Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: C. Dinkel und I. Karle

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Aschermittwoch (Beginn der Passionszeit), 1. März 2006
Predigt zu 2. Korinther 7, 8-10, verfasst von Stefan Knobloch
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


„Wege aus der Traurigkeit“

Im ersten Moment könnten wir ja fast abwehren. Was sollen wir am heutigen Aschermittwoch einem Problem nähertreten, das Paulus mit seiner Lieblingsgemeinde in Korinth gehabt hatte. Er hatte ihnen – auf die genaueren Hintergründe müssen wir hier gar nicht eingehen – einen geharnischten Brief geschrieben, der ihnen Kummer bereitet hatte. Es überkam sie so etwas wie kollektives Leid und kollektive Trauer. Auf ihren Gesichtern war die Freude über ihr Christsein wie eingefroren. Über diese Wirkung seines Briefes machte sich wiederum Paulus Gedanken. Auch er empfand so etwas wie Traurigkeit, die sich aber alsbald ins Gegenteil, in Freude wandelte, als er erfuhr, welchen positiven Gesinnungswandel sein Brief bei den Korinthern am Ende ausgelöst hatte. Die durch seinen Brief ausgelöste Betrübnis hatte sie zu einem Gesinnungswandel geführt. Zu welchem bleibt zunächst noch offen. Das griechische Wort „Metanoia“, das Paulus hier verwendet, bedeutet in der Tat an der Stelle nichts anderes als Gesinnungswandel. Es hat hier noch nicht die tiefere und vom Neuen Testament her uns geläufige Bedeutung einer von Gott getragenen Umkehr des Menschen zu Gott. Erst im nächsten Gedankenschritt macht Paulus deutlich, daß der Gesinnungswandel der Korinther auf Gott ausgerichtet war, daß sie sich in ihrer traurigen Betroffenheit auf Gott besannen, woraus Paulus für sich wiederum ableitete, vom Resultat her habe er sich keine Vorwürfe zu machen, daß er die Korinther in Traurigkeit gestürzt hatte.

Das mag sich ja alles so verhalten haben. Nur, so könnten wir immer noch einwenden, was sollen wir dem unsere Aufmerksamkeit widmen? Was soll das uns interessieren?

Zwei Wege aus der Traurigkeit

Das soll sich und wird sich zeigen, wenn wir die beiden nächsten Sätze des Paulus hinzunehmen, mit denen es aber dann auch sein Bewenden haben soll. In einer in der deutschen Übersetzung gar nicht nachahmbaren sprachlichen Dichte macht Paulus den Korinthern klar, daß ihr Gesinnungswandel gewissermaßen die Operationsfläche bot, auf der es bei ihnen zu einer wirklichen „Metanoia“, jetzt im klassischen Sinn der (erneuten) völligen Hinkehr ihres Lebens zu Gott kam. Zu einer Metanoia, die sie wieder im Heilsraum Gottes Fuß fassen ließ. Und zwar ohne jeden Anflug weiterer Traurigkeit. Ihre Traurigkeit ließ sie Gott wiederentdecken, und in ihm das durch Jesus Christus angesagte Heil.

Der Trauer, die zu Gott führte und führt, setzt Paulus eine Trauer entgegen, die er die „Trauer der Welt“, oder sagen wir, den Weltschmerz, nennt, die die Eigenschaft hat, zum Tode zu führen. Damit hat Paulus, von einem konkreten Anlaß herkommend, den wir damit auch schon verlassen dürfen, zu einer Aussage gefunden, die in überraschender Dichte von allgemeiner Bedeutung ist, eine Aussage, die uns nicht umsonst am heutigen Aschermittwoch erreicht und uns zum Nachdenken bringen kann.

Ab sofort geht es also nicht mehr um die Korinther, sondern nur noch um uns. Paulus bietet uns – wenn wir das einmal etwas fahrlässig so sagen dürfen – zwei Möglichkeiten an: eine Traurigkeit, die in den Heilsraum Gottes führt, wir können auch sagen, in den Raum des christlichen Glaubens, und eine Traurigkeit, die in ihrer ausschließlich weltlich-säkularen Orientierung in den Tod führt. Dabei ist es nicht so, daß uns Paulus beide Möglichkeiten zur Wahl stellte. Er ist natürlich daran interessiert, daß wir die richtige Wahl treffen, die Wahl des Glaubens an Gott in Jesus Christus.

Von der Betrübnis ins Heil

Bleiben wir fürs erste bei der Wahl des Glaubens. Das mag sich alles zunächst merkwürdig blaß und abstrakt ausnehmen. Worum soll es bei ihr gehen? Und inwiefern soll sie eine Wahl sein, die aus der Traurigkeit herrührt und diese – trotz und in aller Glaubenswahl – nie ganz abschütteln kann? Reden wir von uns.

Wir bezeichnen uns und verstehen uns als Christinnen und Christen. Irgendwie versuchen wir, wenn auch sicher mit vielen Abstrichen, unser Leben am Glauben zu orientieren. Wenn das heutzutage auch schwieriger ist als zu früheren Zeiten, die man als die christentümliche bezeichnet hat, in denen die Vorgaben des Christlichen alle Lebensreiche beeinflußten. Das ist heute anders. Nicht nur das Leben, auch das religiöse Leben, der Glaubensvollzug, unterliegt heute einer gesellschaftsstrukturell bedingten Individualisierungserfahrung. Wie auch immer, wir verstehen uns als Gläubige, als Menschen, die an der Botschaft Christi ihr Leben zu orientieren versuchen. Und insofern sind wir vom Tod zum Leben übergegangen (vgl. 1 Joh 3,14), haben Anteil an der christlichen Hoffnung. Wir haben also irgendwie die Trostlosigkeit und Traurigkeit eines hoffnungslosen Lebens hinter uns, auch wenn uns die alte Traurigkeit immer wieder überkommen mag. Denn der Ruf des Vaters eines besessenen Jungen, „Herr, ich glaube; hilf meinem Unglauben!“ (Mk 9,24), könnte auch unser Ruf sein.

Denn durch unseren Glauben zieht sich möglicherweise so etwas wie eine zweifache Trauer. Zum einen kann es die Trauer darüber sein, oder sagen wir einfach, die Erfahrung, daß wir den Boden der christlichen Hoffnung nur halbherzig betreten haben, daß wir hier so viele Abstriche machen, ja daß wir manchmal gar nicht mehr genau wissen, woraus wir letztlich wirklich leben. Neben dieser Art der Trauer mag uns auch eine andere, unseren Glauben begleitende Trauer nicht ganz fremd sein, die Trauer darüber nämlich, ob wir uns als Christen nicht manchmal von den besseren Seiten des Lebens abgeschnitten vorkommen, ob wir nicht manchmal Gebote und Gesetze auf uns gelegt sehen, ohne die das Leben leichter sein könnte?

In dieser ambivalenten Erfahrung unseres Christseins sollen wir in dieser Quadragesima, in dieser Fastenzeit wieder Orientierung suchen und jene Schritte auf einen intensiveren Glauben hin tun, den damals auch die Gemeinde in Korinth getan hat. Dann kann uns unser Glaube immer mehr die Erfahrung des Heiles unseres Lebens aus Gott vermitteln.

Von der Betrübnis in den Tod

Die ganz andere Erfahrung, die Paulus benennt, ist die Erfahrung der „Traurigkeit der Welt“, die zum Tode führt. Bei diesem Stichwort der „Traurigkeit der Welt“ läßt sich an vieles denken. Bleiben wie zuerst beim individuellen Leben des einzelnen. Nicht wenige haben heute Probleme mit dem Älterwerden. Alle wollen zwar alt, aber keiner will älter werden. Sie leiden gewissermaßen an der „Traurigkeit“, daß ihr Leben begrenzt ist, ja, sie sind sich überhaupt unsicher, was es mit ihrem Leben auf sich hat. In dieser Unsicherheit suchen sie in ihrer Leiblichkeit, in ihrem Körper die letzte haltgebende Sinnkonstante ihres Lebens. Ich will hier nicht alles über einen Kamm scheren. Aber der heute so auffällige Wellnesstrend läßt schon aufmerken. Wellnessprogramme, Anti-Agingprogramme sind der Trendsetter. Wellnesshotels sprießen aus dem Boden, sie haben eine Marktlücke entdeckt, nach der die Menschen heute fragen.

Ohne die Wellnessszene insgesamt zu ironisieren – denn da müssen wir gerechterweise schon unterscheiden -, möchte man sich manchmal fragen, ob wir angesichts mancher Wellnessszenarien den Geist der Aufklärung ganz hinter uns gelassen haben. Da gibt es neben Solarien, Kräuter- und Farblichtsaunen osmanische Bäder und Massagen, Räucherstäbchen, Räucherkohle, chinesische Kugeln, tibetanische Gebetsglocken, Chakra-Kissen und glücksbringende Buddhaminiaturen.

Um es kurz zu machen: Darin kann sich eine „Traurigkeit der Welt“ ausdrücken, wenn in diesen Phänomenen letztlich nichts anderes sichtbar wird, als die Fixierung auf den Leib. „Das (leibliche) Leben als letzte Gelegenheit“ zu verstehen – so ein Buchtitel von Marianne Gronemeyer -, kann in der Tat die Traurigkeit, den Weltschmerz über die Endlichkeit und Vergänglichkeit des Lebens widerspiegeln. Es führt letztlich in den Tod.

Nicht verschwiegen sei allerdings, daß es daneben auch Beobachtungen gibt, die am modernen Wellnesstrend eine gewisse Spiritualität, eine Suche nach „Mehr“, wahrnehmen, eine Suche, die sich paradoxerweise im Bereich des Körpers und des körperlichen Wohlgefühls ausagiert.

Die Traurigkeit der Welt, die zum Tode führt, ist hier unser Stichwort. Es kann uns auch zu einem weiteren Zusammenhang, zu einer das Politische betreffenden Erwägung führen. Durch den Anschlag auf die Twin Towers des World Trade Centers in New York am 11. September 2001 wurde die westliche Welt, allen voran, Amerika, in ihrem Selbstbewußtsein erschüttert. Man hat den Eindruck – ohne hier komplexe Fragestellungen vereinfachen zu wollen -, daß die Bush-Administration in eine tiefe Traurigkeit, in einen Weltschmerz darüber verfiel, daß Amerika und die freie Welt so verwundbar seien. Das konnte und durfte nicht sein. Und so entwickelte sich aus der Traurigkeit, aus dem Schmerz der Gedanke der weltweiten Vernichtung des Terrorismus. Psychologisch gesehen sollten der Schmerz, die Betrübnis kompensiert werden durch den Anspruch, unverwundbar zu sein. Und so wurden Strategien entwickelt, die die Würde des Menschen und die Demokratisierung der Völker auf ihre Fahnen schrieben, die aber im letzten – so muß man fragen dürfen – nicht wieder zu Gewalt und Tod führten und führen? Welches Signal sendet Guantánamo in die Welt aus? Welche Signale senden die neuerlich aufgetauchten Folterbilder aus Abu-Ghraib aus?

Belegt das nicht alles, daß in der Tat die „Traurigkeit der Welt“, von der Paulus spricht, zum Tode führt? Mit dieser Frage – das müssen wir einräumen –werden wir der Komplexität der Probleme, die mit dem internationalen Terrorismus aufgeworfen werden, gewiß nicht gerecht. Aber einen berechtigten Aspekt am ganzen stellt sie dar, und zwar nicht den unbedeutendsten, einen, auf den uns Paulus heute aufmerksam macht.

Das läßt sich freilich auch an der anderen Seite konstatieren – um die Dinge hier etwas plakativ zu vereinfachen. Die Art und Weise, wie in den letzten Wochen in den islamisch-arabischen Ländern auf Mohammed-Karikaturen reagiert wird, wie sie ihre traurige Betroffenheit, ihren Schmerz, ja, ihre Wut ausagieren, das ist ebenso in aller Deutlichkeit ein Weg, der, mit Paulus gesprochen, von der Traurigkeit in den Tod führt.

Ausklang

Lassen wir uns von Paulus auf einen besseren Weg bringen. Zunächst wir als einzelne, als Gläubige, die an der Botschaft des Evangeliums ihre Lebensorientierung zu gewinnen versuchen. Gehen wir die Wege des Lebens, auch in dem uns möglichen Dialog mit Menschen anderer Kulturen und Religionen. Und dies auf der Basis der Überzeugung, daß letztlich alle Religionen Wege zum gerechten Leben und zum Frieden sind, auf die Gott uns zu unser aller Wohl gerufen hat und ruft.

Prof. Dr. Stefan Knobloch
dr.stefan.knobloch@t-online.de


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