Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: C. Dinkel und I. Karle

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Reminiszere, 12. März 2006
Predigt zu Markus 9, 14-29, verfasst von Hans-Ole Jørgensen (Dänemark)
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(Text der dänischen Perikopenordnung)

Die wenigsten unter uns sehen Krankheit im Zusammenhang mit bösen oder unreinen Geistern. Gewiss ist es wieder modern geworden, mit etwas mehr zwischen Himmel und Erde zu rechnen, als wir lange Zeit geglaubt haben. Die dänische Fernsehserie „Die Macht der Geister“ fasziniert viele, wie man hört, und in den letzten Jahren hat sich in unserer abendländischen Welt eine ganze Industrie sogenannt alternativer Behandlung mit dem dazugehörigen Denken breit gemacht.

Aber die meisten von uns wenden sich denn doch an einen Arzt, wenn den Kindern etwas fehlt. Jedenfalls ist das das Erste, was wir tun, und wir wären verblüfft, glaube ich, wenn der herbeigerufene Arzt am Krankenbett so etwas wie eine Austreibung böser Geister vornähme. Jedenfalls, wenn es sich um eine ganz gewöhnliche Grippe handelt.

Der kranke Knabe im Text wurde früher „mondsüchtig“ genannt. Und empfindsame Menschen wissen noch, dass der Mond etwas an uns bewirken kann, wenn er voll und rund ist, dass die Stimmung dann schwerer zu beherrschen ist als sonst; manche können des Nachts die Werwölfe heulen hören und sehr viel mehr Menschen können nur schwer richtig einschlafen. Wir haben in unserer Sprache alte, ehrwürdige Ausdrücke, in denen sich solche Erfahrungen erhalten – etwa das deutsche Wort launenhaft. Das lateinische Wort für Mond ist Luna, das Wort „Laune“ bedeutet urprünglich Zeit des Mondwechsels, und launenhaft ist derjenige, mit dem man nicht ganz rechnen kann. So ist es noch heute. Auf Englisch kann das Wort lunatic direkt einen Geisteskranken bezeichnen.

Heute gebrauchen wir nicht mehr das Wort mondsüchtig. Wir nennen ihn den „Knaben mit dem unreinen Geist“ oder den „Besessenen“ – und nach dem Gottesdienst werden wir ihn vermutlich noch einmal anders benennen. In gewöhnlicher Sprechstundensprache ausgedrückt, hat er wohl an Epilepsie gelitten, der kranke Knabe. Aber was immer ihm gefehlt hat, und wie immer wir das in dem einen oder anderen System nennen, die Wirklichkeit ist dieselbe, und an dem Entscheidenden wird sich nichts ändern: an dem Fluch der Krankheit und unserer Ohnmacht ihr gegenüber.

Ob wir es so oder so benennen, für unsere Erfahrung macht das keinen Unterschied. Wenn ernste Krankheit uns heimsucht, Krankheit, die nicht heilbar ist, dann haben wir mit etwas zu tun, war wir nicht beherrschen. Und dann sind wir grundsätzlich gleich, wir, die wir jetzt leben, wie diejenigen, die einmal gelebt haben: dann sind wir kleine Menschen in einem Dasein, das keineswegs von uns selbst bestimmt wird.

Erzählungen von Kranken, die auf wunderbare Weise gesund werden, ist guter Stoff für die Illustrierten. Denn sie beinhalten ja eine Möglichkeit, die auch die unsrige werden könnte, falls wir einmal von einer ähnlichen Krankheit heimgesucht werden sollten. Wir erzählen sie uns zur Unterhaltung, wenn wir uns begegnen, und dagegen lässt sich sicher so manches einwenden. Aber wir finden sie – solche Erzählungen – auch in der Bibel. Und sie sind deshalb gut, weil sie eine Hoffnung am Leben erhalten, die jedermann in einem ganz gewöhnlichen Dasein nötig haben kann.

Denn die Zeiten, in denen alles von selbst geht, machen ja niemals das ganze Dasein aus. Öfter – oder jedenfalls, mit größeren Anforderungen – geschieht es, dass der Mensch mit den Dingen leben muss, die wir sehr viel lieber anders gesehen hätten, mit Einschränkungen dieser oder jener Art. Oft müssen wir uns begnügen, oft können wir nur hoffen. Und deshalb ist es gut, dass wir Erzählungen haben, die vom Guten handeln, Erzählungen, in denen das Gute am Ende siegt.

Als Jesus den Knaben mit dem unreinen Geist heilt, ist er gerade vom Berg der Verklärung herabgekommen, wo Petrus und Jakob und Johannes ihn einen Augenblick lang in einem starken, überirdischen Lichtschein erlebt haben und wo Petrus denn auch vorgeschlagen hatte, dass sie dort bleiben sollten, wo alles so herrlich war. Auch wir können in den großen Augenblicken des Lebens den Wunsch in uns vernehmen, dass die Zeit jetzt einfach nur stehen bleiben möge, Unrecht aufhören und dieser herrliche Augenblick bis ins Unendliche andauern möge. Aber so ist die Wirklichkeit nicht. Und deshalb stieg Jesus auch wieder von dem Berg herab.

Er wollte nicht dort bleiben, in der blauen Luft, wo die Träume sind, nicht aber das Leben. Er wollte hinab in die Wirklichkeit, zum Menschen, wie er allezeit gestellt ist, im Kampf zwischen dem, was unsere Trauer, und dem, was unsere Freude anspricht.

Der Knabe wurde geheilt. Und auf diese Weise endete die Geschichte, als wäre sie dennoch ein Märchen der Art, die nicht der Erde angehört. Aber das Gute findet statt, es findet manchmal auch dort statt, wo es weder zu begreifen noch zu erklären noch vorherzusehen war, es findet manchmal statt wie in einem Märchen. Aber etwas fehlt hier doch, denn eines wird hier nicht zu Vater und Sohn gesagt, und das pflegt eigentlich in den Märchen gesagt zu werden: und sie lebten danach glücklich bis an das Ende ihrer Tage. Genau dies bekamen sie nicht zu hören. Denn für niemanden verläuft die Geschichte jemals so. Wie oft auch das Gute geschehen mag, wir wohnen in einer Welt, die unaufhörlich nach Veränderung ruft. Heilung ist immer eine Freude, und mit Freude vermögen wir alle mehr. Aber bergan geht es nur, wenn wir müssen. Sorge und Freude...

Für Kinder ist es schwer erträglich, wenn eine Erzählung nicht gut ausgeht. Das Kind identifiziert sich mit dem Erzählten, und wenn der Held den Tod findet oder wenn ihm etwas anderes Böses zustößt, dann weint das Kind und erlebt das Böse nahezu am eigenen Leib. Für uns Erwachsene ist der Abstand größer. Wir haben gelernt zu abstrahieren. Aber auch wir leben mit Berichten, auch wir schöpfen Mut zum Leben aus Berichten, die wir hören. Aus Büchern, die wir lesen, aus Filmen, die wir sehen. Auch wenn es da um andere Menschen geht als um uns selbst.

Wenn Erzählungen von Kranken, die auf wunderbare Weise gesunden, guter Stoff ist, dann hat das wohl seinen Grund eben darin. Solche Erzählungen bewahren einen Reichtum des Lebens an Möglichkeiten, an die wir nicht bloß lieber glauben wollen als an das Gegenteil. Sondern an die zu glauben wir auch sehr nötig haben in außerordentlichen Situationen, wenn sich das Leben um uns verschließt und die Aussichten entscheidend versperrt werden.

Freude mit anderen gibt es wohl auch. Sie ruft Kräfte in uns wach. Wohl mag es schwer sein, wenn man selbst voller Schmerzen ist, seine Freude von einem Glück her zu erwarten, das anderen zuteil wird. Und wohl mag es im Menschenleben in reichem Maße Schadenfreude und Neid geben, die einer solchen Freude im Wege stehen. Aber eine Mutter kann sich denn doch sehr wohl über das Schicksal ihres Kindes freuen. Mitgefühl gibt es.

Die Erzählung von Jesu Heilung des Knaben mit dem unreinen Geist ist eine biblische Erzählung, und sie hat als solche natürlich eine theologische Bedeutung. Sie erzählt uns von Gott, von dem Gott, der von dem Berg herabkam, herab zu uns, die wir hier leben müssen mit Leiden und Ohnmacht neben dem Glücklichsten, das wir kennen. Von dem Gott, der hierher kam, seinen Menschen sah – den Menschen, wie er ihn von Anfang an geschaffen hatte in seinem eigenen Bilde –, der sich seiner erbarmte und ihn gut machte. Aber die Erzählung ist auch auf einer ganz gewöhnlichen Ebene eine Erzählung von etwas Gutem, das einmal in der Welt geschah, für einen Knaben und seine Familie, für die, die jetzt direkt davon betroffen waren. Und schon als eine solche gewöhnliche Erzählung tut sie gut, denn sie trägt dazu bei, die Hoffnung zu erhalten, die daher rührt, dass das Leben gelegentlich Wege findet, an die wir selbst nicht gedacht hätten.

In der Erzählung stoßen wir auf einige sehr radikale Formulierungen über die Bedeutung des Glaubens für das, was wir können. Zuerst in Jesu Ausruf, als er hört, dass die Jünger nichts haben tun können – O du ungläubiges Geschlecht, wie lange soll ich euch ertragen? – und dann in seiner Antwort an den Vater des Knaben – Alle Dinge sind möglich dem, der da glaubt – und schließlich in dem verzweifelten Ausruf des Vaters: Ich glaube, hilf meinem Unglauben!

Jesus sagt mit seinen Aussagen nicht, dass es unsere eigene Schuld wäre, wenn wir krank oder traurig sind, oder was nun der Fall sein mag von dem, was wir nicht sein mögen; denn wir hätten ja nur etwas mehr zu glauben brauchen, dann wäre alles möglich gewesen, was wir gewollt hätten! Soetwas zu sagen wäre ein Hohn. Und der liegt ihm fern. Der Glaube ist kein Instrument solcher Art, das man zu seiner Verfügung hätte. Wir können nicht glauben, wenn wir nicht handeln. Mit dem Glauben verhält es sich so, wie mit dem Willen: nicht wir sind Herr über ihn, sondern der, der Herr über uns ist. Wir können nur das wollen, was wir wollen.

Aber wir sollen hören: verlieren wir die Hoffnung, dann können wir nicht leben. In einem anderen Zusammenhang sagt Jesus es so: Es geschehe dir, wie du geglaubt hast. Denn wenn wir hoffnungsvoll glauben, dass das Gute auf uns wartet irgendwo draußen jenseits von dem, was wir im Augenblick zu überschauen vermögen, dann wird der Weg leichter für uns zu gehen sein, als wenn wir das Gegenteil glauben. Die Ärzte wissen das, und sie sprechen davon, aber es gilt in allen Bereichen. Unsere Erwartungen spielen eine Rolle für das, was faktisch geschehen wird. Auch Hoffnung kann die Welt verändern.

Aber das Problem ist natürlich, dass wir auch Erfahrungen haben, die dagegen sprechen: denn schauen wir zurück, dann waren da auch Erwartungen, die nicht erfüllt worden sind, etwas woran wir mit unserem ganzen glühenden Herzen geglaubt haben und wofür wir uns voll engagiert haben, als wir anfingen, was sich dann aber dennoch unterwegs anders entwickelte, als wir glaubten. Enttäuschungen gibt es, und sie können leicht zu einem Klotz am Bein für uns werden. Denn Enttäuschungen stehlen, sie stehlen unsere Hoffnung und bringen den Glauben ins Wanken, den Glauben, der vielleicht Berge versetzen kann, wenn wir ihn denn hätten.

Ein Mensch kann leicht zu viel wissen. Der Dichter Ole Wivel spricht in einem Lied in einem anderern Zusammenhang von einer Bedrohung in unserer Zeit. Der Satz gilt auch, wenn wir an unsere Enttäuschungen denken. Was uns in ihnen bedroht, ist auch – wie in dem Lied – „eine böse, unsichtbare Macht: unser eigenes sicheres Wissen“. Denn wenn zu viel von dem, was wir hinter uns haben, nicht zu dem wurde, wozu es werden sollte, nicht zu dem, was wir erhofften, und nicht zu dem, woran wir glaubten, – und das ist es ja, was wir in der Enttäuschung wissen –, dann wissen wir etwas, was sich wie ein Klotz an unser Bein legt, etwas, das unseren Mut vermindert (stiehlt) und unsere Hoffnung ermüden macht. Dann wissen wir zu viel.

Deshalb sind Erzählungen über das Gute gut. Gewöhnliche Erzählungen von den Ereignissen im Menschenleben, die – wunderbar oder nicht – die Wege der Hoffnung offenhalten können, wenn wir jeder in seiner Situation an Erfahrungen tragen, die uns allzu sehr belasten. Und die biblischen Erzählungen sind nicht die schlechtesten. Denn in ihnen leben Worte, auch von Gott.

Den Erzählungen von Jesus hören wir zu, um die Zukunft offenzuhalten. An sie können wir uns halten, wenn es uns drängt, mit größeren Worten als unseren eigenen zu hören, dass auch Gott am Kampf gegen das Böse teilnimmt und dass deshalb alles offener ist, als es uns im Augenblick erkennbar sein mag.

Wenn sich das Leben um uns schließt mit all dem, was eine hoffnungsvolle Aussicht versperrt, dann ist es gut, denken zu können, wie Paulus einmal sagt – und das ist etwas vom Besten, was er überhaupt gesagt hat: Deshalb habe ich Hoffnung, deshalb bin ich noch guten Mutes: Gottes Gnade hört nicht auf!

Und etwas anderes, was uns Trost spendet, ist das Gebet, der Gedanke an das Gebet, mit dem unser Text schließt. Hast du Angst vor irgendetwas, dann vertraue nur auf dein Vaterunser. Amen.

Pastor Hans-Ole Jørgensen
Hyrdestræde 5
DK-6000 Kolding
Tel.: +45 75 52 06 61
E-mail: haoj@km.dk

Übersetzung aus dem Dänischen: Dietrich Harbsmeier


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