Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: C. Dinkel und I. Karle

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Gründonnerstag, 13. April 2006
Predigt zu Johannes 13,1-15, verfasst von Elisabeth Birgitte Siemen (Dänemark)
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


(Text der dänischen Perikopenordnung)

Diese Woche, die Woche vor Ostern, heißt seit alter Zeit die stille Woche. Und ich denke so oft, wenn wir in diesem Zusammenhang von Stille reden wollen, dann muss das die Stille vor dem Sturm sein. Denn es läuft ja nicht in aller Stille ab. Die Hölle ist los. Man denke an Mel Gibsons viel beachteten Film die Passion Christi, über die letzten 12 Stunden Jesu, – ich habe den Film nicht selbst gesehen, aber, wie man hört, ist er alles andere als Stille und Ruhe.

Es begann eigentlich alles so gut, am Palmsonntag mit dem Einzug in Jerusalem. Da kam er reitend in die Stadt, der Eselmann. Und die Leute riefen und schrien und jubelten. Denn sie kannten sehr wohl die alte Geschichte: wenn der wirkliche König kommt, dann kommt er sanftmütig auf einem Esel reitend, und nicht auf dem feurigen Streitross.

Sie kannten die Sage genau, ja, aber sie hatten deren tiefere Bedeutung vergessen. Sie hatten das eine Wort vergessen – sanftmütig. Und das bedeutete, dass seine Erfüllung der Königserwartungen in scharfem Gegensatz stand zu ihren Träumen und Hoffnungen. Ja, es wurde fast zu einer Karikatur. Und so wurde Jesus denn auch später selbst karikiert und damit auch so verstanden, von einem römischen Gladiator, der seinen christlichen Kollegen damit necken wollte.

Auf einer Ruine aus dem 2. Jahrhundert hat man eine Zeichnung mit einem Graffito gefunden, sie stellt eine gekreuzigte Person mit einem Eselskopf dar, und darunter steht das Graffito: „Alexamenos betet seinen Gott an.“ Das ist kaum freundlich gemeint, aber so richtig gesehen: es handelt vom Kommen Christi mit Sanftmütigkeit, mit dem sanften Mut, dem Mut des Lebens – ganz im Gegensatz zu dem prahlerischen Mut des Soldaten, dem Todsmut, der so viel auf dem Gewissen hat.

Der Feind verstand genau das in Bezug auf Jesus, was niemand damals am ersten Palmsonntag verstehen wollte, ja, was die Menschen seines engsten Kreises nicht begriffen. Der Feind verstand, was die Freunde nicht begriffen, weil sie es nicht begreifen wollten. Sie verstanden nur, was sie sowieso schon kannten – wir hören es in der Erzählung vom 2. Ostertag über die Jünger auf dem Wege nach Emmaus, sie waren gefangen in ihrer altbekannten Geschichte von Sieg und Niederlage, bis der Fremde ihnen auf dem Wege die neue erzählte.

Nein, sie verstanden nicht, worum es ging. Das ist deutlich. Als Jesus anfängt, ihnen die Füße zu waschen, wie wir es vorhin bei Johannes gehört haben, protestieren sie lauthals – denn es gehört sich doch nicht, dass der Größte unter ihnen dienen soll. Aber sie waren ja auch alle kleine Leute, die es nicht gewohnt waren, dass jemand überhaupt etwas für sie tat. Anders ist das mit uns – wir leben in einer Zeit, in einer Gesellschaft, in der niemand dienen will, sondern alle bedient werden wollen!

Jesus muss sich erklären – Wenn nun ich, euer Herr und Meister, eure Füße gewaschen habe, dann seid ihr rein, dann sind euch alle eure Sünden vergeben – und dann...
Nein, Herr – unterbricht Petrus ihn, du sollst doch wohl nicht mich waschen, es muss doch eher umgekehrt sein.
Nein, Petrus – sagt Jesus, du hast es noch nicht verstanden. Wenn ich dir nicht diene und dich nicht wasche, so hast du keinen Teil an mir. Und dann wusch er den Jüngern die Füße, erzählt der Evangelist Johannes.
Und dann waren sie ja rein. Aber sie verstanden es nicht. Sie hatten nicht verstanden, worum es ging.

Wenden wir uns der zweiten Erzählung von den Ereignissen von Gründonnerstag zu, dem Bericht vom Abendmahl, so wissen wir, dass das Thema dasselbe ist.
Sie verstanden nicht, was sich da ereignete.
Sie glaubten, dass sie Ostern feierten – und das taten sie ja auch, aber es ging um andere Dinge.
Denn Gründonnerstag ist der Höhepunkt all dessen, was Jesus sie gelehrt hat. Gründonnerstag ist die letzte, ultimative Liebestat, die er ihnen gegenüber tut. Es geht um Liebe und Vergebung.

Die Liebe ist die mächtigste Kraft in der Welt. Sie kann Brücken zwischen Menschen bauen, ja, sogar Brücken über den Abgrund von Schuld. Und eben darum geht es Gründonnerstag.
Brücken zu bauen.
Und das ist nicht so zu verstehen, dass die Liebe die Schuld zum Verschwinden brächte, denn dann wäre Vergebung ja gar nicht nötig.
Vergebung bedeutet nicht die Entfernung von Schuld, sondern sie bedeutet Wiederherstellung einer Gemeinschaft trotz der Schuld.

Er wusch ihre Füße, er saß mit ihnen zu Tisch – obwohl er wusste, dass sie versagen und ihn verraten würden, sie alle miteinander. Einer von euch wird mich verraten, sagt er – und der Wortwechsel zwischen ihnen offenbart, dass sie alle potentielle Verräter sind.
Auf ihre Frage –ich bin es doch wohl nicht, Herr?, antwortet er, indem er den Verräter nicht identifiziert.
Der ist’s, dem ich den Bissen eintauche und gebe, sagt er – aber sie haben ja alle den Bissen eingetaucht, und sie werden ihn alle verraten.
Das geschieht später am selben Abend im Garten Gethsemane, wo sie einschlafen trotz seiner wiederholten Bitte, mit ihm zu wachen.
Das geschieht im Hof des Hohenpriesters, wo Petrus fluchend und schwörend jegliche Kenntnis Jesu leugnet.
Das geschieht auf seinem einsamen Weg nach Golgatha.
Und als er von den Toten auferstand, verrieten sie ihn, indem sie auch das nicht glauben wollten.
Ja, sie sind schuldig, alle zusammen.
Nicht nur Petrus oder Judas, sondern sie alle.
Und das Interessante ist doch, dass Jesus nicht Judas als den Verräter ausmacht.

Als Judas genau wie die anderen fragt: ich bin es doch wohl nicht, Herr?, antwortet Jesus: Du sagst es.
Es ist dieselbe Antwort, die Pontius Pilatus erhält auf seine Frage: Bist du der König der Juden?
Es ist Judas, der sich identifiziert, als Verräter, wie es Pilatus ist, der Jesus als König identifiziert.
Der Tradition zufolge ist Judas der Verräter aller Verräter.
Es ist keinesfalls ein Zufall, dass Judas in Dantes Komödie am tiefsten in der Hölle sitzt, im Munde des Bösen.
Denn kein Verrat galt im Mittelalter als schlimmer denn der Verrat an seinen Freunden.
Aber es ist zweifellos die Frage, ob das alles ist, was über Judas zu sagen ist. Ich meine, einer musste ihn ja verraten, sonst wäre der Plot nicht aufgegangen.
Und dieser Eine zu sein, das war also das Schicksal des Judas.

Aber es steckt ein interessanter Aspekt in dem griechischen Wort für verraten: es kann auch die Bedeutung von übertragen, übergeben haben. Auf Dänisch handelt es sich auf ähnliche Weise um ein Zusammenspiel von verraten und ausliefern.

Es ist Judas’ Schicksal, oder man kann sagen, dass Judas dazu auserwählt ist, ihnen den neuen Bund zu übertragen. Denn Judas ist es, der mit seinem Kuss den alten Bund außer Kraft setzt.

Der alte Bund, der Bund, den Moses auf dem Berg Sinai schloss – davon handelt das jüdische Osterfest.
An dem Abend wird das ganze Ereignis durchgespielt, in Lied, Erzählung und Handlung.
Ostern wird begangen zur Erinnerung daran, wie Gottes auserwähltes Volk damals aus der Sklaverei entkam und zu einem freien Volk wurde.
Aber das war doch ein ganz exklusiver Bund. Er umfasste nur das auserwählte Volk.
Der neue Bund ist, im Gegensatz dazu, inklusiv – er ist allumfassend. Und es ist dieser Bund, den Judas mit seinem Kuss in Kraft setzt.
Unmittelbar schaudern wir doch bei dem Kuss, und bei der Hohlheit, die der Verrat symbolisiert.
Aber vielleicht ist die Bedeutung doch tiefer als nur dies.

Im Alten Testament wird erzählt: als Esau und Jakob viele, viele Jahre, nachdem Jakob dem Esau sein Erstgeburtsrecht durch List genommen hatte – ja, da küsste Esau Jakob. Mit dem Kuss zeigte er, dass er das Recht Jakobs anerkannte. Dieser Kuss war ein Kuss der Anerkennung.

Und als der Profet Samuel Saul zum König salbte, goss er Öl auf sein Haupt, küsste ihn und sagte: Jetzt salbt dich der Herr zum Fürsten über sein Eigentum. Der Kuss ist ein Kuss der Krönung.

Vielleicht ist es so, dass der Judaskuss auch ein Kuss der Anerkennung und Krönung ist. Der Kuss der Unterwerfung, womit Judas sein Schicksal auf sich nimmt als derjenige, der auserwählt ist, den alten Bund außer Kraft zu setzen, um damit sie alle an die Gnade des neuen Bundes auszuliefern.

Wenn das der Fall ist, dann ist Judas nicht der schlimmste Verbrecher oder der Antichrist selbst, wie er auch genannt worden ist.
Dann ist er eher noch ein Opfer, derjenige, der geopfert werden muss, damit andere frei sein können.
Ja, man kann so weit gehen zu meinen, dass er als ein vorläufiges Bild dastehen wird, ein Bild für das Opferlamm, das auf Golgatha geopfert werden wird, knapp vierundzwanzig Stunden später.
Bis zum Kuss des Judas war es so, dass wir an unseren Taten erkannt wurden und an unseren Taten gemessen wurden.
Nach dem Judakuss werden wir weiterhin an unseren Taten erkannt, aber wir werden an den Taten eines anderen gerichtet – nämlich an den Taten Christi.

Der Pfarrer und Dichter Johannes Möllehave schreibt klug in einem Gedicht genau dies:
Hierin liegt Jesu Rätsel '
er hat Judas’ Scham getilgt
selbst der Verräter bekommt die Gnade:
Jesus küsste auch ihn.

Ja, denn ein Kuss ist gegenseitig!

So stark ist die Macht der Liebe, sie kann Zorn umfassen und sie kann Schuld umfassen!

Zu lieben, wirklich zu lieben heißt, die Gemeinschaft wollen, auch wenn es einen teuer zu stehen kommt, auch wenn man nichts für das bekommt, was man bezahlt.
Und das wollte und konnte die Liebe, für die Jesus stand.
Es ist die Liebe, die reinigt und die Verräter rein macht, trotz ihrer Schuld.
Und es ist auch die Liebe, die der Inhalt des letzten Abendmahls ist.
Er teilt Brot und Wein aus – und sagt: nehmet, esset, trinket. Das bin ich selbst, mein Leben, meine Liebe, mein Fleisch und Blut. Das ist das Blut des neuen Bundes, das vergossen wird für viele zur Vergebung der Sünden.
Und er isst und trinkt selbst mit ihnen.
Er nimmt selbst Teil an dem, was gegeben wird, denn ganz bis zum Schluss teilt er das Leben mit Menschen.

Und als sie gegessen und getrunken haben, wiederholt er zum letzten Mal die Vorhersage seines Todes: Von nun an werde ich nicht mehr von der Frucht dieses Weinstockes trinken, bis an den Tag, an dem ich von dem neuen Wein trinken werde zusammen mit euch in meines Vaters Reich.

Er nimmt alles auf sich – alles kann seine Liebe tragen: Schuld, Verantwortung, Sünde und Tod.

Und wir?
Ja, wir bekommen weder mahnende Wort noch Schuld.
Wir bekommen vielmehr das Leben, um es von neuem zu leben.
Das jüdische Osterfest wird gefeiert zur Erinnerung an die Befreiung aus Ägypten, an den Übergang von der Sklaverei zur Freiheit.
Und das christliche Osterfest ist dem sehr ähnlich, denn wir feiern es zur Erinnerung an die Befreiung vom Joch des Gesetzes, wo bekanntlich der Sünde Sold der Tod ist.

Amen

Pastorin Elisabeth Birgitte Siemen
Kirsebærbakken 1
DK- 2830 Virum
Tel.: +45 45 85 63 30
e-mail: ebsi@km.dk

Übersetzung aus dem Dänischen: Dietrich Harbsmeier


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