Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: C. Dinkel und I. Karle

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Kantate, 14. Mai 2006
Predigt zu Johannes 8, 28-36, verfasst von Elof Westergaard (Dänemark)
(Konfirmationsgottesdienst)
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


(Text der dänischen Perikopenordnung, Konfirmationspredigt)

1. Ein Statthalter steht vor einer großen Kinderschar. Er spricht zu ihnen allen, sieht aber einen dieser Brüder genau an. „Das ist also euer jüngster Bruder, von dem ihr mir sagtet?“ fragt er. Und er wendet sich dann direkt an diesen jungen Mann und sagt: „Gott sei dir gnädig, mein Sohn.“ Er nennt den jungen Mann „Sohn“, obwohl er eigentlich sein Bruder ist. Welch verwirrendes Gerede. Wie ist das zu verstehen?

2. Die Szene steht im 1. Buch Mose, sie ist Teil einer längeren Novelle, einer Geschichte voller Intrigen und Fallen. Sie erzählt die Geschichte von Josef, dem Sohn des Patriarchen Jakob, von seinem Leben und Schicksal, von seinen Nöten, seinen Schwierigkeiten, und davon, wie er in Ägypten dann doch Erfolg hat und es dort zum Statthalter des Landes bringt. Mit seinen Fähigkeiten führt Josef das Land sogar durch eine schwierige Zeit der Hungersnot. Es ist die Geschichte von einer Schar von Brüdern, den zahlreichen Söhnen des Patriarchen Jakob. Diese Brüder bekommen genug von ihrem prahlerischen kleinen Bruder Josef. Sie werfen ihn in eine Grube und verkaufen ihn wenig später an eine Karawane. Wir folgen nun Josefs weiterem Schicksal in Ägypten. Und die Geschichte endet damit, dass die Brüder und ihr Vater Jakob nach vielen Jahren der Trennung wieder zusammengebracht werden. Josef versöhnt sich mit seinen Brüdern, und Jakob segnet seine Söhne kurz vor seinem Tod.

3. Die Versöhnung unter den Brüdern findet nach zahlreichen Intrigen statt. Josef stellt seinen Brüdern Fallen. Die Brüder kommen während einer Hungersnot nach Ägypten. Sie wollen Getreide kaufen, und sie suchen deshalb den ägyptischen Statthalter auf, ohne zu wissen, dass es sich dabei um ihren Bruder handelt, den sie vor Jahren in die Grube geworfen und dann verkauft hatten. Josef erkennt sie sogleich wieder, aber er gibt sich ihnen nicht zu erkennen. Er spricht vielmehr sehr hart zu ihnen und klagt sie der Spionage an. Sie verteidigen sich und sagen, dass das nicht wahr sei, dass ihr Vater mit ihrem jüngsten Bruder Benjamin auf sie warte. Josef befiehlt nun den Brüdern, diesen jüngsten Sohn zu holen zum Erweis der Wahrheit dessen, was sie sagen. Und für das Getreide, das die Brüder jetzt mitnehmen können, müssen sie einen der anderen Brüder als Geisel zurücklassen. Als sie in das Land Kanaan zurückgekehrt sind, jammert Jakob, ihr Vater, und er sträubt sich, sie wieder von dannen ziehen zu lassen – diesmal auch noch mit dem jüngsten Sohn Benjamin. Die Hungersnot ist indessen hart, und schließlich dürfen die Brüder abreisen. Wieder in Ägypten angelangt, werden sie von Josef zum Essen eingeladen. Sie erfahren eine gute Behandlung, aber Josef hat wiederum eine Falle gestellt. Er legt seinen silbernen Becher in Benjamins Sack auf dem Tragesel. Und als sie davongezogen sind, schickt er ihnen seine Leute hinterher, und sie finden den silbernen Becher in Benjamins Gepäck und zeigen ihn vor. Benjamin muss ihn gestohlen haben. Er ist ein Dieb, und er wird dafür zur Verantwortung gezogen. Josef sagt zu den übrigen Brüdern, dass sie nach Hause ziehen könnten, dass Benjamin aber als Sklave bei ihm, dem ägyptischen Statthalter, bleiben müsse.Das können die anderen Brüder indessen nicht ertragen. Sie können den Gedanken nicht aushalten, nach Hause zu kommen und ihrem Vater vom Verlust eines weiteren Sohnes erzählen zu müssen. Josef gibt sich nun mitten in der Verzweiflung der Brüder endlich zu erkennen, und die Versöhnung und Wiedersehensfreude ist groß.

4. Als Josef Benjamin zum ersten Mal in Ägypten sah, sprach er die Worte: „Ist das also euer jüngster Bruder, von dem ihr mir sagtet?“ Und er wandte sich darauf direkt an seinen Bruder mit den Worten: „Gott sei dir gnädig, mein Sohn.“ Er nannte also seinen Bruder „Sohn“, was die Maske hervorhebt, die Josef aufgesetzt hatte (1. Mose 43,28). Er gab sich für einen Fremden aus und wurde von seinen Brüdern auch als ein Fremder angesehen. Er hatte einen höheren Rang als sie, und deshalb konnte er seinen Bruder auch als „Sohn“ bezeichnen. Erst als Josef seine Maske fallen ließ, sagte er: „Siehe, Eure Augen sehen es und die Augen meines Bruders Benjamin, dass ich leibhaftig mit euch rede.“ Und Josef fiel seinem Bruder Benjamin um den Hals. Die Verwendung der Worte „Bruder“ und „Sohn“ dienen also dazu, das Spiel und die Fallen zu verdeutlichen, die in der Geschichte von Josef gestellt werden. Wenn Josef seinen Bruder zuerst seinen Sohn nennt, hält er den Abstand ein – er sorgt dafür, nicht wiedererkannt zu werden. Als die Maske gefallen ist, kann er frei „Bruder“ sagen.

5. „Sohn“ oder „Bruder“ – und wir können hinzufügen: „Tochter“ oder „Schwester“, „Mutter“ oder „Vater“ – zu sein, jemanden so zu nennen oder von jemandem so genannt zu werden, dient dazu, wesentliche Beziehungen zwischen uns Menschen anzugeben. Und sie haben auch Bedeutung für das, worum wir heute, sowohl hier in der Kirche als auch nach dem Gottesdienst, versammelt sind. „Sohn“, „Tochter“, „Schwester“ und „Bruder“: sie erzählen uns von dem Verhältnis, in dem wir zueinander stehen. Wir sind alle Töchter bzw. Söhne von jemandem. Und wir genießen die Freuden und tragen die Lasten, die sich daraus ergeben, dass wir es sind. „Sohn“, „Tochter“, „Schwester“ und „Bruder“, „Vater“ oder „Mutter“ erzählen uns von dem Verhältnis, in dem wir zueinander stehen. Wir haben nicht nur einen Namen und eine Nummer. Wir stehen auch in engen Verhältnissen zueinander, im Guten wie im Schlechten. „Sohn“, „Tochter“, „Schwester“ und „Bruder“ zu sein, das schenkt Nähe und Wärme, er verleiht Standort und Fundament, Geschichte und Erinnerungen, es knüpft uns aneinander, ohne notwendigerweise die Freiheit des Einzelnen einzuschränken. Es kann allerdings auch das Gefühl von Abstand vermitteln, wenn wir nämlich einander nicht erreichen und aneinander vorbeireden. Oder wenn uns die Nähe in diesen Beziehungen zu eng wird, so dass es uns vorkommt, als könnten wir nicht mehr frei atmen. Dann versuchen wir uns aus der Gesellschaft miteinander zu befreien. Und über die, denen wir nahe stehen, sind wir leicht irritiert, und wir streiten uns mit ihnen, wie ja auch die Geschichte von Josef und seinen Brüdern enthüllt, bis sie sich am Ende miteinander versöhnen.

6. Die Beziehungen, die uns gegeben sind und in denen wir leben, werden uns tagtäglich bestätigt, sowohl hier in der Kirche wie auch danach, wenn viele von uns sich im Kreis von Familie und Freunden mit euch Konfirmanden im Mittelpunkt versammeln. Hier sind wir Väter und Mütter, Großmütter, Großväter, Geschwister, Urgroßeltern, Paten, Nachbarn, Verwandte, Freunde, und wir haben uns darauf gefreut und freuen uns darüber, Euch zu feiern, die ihr heute konfirmiert werdet. Hier in all dem, was heute geschieht und noch geschehen wird, werden wir in dem bestätigt, was wir sangen, in Jakob Knudsens Lied, wo der Tag „Mutter, Schwester, Liebste, mein Herzenskind“ heißt (dän. Gesangbuch Nr. 754). Mit anderen Worten, wir finden Bestätigung darin, dass der Tag Namen von denen erhält, mit denen wir ihn teilen. „Tochter“, „Sohn“, „Bruder“, „Schwester“. Nicht nur in diesen zwischenmenschlichen Verhältnissen spielen indessen diese Beziehungen eine Rolle. Sie sind der Ausgangspunkt unseres ganzen Daseins. Unser Verhältnis zu Gott steht ja gerade in einem solchen engen und nahen Verhältnis. In der Taufe wird es uns gesagt, dass das Kind, das getauft werden soll, ein Kind Gottes ist, d.h. Sohn und Tochter Gottes, und dass es Jesus als Bruder hat. Dieses enge Verhältnis zu Gott ist das, worin ihr, die ihr heute konfirmiert werdet, betätigt werdet. Und wir hören es auch in Jesu Wort im Johannesevangelium für den heutigen Tag, wo er sein eigenes enges Verhältnis zu Gott dem Vater gewichtet. Er ist der Sohn, der das Wort Gottes spricht. Und in der Gebundenheit an ihn wird uns die Freiheit des Getauften geschenkt: die Freiheit, die davon getragen ist, dass das Leben ein Geschenk ist, dass Gott Sünden vergibt und den Horizont öffnet: ihn leuchten lässt.

8. In der Taufe werden wir Kinder Gottes genannt. Wir sind alle Kinder von jemandem, sind Teil einer Geschichte und einer Zeit, und wir tragen das alles mit uns, das Schwere wie das Leichte, aber in der Taufe wird dann auch gesagt, dass das Leben, das wir leben und an dem wir im Guten und im Bösen teilhaben, seine Wurzel und seinen Himmel in Gott hat. Die Taufe macht uns zu Söhnen und Töchtern Gottes. Ob wir nun Mütter oder Väter sind, Konfirmanden, jung oder alt, so sind wir doch alle Kinder Gottes. Und Kind zu sein von etwas Größerem, als wir selbst es sind, – in diesem Verhältnis zu Gott zu sehen, zum Schöpfer des Lebens, zur Ewigkeit, Liebe, dem Heiland und dem Licht – möge das weiterhin die Welt für uns öffnen!

9. Wenn wir nun das Lied „Schlaf, Kindlein, und liege...“ (674 im dän. Gesangbuch) singen, dann gelten die Worte, die wir singen, ja eben nicht nur für das kleine Kind – damals, als ihr Konfirmanden in der Wiege lagt und als wir Eltern euch zur Taufe trugen – oder als ihr selbst hierher kamt und getauft wurdet, – diese Worte gelten jetzt und allezeit, wie alt wir auch sein mögen. Es sind Worte, die sagen, dass wir nichts zu fürchten haben, indem die Liebe Gottes stärker ist als alles andere, seine Gnade größer ist als unsere eigenen Sünden und Urteile über einander, sein Segen strahlt allezeit über uns. Hier in diesem Lied werden wir mit Anspielung auf das, was in der Taufe geschieht, singen: „Dir Gott hat geschrieben / das Kreuz seines Lieben / vor Stirne und Brust, / schon eh du’s gewusst, / drum soll dir kein Teufel mehr schaden. / Zur Hoffnung auf Christ / getauft du ja bist, / kannst Seele und Herz darin baden.“ (Str. . 2). Uns ist also alles gegeben: Jesus ist das Licht und das Leben, und in ihm sind wir der Gnade anvertraut.

10. Stehen wir in diesem Verhältnis zu Gott wie ein Kind zu seinen Eltern, zu einer Mutter und einem Vater, dann ist uns zugleich in Jesus das Verhältnis von Geschwistern geschenkt. Nicht weil wir im buchstäblichen Sinne unser Geschlecht auf ein und dieselbe Familie zurückführen könnten. Sondern weil die Freiheit, die uns in Gott durch Jesus Christus gegeben ist, eine Gemeinschaft setzt, die größer ist als die, die es in der Familie und mit den Gästen gibt, die wir heute jeweils zur Konfirmation eingeladen haben. In ihm, in Gott erhalten wir Anteil an derjenigen Gemeinschaft, die Familie wie auch Freunde und Feinde – ja, alle mit uns in der Gesellschaft und in der Welt überhaupt – ja jeden Menschen zu Schwester und Bruder macht. Es ist also niemals genug, sich sicher zu glauben in seinem Eigenen und sich selbst in seinem Eigenen zu pflegen. Es steckt auch ein ethischer Appell darin, ein Bruder und eine Schwester zu sein. Einer der früheren Pastoren an unserer Kirche, der Liederdichter Karl Laurids Aastrup, schließt eines seiner Lieder – eines der Lieder, die in das neue Gesangbuch übernommen sind – mit folgender Aufforderung an uns: „Aber denk daran: ein Mensch sollst du sein. Von eigenen Wegen weichen können. Eines Bruders Angesicht bei der Begegnung kennen. Das ist auf Erden das Reich meines Vaters.“ (dän. Gesangbuch Nr. 157). Hierin liegt die wesentliche Erkenntnis, dass wir Menschen einander anvertraut sind und Verantwortung füreinander haben. Das ist auch die Forderung, die uns angeht, indem wir in der Taufe Gott als Vater und Jesus als Bruder erhalten.

11. Grundtvig nennt es eine himmlische Bruderschaft, es ist eine Gemeinschaft von Geschwistern oder des Geschlechts, aber sie ist damit weder besonders luftig oder nur für einen geschlossenen geisterfüllten Kreis. Ganz im Gegenteil. Auf diese Weise Sohn und Tochter, Kind Gottes zu sein und im Garten Jesu einander als Geschwister zu haben, bedeutet, dass wir nicht ununterbrochen daran zu denken haben, ob ich denn nun auch selbst tauge – denn der Ausgangspunkt, die Freiheit, von der wir leben, ist, dass Gott in der Taufe „ja“ zu uns gesagt hat und dies immer wieder bestätigt. Heute für euch, die ihr konfirmiert werdet – und für uns alle durch sein Wort, durch die Taufe und das Abendmahl.

12. Lebe durch die Gnade der Taufe. In Jesu Namen. Amen.

Pastor Elof Westergaard
Mariehøj 17
DK-8600 Silkeborg
Tel.: +45 – 86 80 08 15
E-mail: eve@km.dk

Übersetzung aus dem Dänischen: Dietrich Harbsmeier

 


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