Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: C. Dinkel und I. Karle

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Kantate, 14. Mai 2006
Predigt zu Apostelgeschichte 16,23-34, verfasst von Jürgen Jüngling
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


  1. Apostelgeschichte 16,23-34

    Paulus und Silas im Gefängnis
    "Nachdem man sie hart geschlagen hatte, warf man sie ins Gefängnis und befahl dem Aufseher, sie gut zu bewachen.
    Als er diesen Befehl empfangen hatte, warf er sie in das innerste Gefängnis und legte ihre Füße in den Block.
    Um Mitternacht aber beteten Paulus und Silas und lobten Gott. Und die Gefangenen hörten sie.
    Plötzlich aber geschah ein großes Erdbeben, so daß die Grundmauern des Gefängnisses wankten. Und sogleich öffneten sich alle Türen, und von allen fielen die Fesseln ab.
    Als aber der Aufseher aus dem Schlaf auffuhr und sah die Türen des Gefängnisses offenstehen, zog er das Schwert und wollte sich selbst töten; denn er meinte, die Gefangenen wären entflohen.
    Paulus aber rief laut: Tu dir nichts an; denn wir sind alle hier!
    Da forderte der Aufseher ein Licht und stürzte hinein und fiel zitternd Paulus und Silas zu Füßen.
    Und er führte sie heraus und sprach: Liebe Herren, was muß ich tun, daß ich gerettet werde?
    Sie sprachen: Glaube an den Herrn Jesus, so wirst du und dein Haus selig!
    Und sie sagten ihm das Wort des Herrn und allen, die in seinem Hause waren.
    Und er nahm sie zu sich in derselben Stunde der Nacht und wusch ihnen die Striemen. Und er ließ sich und alle die Seinen sogleich taufen
    und führte sie in sein Haus und deckte ihnen den Tisch und freute sich mit seinem ganzen Hause, daß er zum Glauben an Gott gekommen war."

    Ja, gibt’s denn das überhaupt? Ist das nicht ein Widerspruch in sich selbst? Gott loben tief im Gefängnis? Ja, das gibt es wirklich, übrigens heute nicht weniger als damals. Vielleicht waren Paulus und Silas darin nur die ersten.

    Da kommen zwei Sachverhalte zusammen, die auf den ersten Blick so gar nicht zusammengehören. Bei näherem Hinsehen merken wir dann, dass das auch für die ganze Geschichte gilt. Der offenbare Widerspruch zwischen dieser unsäglichen Knastsituation und dem lauten Gotteslob ist dabei nur ihr Anfang. Sie geht dann weiter mit der wahrhaft wunderbaren Befreiung, die mit dem ganz und gar unverständlichen Dableiben der Apostel endet. Sie wird fortgesetzt mit der Selbstmordabsicht des Aufsehers, die auf wunderbare Weise umschlägt zu dem ganz neuen Anfang in seiner Taufe. Und schließlich eine Art von Happy-End: der gedeckte Tisch, die Feier einer ganzen Hausgemeinschaft! Zu schön, um wahr zu sein? In der Tat, das wird man sagen müssen: eine durch und durch wunderbare Geschichte für einen wunderbaren Tag – Muttertag.

    Viel wäre in diesem Zusammenhang noch über Wunder zu sagen, auch über die Wunder, die wir in unserer Zeit stets neu erleben. Es ist schon so, wie es in einem älteren Chanson heißt: „Wunder gibt es immer wieder.“ Erdstöße hin und geöffnete Türen her – Gott hat schon seine Wege um den Seinen nahe zu sein, „an Mitteln fehlt’s ihm nicht“. Manchmal öffnen sich ganz überraschend und unvorhersehbar Türen; wir kennen das – gerade aus den letzten Tagen. Dem muss längst nicht immer ein Erdbeben vorausgehen. Es ist oft genug nur ein lindes Lüftchen.
  2. Doch gehen wir der Reihe nach vor: Gerade hatten die beiden, Paulus und Silas, ihre Quittung bekommen! Zu nachdrücklich hatten sie vorher in das bestehende gesellschaftliche Gefüge der Stadt eingegriffen. Darin waren sich Volk und Richterschaft sehr schnell einig: So geht das nicht – wo kommen wir denn hin? Und ehe sie sich’s versahen, fanden sie sich im Gefängnis wieder.

    Gefängnis aber markiert das Ende der Fahnenstange – damals noch stärker als heute: aus und vorbei und weg vom Fenster. Das Gefängnis steht für verpfuschtes Leben. Es ist deshalb schon fast kein Ort des Lebens mehr, sondern ein Un-Ort, so ungefähr das Letzte, was wir uns für uns selbst vorstellen können: Endstation, Sackgasse. Genau da befinden sich die Apostel, ganz am Ende, mit allem Grund zur Verzweiflung und zur Klage. Wieder einmal hatten die Einpeitscher der Angst Oberwasser gewonnen über die Herolde der Hoffnung. Das alte Lied! Doch was tun die beiden? Sie stellen sich über die Angst, ihre Hoffnung erweist sich als stärker, und sie loben ihren Gott, singen in der Tiefe des Kerkers. Die alte Masche verfängt nicht mehr, denn sie haben nichts zu verlieren. Niemand kann ihnen das nehmen, was sie haben, nämlich ihren Glauben an Gott. Das geht dann sogar noch weiter: Diesen Glauben bezeugen sie nicht nur für ihre Person, sondern in ihrem Zeugnis vermitteln sie ihn weiter an andere, teilen ihn aus mit vollen Händen, singen ihn aus vollem Herzen mitten hinein in die Finsternis ihres Verlieses. Sehr schön und so treffend in diesem Zusammenhang die kleine Anmerkung im Text: „Die Gefangenen hörten sie.“ Ganz offensichtlich kam ihr Zeugnis nicht leer zurück. Deutlich wird in dieser Szene ebenfalls: Wes das Herz voll, des geht der Mund über. Ein Un-Ort wird zur Stätte neuen Lebens. „Kantate“ – so der kirchliche Name des heutigen Sonntags: Singt, singt euren Glauben hinaus zur Zeit und zur Unzeit, an allen Orten dieser Welt und sogar an deren Un-Orten! Denn ihr habt Grund dazu.
  3. Gefängnis und Singen – das ist das eine, was wir nur schwer zusammenkriegen. Doch da wird noch eine andere Situation geschildert, die wir ebenso schwer zusammenbringen: Gerade sind die beiden wie durch ein Wunder freigekommen. Die Fesseln sind abgefallen, alle Türen stehen ihnen offen, der Duft der Freiheit ist schon zu riechen. Ein kleiner Schritt nur genügt, doch sie rühren sich nicht von der Stelle, bleiben da, bleiben bei ihren Mitgefangenen, bleiben bei dem Aufseher, der mit der Flucht der beiden nicht nur seine Arbeitsstelle, sondern sein Leben verspielt hätte. Für mich wird gerade an dieser Stelle deutlich, dass der Glaube der Christen weit über die eigene Lebenserfüllung hinausreicht. Er hat nämlich auch tiefreichende Konsequenzen im Blick auf das Leben anderer. Wären die beiden geflohen, wäre der Aufseher ein toter Mann gewesen. Das aber kann nicht Gottes Wille sein. Weil die einen Glück haben, weil sie im Vorteil sind, kann und darf es anderen nicht zum Nachteil oder gar zum Verderben gereichen. Und so bleiben sie, werden sie solidarisch, lassen ihn nicht allein und nicht zurück.

    Bleiben, dableiben, aushalten – das ist nun einmal eine wichtige Dimension christlicher Existenz. Wie sagte Jesus damals kurz vor seinem Ende im Garten Gethsemane zu den müde gewordenen Jüngern: „Könnt ihr nicht eine Stunde mit mir wachen?“ Keine aufgeregte Betriebsamkeit, kein blinder Aktionismus, kein wütendes Draufschlagen und auch kein Verdrücken sind da angesagt, sondern Wachsein, Aushalten, Dableiben. Wie nötig und wie hilfreich kann so etwas sein angesichts eines Schwerkranken oder gar einer Sterbenden? Oder wie ist das mit dem fiebernden Kind? Da sind der Mutter – immerhin begehen wir heute den Muttertag – alle Hände gebunden. Tun kann sie rein gar nichts. Aber da sein und da bleiben, das kann sie, das muss sie und das wird sie – so furchtbar wenig und doch so wunderbar viel! Erst das vermittelt Nähe und Anteilnahme und hat ganz viel mit Treue zu tun und mit Wahrhaftigkeit. „Tu dir nichts an; denn wir sind alle hier.“ Da wird jeder Kommentar überflüssig.
  4. Und ein letztes Mal geht unsere Geschichte weiter, bringt sie ihrer Lösung oder sogar ihrer Erlösung näher. Sie schildert den völlig neuen Anfang in einer bis jetzt so verfahrenen und tragischen Situation: Gerade eben noch wollte und konnte der Aufseher nicht mehr, war er im Begriff, sich selbst zu richten, und dann eine unvorhersehbare Wende! Es ist nur zu gut nachvollziehbar, dass ihn Furcht und Zittern überkamen, aber es grenzt wieder an ein Wunder, welche Schlüsse er aus dieser Begebenheit zieht: „Was muss ich tun, dass ich gerettet werde?“ Ihm fällt es wie Schuppen von den Augen, dass ihm bislang zum Leben Wesentliches fehlte. Eigentlich hat er doch alles: gesellschaftliche Anerkennung, ein auskömmliches Einkommen, eine gesicherte Position; und doch fühlt er eine Leere in sich. Hier liegt für mich der eigentliche Kern der Geschichte, genau in dieser zentralen Frage, die sich sicher schon jeder einmal gestellt hat: „Was muss ich tun, dass ich gerettet werde?“ Und die beiden bleiben ihm die Antwort nicht schuldig, geben das weiter, was ihr Leben ausmacht, offenbar ganz ruhig und ganz selbstverständlich: „Glaube an den Herrn Jesus, so wirst du und dein Haus selig.“ Das ist es, was ihm bislang gefehlt hatte, das ist der Schlüssel zu einem Leben, das seinen Namen verdient. Die Taufe, die nun folgt, ist deshalb nur folge-richtig, ist das Ja des Menschen zum großen Ja Gottes. Und auch er merkt intuitiv und auf der Stelle, dass Taufe, dass Glaube nicht folgen-los bleiben können – so wie eben noch bei dem Dableiben der Apostel: „Er wusch ihnen die Striemen.“ Was dann berichtet wird, ist fast schon so etwas wie ein Happy-End: „Er führte sie in sein Haus und deckte ihnen den Tisch und freute sich …, dass er zum Glauben an Gott gekommen war.“ Das ist so ähnlich wie mit dem Festmahl, das einst der Vater seinem verlorenen Sohn gegeben hatte. Das zentrale und letzte Stichwort ist das der Freude. Welch eine Wegstrecke in dieser kleinen Geschichte für heute morgen: von der Klage über das Lob zur Freude! Zu dem allen haben wir immer wieder Anlass und Grund, und die Freude wird dabei das letzte Wort behalten. Darauf dürfen wir bauen, und deshalb dürfen wir in den Lobgesang einstimmen – am Sonntag Kantate, am Muttertag und unser Leben lang. Amen.

Evangelische Kirche von Kurhessen-Waldeck
- Oberlandeskirchenrat Jürgen Jüngling -
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