisen um Schuld und Strafe und Hoffnungslosigkeit, um das Leben als eine Enttäuschung – aber das ist nicht die innerste Wahrheit. Die Verkündigung der Vergebung der Sünden verjagt den Gedanken vom Leben als einer Enttäuschung und ersetzt ihn durch Hoffnung und Phantasie.

Wenn Jesus diese kleinen großartigen Gleichnisse über das Verhältnis zwischen Gott und Menschen erzählte, in denen Gottes Gnade dasjenige ist, aus dem alle Dinge wachsen und reifen, während Menschen leben und sterben, lieben und hassen, fürchten und hoffen – dann waren sie Ausdruck einer göttlichen Vision. Ein Sich-erheben über die Angst früherer Zeiten, verloren zu gehen. Furcht, dass man am Ende sein Leben zusammen mit dem Leben anderer in Schuld und Bedeutungslosigkeit verschwinden sehen wird. Dass man sein Leben in Bitterkeit darüber beenden sollte, dass es umsonst gelebt worden ist, weil es verfehlt war, ja gar nicht gelebt worden war. – Die Gnade der Geschichte sieht das Menschenleben anders, behauptet Jesus. Sie gibt ihm Bedeutung für uns selbst, für die anderen, für Gott. Sie wirft ein anderes geschichtliches Licht über unser Leben, als wir selbst es können. Sie inkorporiert die Geschichte unseres Lebens in die Geschichte Gottes. In einer Bewegung, die von einem größeren Horizont kommt als nur dem unsrigen. Deshalb ist es möglich, auf neues Leben zu hoffen, wie tödlich getroffen es uns auch vorkommen mag.

Denn die Erneuerung des Lebens kommt von der Gnade Gottes. Von Gottes Geschichte mit den Menschen. Das ist religiöse Rede und lässt sich nicht ohne weiteres auf gewöhnlichen weltlichen oder wissenschaftlichen Gedankengang übertragen. Für die nüchterne Vernunft scheint es, als würde unsere Welt früher oder später untergehen. Sie scheint sich selbst aufzufressen in Konsum und Krieg oder anderen Katastrophen. Aber diesem Pessimismus gegenüber spricht die religiöse Sprache in der Kirche von Gottes Gnade in der Geschichte des Menschen. Wie lassen sich so verschiedene Denkweisen miteinander vereinen? Der moderne Mensch muss mit den beiden Verständnissen leben und sich in dem allen einen Platz erkämpfen. Er hat die Möglichkeit bekommen, mit einem unbegrenzten Vertrauen in die Zukunft zu leben, wenn die Zukunft als die Gnade Gottes verstanden wird. Und dann muss der moderne Mensch all das, was er nicht versteht oder bewältigt, dieser Gnade überlassen. Nur dann kann er schlafen und wachen, leben und sterben ohne das Gefühl von Untergangsverzweiflung und Frustration im Namen der Ganzheit.

Es gibt ja mehrere Möglichkeiten, frei und froh zu sein. Man kann die Augen schließen und so tun, als gäbe es nur Güte und Freude in der Welt. Das taugt nicht. Eines Tages muss man die Augen aufmachen und sehen, wie hässlich es auch ist, in einem selbst und draußen in der Welt. Man kann auch von Anfang an die Augen aufmachen und alles durchschauen, das Gute und das Böse, das Schöne und das Hässliche – und von der Gnade der Geschichte lernen, es als die Wirklichkeit in Bewegung zu sehen. Die Freude ist erlaubt, wenn es denn erfahren wird, dass sie von Neuem entsteht, dass sie sich als eine unbezwingbare Stärke erweist in der Zeit, die geht und geht und sich verändert und kommt und geht, wie sie will. Trotz all des Bösen, all des Hässlichen. – Von allen Seiten ruft man, dass wir aktiv sein sollen, dass wir uns einsetzen sollen – für unser eigenes Leben und für das Leben der anderen. Das ist nicht verkehrt. Aber heute sagen die Texte der Kirche etwas anderes: Dass Gott – ungeachtet was wir tun, ob wir wachen oder schlafen – mit uns und unserer Geschichte handelt, weil Gott Gnade ist und die Zeit Befreiung und Erneuerung.

Amen.

Pastor Kirsten Bøggild
Thunøgade 16
DK-8000 Århus C
Tel. +45 86124760
E-mail: kboe@km.dk

Übersetzung aus dem Dänischen: Dietrich Harbsmeier


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