Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: C. Dinkel und I. Karle

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Miserikordias Domini, 30. April 2006
Predigt zu Johannes 10, 22-30, verfasst von Kirsten Bøggild (Dänemark)
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


(Text der dänischen Perikopenordnung)

MEINE SCHAFE HÖREN MEINE STIMME

Es gibt etwas, was man nicht so geradeheraus sagen kann. Etwas, was man nur indirekt sagen kann. Weil es keine genau entsprechende Sprache dafür gibt. Oder weil es eine direkte Sprache nicht duldet. Oder weil sich ein Mysterium nicht klar und unzweideutig ausdrücken lässt, sondern nur in der Form einer Ahnung, eines Rätsels, eines Bildes. Wenn man es aber in einer flachen und groben Sprache ausdrücken wollte, würde es seine Tiefe, seine Komplexität, ja, sein Wesen verlieren – und dann ist es nicht mehr dasselbe, sondern etwas anderes. Ein Mysterium lässt sich auf dieselbe Weise verstehen, wie wir eine Rechenaufgabe oder eine wissenschaftliche Beschreibung etwa eines biologischen Sachverhalts verstehen. Oder wie Dostojewskij gesagt hat: Ein Mensch ist kein Traktat von zwei Seiten, mein Herr. Ein Mensch ist ein Rätsel. – Trotzdem sind wir so gebaut, dass wir gern klar und deutlich informiert werden wollen, damit wir nicht von Zweifeln oder Unsicherheit geplagt werden. Andere sollen uns die Wahrheit sagen, damit wir die Arbeit nicht selbst machen müssen. Die Menschen, die sich wünschten, dass Jesus selbst sagte, ob er der Christus war oder ob er es nicht war, wollten sich also ihrerseits der Verantwortung entziehen und nicht Stellung nehmen. Sie wollten sich nicht mit Ahnungen, Rätseln, bildlichen Reden, mit Glauben anstatt Wissen zufrieden geben. Sie wollten sicher sein, aber die Sicherheit sollte von außen zu ihnen kommen, nicht von innen, aus ihnen selbst. Das hätte ihnen nicht gepasst – denn das würde ja bedeuten, dass sie selbst etwas leisten müssten, und dazu waren sie nicht bereit. Sie wollten sich die Wahrheit einfach servieren lassen. Dann hätten sie sich in ihrem Sofa zurücklehnen und sie genießen können, ohne sich jemals selbst für irgendetwas angestrengt zu haben.

Aber so lernen wir das Leben nicht kennen. Und so lernen wir Christus nicht kennen. Als sie von ihm verlangen, dass er direkt sagen soll, ob er Christus ist oder nicht, verweist er auf all das, was er im Namen Gottes getan hat. Seine Werke haben ihre eigene Sprache gesprochen. Eine indirekte Sprache. Werke, die von denen, die gesehen und gehört haben, ausgelegt und gedeutet werden können. Die Ungewissheit, die ihre Seelen plagt, verlässt sie nie. Sie ist eine menschliche Grundbedingung. Niemand kommt hinter das Geheimnis Gottes oder das Wesen Jesu. Wir sehen und hören, und die Deutung dessen, was wir sehen und hören, ist dann uns überlassen. Wir werden dem Glauben überlassen, wenn es das Mysterium von Gott und Gottes Sohn gilt.

Unsere Gedanken werden daher zu den vielen verschiedenen Erzählungen zurückgelenkt, was Jesus tat, als er auf Erden war. Was hatten die verschiedenen Berichte gemeinsam? Er heilte Kranke, die niemand anders heilen konnte. Er sättigte Hungrige in der Wüste. Er gab den Verzagten neuen Lebensmut. Er vergab den Schuldigen ihre Schuld. Er gab ihnen Vergebung der Sünden… Er erweckte die Toten zu neuem Leben. Seine Güte war ohne Ende, und die Macht seiner Güte kannte keinen Grenzen. Alles, was er tat, tat er aus Barmherzigkeit. Was war das also für eine Sprache, die seine Werke sprachen? Es war die Sprache der Barmherzigkeit. Es war nicht die Sprache der Logik oder der Wissenschaft, sondern die der Ethik und der Religion. Die Sprache der Liebe. Die Sprache Gottes und des Menschen. Eine Sprache, die erlebt, erfahren, ausgelegt und gedeutet werden will. Die Sprache der Empfindungen, die nie flach und eindeutig ist, sondern offen für unser eigenes Verständnis.

Jesus hat gelebt und gehandelt. Es ist uns in den Erzählungen über ihn überliefert. Nun sind wir es, die Stellung dazu nehmen müssen, was wir über die Barmherzigkeit meinen, denn seine Verkündigung war sowohl in seinen Werken als auch in seinen Worten. Ob Gott Barmherzigkeit ist oder ob Gott ein Gesetz ist, das wir nicht erfüllen können? Ob Gott bedingungslose Erneuerung oder ob Gott steinharte Gerechtigkeit ist?

Diejenigen, die nicht glauben wollen, dass Jesu Werke Gottes Werke waren, wollen nicht glauben, dass Gott Barmherzigkeit ist. Sie wollen es nicht hören, denn sie wollen nicht, dass Barmherzigkeit das göttliche Prinzip in der Welt sein soll. Denn sie wollen selbst nicht danach leben! Sind Jesus Christus und seine Werke Gottes Werke, dann leben wir jetzt von Gottes Barmherzigkeit, nur wenn wir selbst barmherzig sind, sind wir Kinder Gottes. Diejenigen, die nicht barmherzig gegen andere sein wollen, und die, die anderen die Barmherzigkeit Gottes nicht gönnen, wollen davon einfach nichts hören. Es rührt an ihr Gewissen, und es würde sie anderwohin führen als sie selbst wollen. Deshalb schließen sie Augen und Ohren, Seele und Herz und lehnen es ab, etwas damit zu tun zu haben. Denn Barmherzigkeit ist Wirrwar. Sie ist wie Rechenaufgaben, die nicht aufgehen, und die gegenseitigen menschlichen Verhältnisse erscheinen ungerecht und unbeherrschbar, wenn man sie nicht in Schuld und Strafe aufrechnen kann. Gottes Barmherzigkeit macht uns unsicher, was wert ist, geliebt zu werden, und was nicht – besonders das Letztere – und damit mag man nicht leben. „Ihr glaubt es nicht, weil ihr nicht zu meinen Schafen gehört.“ So antwortete Jesus den kritischen Leuten um sich. Und sie gehörten nicht zu seinen Schafen, weil sie nicht leben wollten, wie er wollte. Sie wollten nicht im Geist der Barmherzigkeit leben, denn sie wollten sie nicht anerkennen. Die Barmherzigkeit würde an ihren Privilegien und ihrer Selbsteinschätzung rütteln. Sie würde an der in Klassen aufgeteilten Gesellschaft rütteln. Sie würde eine Umwälzung der Welt, die sie kannten, bedeuten. Und des Gottesbildes, das das ihre war. Heute ist unser Gottesbild der barmherzige Gott der Kirche, aber dennoch tun wir uns schwer zu akzeptieren, dass der Geist der Barmherzigkeit allumfassend und allgegenwärtig geworden ist und dass er in uns selbst Wohnung nehmen solle. Denn er ist nicht zu lenken, und seine Konsequenzen sind nicht vorauszusehen. Wir müssten dann ja unseren Nächsten lieben, unseren Feind lieben, ihm das vergeben, was uns wehtut... Das scheint unerreichbar, es kommt uns wie ein Übergriff vor. Wenn wir ihm nun nicht vergeben können noch wollen, was uns wehtut.

Aber die Barmherzigen akzeptieren das neue Gottesbild. Sie wollen selbst im Geist der Barmherzigkeit leben und sie pratizieren. „Meine Schafe hören meine Stimme und folgen mir,“ sagte Jesus. Sie sehen und hören gern und folgen mir gern nach. Sie sind Menschen im Guten wie im Schlechten wie alle anderen auch, aber sie haben eingesehen, dass sie selbst Vergebung nötig haben und dass sie kein Recht haben, dasselbe anderen nicht zu gönnen. Im Prinzip, theoretisch kann das einleuchtend und richtig sein. Aber in der Praxis! Wenn es so weit kommt, dass du selbst deinen Widersacher, den der dich verletzt, lieben sollst? Es gibt Liebe, die zu empfinden oder zu schenken wir uns nicht überreden lassen können. Vergebung, die wir nicht gewähren können. Von der wir aber wissen, dass wir dazu imstande sein müssten. Eines ist, den Geist der Barmherzigkeit abzulehnen, wie die Schafe, die nicht dazu gehören. Etwas anderes ist es, zu verstehen, dass ich den Geist der Barmherzigkeit meinerseits akzeptieren muss, auch wenn ich nicht immer imstande bin, ihn zu verwirklichen. Verstehen und akzeptieren ist ja eine Form der Hingabe an das, was größer und stärker ist als mein eigener Wille. Nämlich an den Geist, der der Geist des Christentums ist. In dieser Hingabe liegt keine Verdammnis. Sie ist im Gegenteil ein Verhältnis der Zugehörigkeit. Eine Aufnahme in das ewige Leben.

Es ist eine große Erleichterung – ja, eine alles entscheidende Befreiung, eine Art von Wiedergeburt, dass der Geist der Barmherzigkeit größer und stärker ist als unser eigener Wille. Dass Hingebung an ihn ewiges Leben ist. Es ist Freiheit, dass nicht alles von unserem eigenen widerspenstigen Willen abhängt. – In der Bergpredigt im Matthäusevangelium preist Jesus die Barmherzigen selig. „Selig sind die Barmherzigen, denn ihnen soll Barmherzigkeit widerfahren.“ Das sind die Schafe, die seine Stimme hören und ihm nachfolgen. Da werden sie im Geist hingeführt zu der Liebe, die größer ist als ihre eigene – größere Seligkeit kann niemand erwarten.

Kann all das auf eine eindeutig buchstäbliche Sprache, direkt und geradeheraus gesagt werden? Die man sich wünschte und noch immer wünscht? Nein, wie du selbst ja auch nicht direkt und eindeutig antworten kannst, wenn dich jemand fragt, wer du bist, denn daran hindert dich dein Schamgefühl und deine Anständigkeit außer deiner Selbsterkenntnis. Nein, wir sind wieder bei der Bildersprache angekommen, bei Auslegungen und Deutungen von Worten und Werken. Und wir sind wieder bei der Verantwortung des Einzelnen angekommen, selbst den Versuch zu machen, zu verstehen. Und schließlich zu glauben und sich dem hinzugeben, was größer ist als er selbst. Wir sind die Schafe, Christus ist der Hirte, der zu uns spricht über das, was wir nicht von selbst wissen. Damit wir ihm folgen und größer werden, als wir sonst sind. Und barmherzig, wenn wir es sonst nicht sind.

Amen

Pastor Kirsten Bøggild
Thunøgade 16
DK-8000 Århus C
Tel. +45 86124760
E-mail: kboe@km.dk

Übersetzung aus dem Dänischen: Dietrich Harbsmeier

 


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