Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: C. Dinkel und I. Karle

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Judika, 2. April 2006
Predigt zu 4. Mose 21, 4-9, verfasst von Dankwart Arndt
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Wer könnte Unmut, Ärger, Verdrossenheit, „Frust“ – sagt man heute -, die das Volk erfassten – wer könnte sie nicht verstehen?! Endlich dicht vor dem Ziel – da heißt es: ab-drehen, ab-biegen, aus-weichen. Das Gelobte Land liegt vor Augen, aber – es geht nicht hinein! Endlich hätte man eine feste, sichere Existenz aufbauen, das elende Nomadenleben aufgeben können – da heißt es stattdessen: „vor-wärts – zurück!“ Zurück in Richtung Schilfmeer, hinaus wieder in die Wüste, die man endlich hinter sich wähnte. Wann denn endlich wird der Schritt ins Gelobte Land nicht mehr gehindert werden können – nicht von Kanaanitern und auch nicht von Edomitern?!

Das alles nicht in märchen- oder mythenhafter Ferne, sondern „wie im richtigen Leben“. So sieht die Last des Alltags aus. Das sind die Knüppel, die einem üblicherweise zwischen die Beine geworfen werden. So schmeckt übliche Enttäuschung.

Hätte man sich nicht rechtzeitig gegen sie wappnen können? Konnte man nicht wissen, dass: ist man mit einem Bein aus dem Gröbsten heraus, sitzt plötzlich das andere fest? Ist die eine Krankheit vorüber, - die eine Schwäche gerade überwunden, - die eine Sorge gerade ausgeräumt, - der eine Ärger gerade ausgestanden, - die eine Klippe gerade vermieden, - die eine Aufgabe gerade gelöst, - die eine Hürde gerade genommen – so liegt die nächste schon vor den Füssen, - so packt die andere schon zu, - so baut sich die nächste schon auf!

„Und das Volk wurde verdrossen auf seinem Wege.“ Nichts, denkt man, was besonders aufregend wäre; eben nur: Unmut, Verdrossenheit. Kenner der hebräischen Sprache sagen, hier werde so etwas beschrieben wie: „die Seele ermattete, ermüdete“; Lebenskraft – wie abgewürgt; der Atem – kurz; die Haut der Seele wund- und aufgerieben. Tagsüber wurde die Wüste heißer und heißer; und nachts kroch die Kälte durch Kleider und Decken; die Weite der Wüste schreckte bis in die Tiefen. „Das Volk wurde verdrossen“, seine Seele ermattete. – Wer könnte das nicht verstehen? So ist es „im wirklichen Leben“: langsames Absterben, Ausdörren, Tod auf Raten.

Verdruss und Ärger schaffen sich Luft. Wer ist doch schuld an dieser ganzen Situation? Ja, Mose! Er hat das Ganze angefangen. Er hat aus den festen Hütten Ägyptens herausgerufen. Er hat in das Abenteuer der Freiheit geführt. Führung hat er versprochen, aber – „wir laufen im Kreis!“. Wegzehrung hat er versprochen – aber auf Dauer hängt uns das Manna zum Hals heraus. Was am Beginn des abenteuerlichen Zuges in die Freiheit und heraus aus der Knechtschaft volles „genug“ bedeutete, ist zu einem bitteren „zu wenig“, „zu mager“ geworden. Die Hochstimmung des Aufbruchs ist verflogen. Leben ist Last; Freiheit ist Last; der Alltag drückt; sein Grau in Grau ist verdrießlich und macht verdrossen. Der Hoffnung ist die Puste ausgegangen; sie trägt nicht mehr.

Das Volk murrt gegen Mose, und – es merkt nicht, dass es gegen seinen Gott murrt; gegen den, der es – schon ist es vergessen! - aus dem Sklavenhaus Ägypten, aus elender Knechtschaft befreit hat; der das Leben dieses Volkes vor böse organisierter Ausrottung bewahrt, der ihm seine Identität bewahrt hat. Die Murr-Worte, für Mose bestimmt, treffen Gott; sie stellen Seine Ehre in Frage; sie entwürdigen Seinen Namen. Denn Er hatte zugesagt: “Ich werde für euch sein – das ist mein Name, Jahwe“. Auch das wie im richtigen Leben: Der eine wird geprügelt, aber der andere ist gemeint.

Das Murren richtet sich gegen Mose; es trifft Gott; und: es verschließt den Murrenden die Sinne! Eine schlimme Form von Blindheit breitet sich aus: Ärgernis – Hunger, Durst, Kälte, dass man „sich nicht fühlt“; dass einem „schlecht zumute ist“ – Ärgernis wird groß. Es fällt ins Auge, was entbehrt wird; empfunden wird der Mangel. Segen dagegen vergessen; was man hat, wird nicht gewürdigt; Reichtum wird nicht wahrgenommen.

Da – kamen „feurige Schlangen“ unter das Volk; die bissen; und ihr Biss brannte in den Adern, und viele starben. Wie soll denn auch einer, der den Blick fest auf sich gerichtet hält, der innigen Umgang mit seinem Ärger pflegt und seinen Verdruss hegt – wie soll der denn auch Augen haben für Gefahren, die da lauern? Wie denn soll, wer seine Hoffnungskraft von Gott ablöst, wer Ihn nicht mehr fürchtet und Ihm nicht mehr über alle Dinge vertraut – wie sollte der nicht ausbrennen, absterben, durch und durch vergiftet werden?!

Viele starben. Nicht alle. Gottes Volk hat noch Augen. Die Schlangenplage wird ihm transparent, wird durchsichtig für seine Augen. Gottes Volk erkennt in den sich windenden, lauernden, schleichenden, giftigen Gefahren – Israel erkennt darin zornige Abwendung, einen strafenden Fingerzeig Gottes. Jedenfalls die Besonnenen dieses Volkes sind darin vorbildlich: sie sehen durch Ereignisse in Natur und Geschichte hindurch, - sehen den „Arm des Herrn“; sie hören durch die Stimme des Donners, durch den Lärm von Krieg und Kriegsgeschrei hindurch den Warn- und Weckruf ihres Gottes. Und – sie stellen sich dem, was sie als Strafe für ihre Verfehlung erkennen. Sie kommen – durch eine Schlangenplage – zur Einsicht. Sie kommen zur Besinnung. Sie halten ein. Sie halten inne. Sie machen – sagt man heute, aber man sagt es meistens auch nur – eine „Denk-Pause“.

Und auch das steht ihnen deutlich vor Augen: ihr Reden gegen und über Gott hat sie unfähig gemacht, hat sie verdorben für ein Reden mit Gott. Eine ernste Situation. So wenden die Menschen sich also an Mose. Er wird – hoffentlich – das rechte Wort finden. Er wird – hoffentlich – frei sein zu bitten. Er wird – hoffentlich – Hoffnung auf Rettung bewahrt haben. Er wird – hoffentlich – sein Vertrauen nicht weggeworfen haben.

Es ist gut, jemanden zu kennen, der Fürbitte leisten kann, wenn einer sich selbst verquert und verbaut hat. Es ist gut und tut gut, Lob und Bitte neu lernen zu können, wein einer lange im Murren geübt war.

Mose hat sich offen gehalten für das Gespräch mit Gott. Nicht, dass er fehlerlos wäre oder gar fraglos, aber – er ist offen geblieben und zugleich – ganz an der Seite des Volkes. So kann er Umkehr zur Sprache bringen, kann Hinkehr vollziehen.

Ihm wird Antwort: eine eherne Schlange soll er an einer Stange hoch aufrichten. – Zu allen Menschenzeiten war die Schlange ein – wirklich – symbol-„trächtiges“ Tier. Menschen erkannten in ihm vieles: Gefahren und Gefahren-Abwehr; vielem gab die Schlange Ausdruck, was schwer in Worte zu fassen ist. Was immer zu Zeiten Moses noch dahinter stecken mag, eins nicht: hier ist nicht Magie, hier ist nicht Zauberei. Vielmehr: bittere, aber heilende Wahrheit; wer die eherne Schlange ansieht, soll leben. Wer also seinem Versagen, seiner Schuld und seiner Verblendung ins Auge sieht, für den ist Rettung in Sicht. Das Bild der ehernen Schlange weist den, der es ansieht, auf das Unheil hin, das – selbst verschuldet – die Murrenden getroffen hat; dies Bild erinnert an beleidigenden Zweifel und frevelhaften Aufstand; und jeder, der dieses Bild ansieht und ihm nicht ausweicht, begegnet allererst seiner eigenen verschuldeten Vergangenheit und deren tödlichem Biss.

Zugleich aber und damit in-eins ist das Bild der ehernen Schlange Symbol, Zeichen dafür, dass Gott sich dem Gefährdeten, dem Gefallenen, dem Versagenden, dem Absterbenden neu zuwendet. Die eherne Schlange ist wirk-kräftiges Zeichen, - ein gültiges Bild der heilenden und vergebenden Liebe Gottes. Wer gleichsam vor Gottes Angesicht, im Lichtschein seiner Verheißung seinem Versagen ins Auge blickt und dazu steht, dem wird Lösung, wird Genesung von eben diesem Versagen zugesichert.

Wenn wir uns noch einmal von Kennern der hebräischen Sprache sagen lassen, dass das Wort, das hier für die „eherne Schlange auf einer hohen Stange“ gebraucht wird, - dass dieses Wort auch „Fahne“, „Standarte“, „Feldzeichen“ bedeutet, dann eröffnet das noch einmal mehr einen neuen Horizont: Fahne, Standarte ist ein Zeichen, zu dem man auf-sehen muss, aber eben auch: auf-sehen kann; denn: Fahne, Feld- und Lebens-Zeichen ist etwas, das mit-geht, das voran-geht, das ein Leben auch auf seinen verdrießlichen Wüsten-Wegen begleitet.

Schließlich, liebe Gemeinde, ist es mehr als angemessen und hilfreich, wenn wir noch einmal kurz bedenken, dass Johannes im 3. Kapitel seines Evangeliums diese alte Erzählung aus dem 4. Buch Mose aufnimmt und zuspitzt. Der Evangelist spricht davon, dass Christus ans Kreuz „erhöht“ ist, wie Mose die eherne Schlange hoch an der Stange aufrichtete. Unwiderruflich ist der ans Kreuz erhöhte Christus das Denk-Mal, das Erinnerungs-Mal für schuldhafte Abkehr und zugleich und in-eins damit das Heils-Zeichen, das Rettungs-Mal: den Tod, der dem murrenden Schuldner rechtens zukommt, ist er selbst – Gott in Christus -gestorben – zum Zeichen, zum deutlichen und wirk-kräftigen Zeichen der Leben spendenden, Leben uns eröffnenden Liebe. Wer auf-sieht, auf Ihn sieht, der ist durch das Gericht hindurch-gedrungen.

„Richte mich, Gott“ – so heißt dieser Sonntag Judika.

Wer sich selbst und wer Gott ernst nimmt, der kann – mit dem Namen des Sonntags – nur so sprechen: Richte mich, Gott, so, dass ich – um deiner Barmherzigkeit willen – unter das Gericht am Kreuz gerate, das, indem es Gericht bedeutet, doch zugleich zum Leben-schenkenden Frei-Spruch wird. Richte mich so alle Tage meines Lebens. Lass dieses Gericht mich begleiten durch meine Wüsten-Tage, in denen Misstrauen und Verdruss und Murren mich absterben lassen wollen von Dir.

Amen

Dr. Dankwart Arndt
Pastor i. R.
Auf dem Breckels 1
24329 Grebin

 


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