Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: C. Dinkel und I. Karle

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Karfreitag, 14. April 2006
Predigt zu Hebräer 9, 15.26b-28, verfasst von Martin Hein
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


15 Christus ist der Mittler des neuen Bundes, damit durch seinen Tod, der geschehen ist zur Erlösung von den Übertretungen unter dem ersten Bund, die Berufenen das verheißene ewige Erbe empfangen.
26 Nun aber, am Ende der Welt, ist er ein für allemal erschienen, durch sein eigenes Opfer die Sünde aufzuheben.
27 Und wie den Menschen bestimmt ist, einmal zu sterben, danach aber das Gericht:
28 so ist auch Christus einmal geopfert worden, die Sünden vieler wegzunehmen; zum zweitenmal wird er nicht der Sünde wegen erscheinen, sondern denen, die auf ihn warten, zum Heil.

Heute ist alles anders, liebe Gemeinde! Kahl und leer zeigt sich der Altar: Keine Kerzen, kein Blumenschmuck, kein Altarbehang, keine Bibel. Nichts. Alles fehlt. Der Altar hat sich zum schlichten, groben Steinklotz gewandelt. Karfreitag ist vom Gefühl her ein ungemütlicher Tag. Das wird durch die Kargheit des Kirchenraumes noch unterstrichen. Und entsprechend schwer tun wir uns damit.

Gibt es nicht schon genügend Leiden und Tränen in der Welt, als daß wir uns an diesem Tag auch noch in der Kirche der Traurigkeit und Trostlosigkeit ausliefern müssen? Wir schleppen so viel Bedrückendes mit uns herum. Warum kann das nicht draußen vor der Kirchentür bleiben, damit wir hier drinnen davon Abstand gewinnen und – sei es auch nur für kurze Zeit – aufatmen können? Manchmal scheint es, als hätte wir Evangelischen uns früher in einer seltsamen Lust geradezu in den Karfreitag verbissen. Das ist vorbei. Inzwischen würden wir lieber ein großen Bogen um den kahlen Steinklotz machen, der sich uns den Weg stellt – weg von der Düsternis des Karfreitags, hin zum hellen Licht des Ostertags. Auferstehung, Leben, Befreiung aus dem Tod und all seinen machtvollen Genossen: Das spricht uns viel mehr an, danach sehnen wir uns aus tiefstem Herzen. In den Feiern der Osternacht können wir es erleben und nachempfinden. Sie werden immer beliebter. Aber ein Tag wie heute, der uns auf den Tod hinweist und wo wir scheinbar gar nichts Hoffnungsvolles sehen können? Karfreitag macht uns verlegen.

Und dennoch: Wer nur von Ostern fasziniert ist, ohne am Karfreitag einzuhalten und über den Tod Jesu nachzudenken, wer einfach den kahlen Steinklotz des Altars beiseite schaffen oder ihn leichtfüßig umgehen will, macht sich etwas vor. Leben gibt es nicht ohne Sterben, Auferstehung nicht ohne Tod, das Heil der Welt nicht ohne das Kreuz Jesu. Es hat seinen guten Grund, daß das ausgerechnet Kreuz – und nicht etwa das leere Grab – zum Zeichen unseres Glaubens geworden ist. Das aber müssen wir entschlüsseln und, wenn möglich, neu entdecken.

Das bloße Auge sieht einen Menschen ans Kreuz genagelt. So starben viele im römischen Reich. Es mag zynisch klingen: Das war nichts Außergewöhnliches. Opfer von Gewalt und Intrigen gab und gibt es zu allen Zeiten. Ist also das Kreuz letztlich nur der Ausdruck dafür, daß Jesus mit dem, was sein Leben bestimmte, scheiterte? So fragen ja nicht erst die Kritiker des Christentums, sondern schon die Jünger selbst: „Wir hofften, er sei es, der Israel erlösen werde.“ Das Gegenteil trat ein. Aus und vorbei der Traum!

Warum stirbt Jesus? Und was gibt seinem Tod eine so große Bedeutung, daß wir uns nicht nur nach zwei Jahrtausenden daran erinnern, sondern uns sogar zu diesem Tod als dem entscheidenden Ereignis der Welt bekennen? Das sind die Fragen, um die es geht und mit denen wir nie fertig sind. Wir müssen unsere eigene Antwort darauf immer wieder neu durchbuchstabieren. Das Kreuz Jesu macht dem Glauben Mühe. Das ist so!

Der Hebräerbrief konnte zu seiner Zeit auf das rätselhafte Geschehen des Karfreitags eine Antwort geben. Er wußte dem Kreuz von Golgatha einen Sinn abzugewinnen: Jesus ist in der Welt erschienen, sagt er, um „durch sein eigenes Opfer die Sünde aufzuheben“. Aber ehrlich nachgefragt, liebe Gemeinde: Was heißt das? Solche Worte sind uns fremd geworden.

Es hat immer wieder Versuche gegeben, den dunklen Schleier ein wenig anzuheben und hinter das zu schauen, was sich dem bloßen Augenschein vermittelt. Einer dieser Versuche, das Geschehen zu deuten, stammt von dem mittelalterlichen Theologen Anselm von Canterbury. Er steht in einer Schrift, die der große Kirchenlehrer einzig und allein zu dem Zweck verfaßte, um für sich eine befriedigende Antwort auf das Rätsel des Kreuzes zu finden. „Warum Gott Mensch wurde“, heißt das Buch. Ich habe es mehr als einmal gelesen. Dort sagt Anselm an einer Stelle zu seinem Gegenüber, mit dem er über den Weg Jesu von der Geburt im Stall von Bethlehem bis hinauf nach Golgatha nachdenkt: „Du hast noch nicht bedacht, wie schwer die Sünde wiegt.“

In diesem einen Satz drückt sich etwas ganz Entscheidendes aus: Am Karfreitag geht es nicht um die Hinrichtung eines religiösen Idealisten oder Träumers, sondern der Karfreitag hat es elementar mit unserer Sünde zu tun. Sie trennt uns abgrundtief von Gott. Und weil wir uns unsere Sünde nicht eingestehen oder sie nicht ernst nehmen, kommen wir mit dem Karfreitag nicht zurecht.

„Du hast noch nicht bedacht, wie schwer die Sünde wiegt.“ Sie ist keine Nebensächlichkeit, über die Gott, wenn er nur wollte, locker hinwegsehen könnte – als sei zu vergeben sein ureigenstes Metier. Nein, Sünde wiegt viel, viel schwerer. Sie reicht tiefer als das, was sich mit den Maßstäben einer bürgerlichen Moral erfassen läßt. Sünde, ganz ernst genommen, ist der ständige menschliche Protest gegen Gott. Wir wollen ihn, wenn es irgend geht, in unseren Gedanken, Worten und Werken entmachten. Sünde stellt andere Götter, am liebsten uns selbst, an den Platz, der allein ihm gehört.

Seit den Anfängen der Menschheit ist dieser Graben immer größer geworden, je stärker wir uns bemühten, Gott zu verdrängen und uns Menschen zum Maß aller Dinge zu machen. Unser Drang nach Gottlosigkeit hat die Geschichte der Beziehung Gottes zu uns zur Geschichte einer einzigen Enttäuschung gemacht. Und seine fortwährende brennende Liebe konnte man ihm leicht als Schwächlichkeit oder Nachsichtigkeit auslegen. Das Alte Testament enthält eine Fülle von Erzählungen, die das beschreiben.

Gott hätte sich irgendwann brüskiert zurückziehen können, um uns den Folgen unseres Tuns gänzlich preiszugeben. Das aber hat er nicht getan. Er litt weiter an dieser Trennung. Deshalb begann er noch einmal, auf uns zuzugehen – in Jesus Christus. Der ist der Mittler, heißt es im Hebräerbrief. Mit Leib und Leben stellt er sich in den tiefen Riß, um ihn zu überbrücken. In ihm ballt sich das Leiden der Menschheit, das die Sünde heraufbeschwört, und das Leiden Gottes an unserer Sünde, an unserer Gottferne zusammen; zugleich aber ist in ihm beides, unser Leiden und Gottes Leiden überwunden. Kein einfacher und wohlfeiler Weg war das, keine „billige Gnade“, sondern ein Weg, der Gott sehr viel kostete: das Leben, das er in Christus hingab. Für Gott wog unsere Sünde so schwer, daß er sein Bestes und Liebstes einsetzte, um die Trennung zwischen ihm und uns zu beseitigen. Der Tod am Kreuz markiert tatsächlich ein Ende: In Jesu Tod stirbt die Sünde, stirbt die Macht des Todes – aber gleichzeitig ist hier der neue Anfang gesetzt: Nichts, aber auch gar nichts kann uns mehr von Gottes Liebe trennen. Das gilt unverbrüchlich. Der Weg zu Gott ist freigeräumt – „ein für allemal“, wie es im Hebräerbrief heißt. Wir sind nicht mehr auf uns selbst gestellt, verloren in der eigenen Gottlosigkeit. Gott verbündet sich ganz eng mit uns, schenkt uns Vergebung und eine neue Hoffnung. Dafür bürgt das Kreuz Jesu.

Wer dies für sich als Evangelium des Karfreitags entdeckt, spürt, wie sich unter der Hand die dunkle Färbung wandelt, ohne etwas von dem Ernst zu nehmen, der diesen Tag umweht. Jesu Tod wird zum Leben für uns. Der Gekreuzigte trägt unsere Schuld, unser Versagen und unsere Sünde zu Grabe. Wir können uns wieder zu Gott wenden und ihn Gott sein lassen. Für alle, die das glauben, wird Karfreitag zum Tag, der uns beides zeigt: Gottes Gericht über unsere Selbstanmaßung – und seine Gnade, die uns den Weg zum Heil öffnet. Wer der Liebe Gottes vertraut, die im Kreuz Jesu verborgen ist, steht heute schon auf der Seite des Lebens – mitten in dieser Welt.

„Du hast noch nicht bedacht, wie schwer die Sünde wiegt“, hatte der Kirchenlehrer gesagt. Gott sei Dank, daß Christus sie tragen konnte. Sie braucht uns nicht mehr zu belasten, zu bedrücken und zu behindern. Und wir müssen keinen verlegenen Bogen um den Karfreitag machen, sondern können uns geradewegs Gottes grenzenlose Liebe gefallen lassen. Das läßt uns wirklich aufatmen. Die Beklommenheit kann weichen.

Denn, liebe Gemeinde, ab heute ist alles anders. Denn auch für uns gilt: „Wir sind nicht mehr die Knechte / der alten Todesmächte / und ihrer Tyrannei. / Der Sohn, der es erduldet, / hat uns am Kreuz entschuldet. / Auch wir sind Söhne und sind frei.“ (EG 94,5). Amen.

Bischof Prof. Dr. Martin Hein
Evangelische Kirche von Kurhessen-Waldeck
Wilhelmshöher Allee 330
34131 Kassel
Tel.: 0561 9378-201
martinhein@gmx.de


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