Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: C. Dinkel und I. Karle

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Exaudi, 28. Mai 2006
Predigt zu Jeremia 31, 31-34, verfasst von Bernd Vogel
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Siehe, es kommt die Zeit, spricht der HERR, da will ich mit dem Hause Israel und mit dem Hause Juda einen neuen Bund schließen,
nicht wie der Bund gewesen ist, den ich mit ihren Vätern schloss, als ich sie bei der Hand nahm, um sie aus Ägyptenland zu führen, ein Bund, den sie nicht gehalten haben, ob ich gleich ihr Herr war, spricht der HERR;
sondern das soll der Bund sein, den ich mit dem Hause Israel schließen will nach dieser Zeit, spricht der HERR: Ich will mein Gesetz in ihr Herz geben und in ihren Sinn schreiben, und sie sollen mein Volk sein und ich will ihr Gott sein.
Und es wird keiner den andern noch ein Bruder den andern lehren und sagen: »Erkenne den HERRN«, sondern sie sollen mich alle erkennen, beide, Klein und Groß, spricht der HERR; denn ich will ihnen ihre Missetat vergeben und ihrer Sünde nimmermehr gedenken.

Es sitzt uns im Fleisch. Das Vergangene. Was gestern war, ist uns eingefleischt. An vieles erinnern wir uns nicht. In Träumen manchmal kommt etwas aus Tiefen zum Vorschein. Plötzlich und unerwartet trifft uns eine Erinnerung, fällt uns etwas ein. Schönes, oft Schmerzliches, Erschreckendes: Ach, so war das bei mir damals .. Es sind oft Verwundungen, die uns in den Gliedern sitzen, die wir verdrängt und vergessen haben. Nun erscheinen sie wie Gespenster aus dem Schattenreich.

Sigmund Freud, dessen 150. Geburtstag dieses Jahr gefeiert wird, hat uns die Welt des Unbewussten erklärt. Er, der den Glauben seiner Vorfahren nicht teilen konnte, blieb doch ein Leben lang verbunden mit der biblischen Sicht auf den Menschen: Der Mensch als ein Wesen, das nicht „Herr im eigenen Haus“ ist. Freud hat den Menschen als neurotisch beschrieben, als ein Lebewesen, das ein Leben lang mühsam die Balance herstellen muss zwischen den Kräften des Unbewussten und einem alltagstauglichen bewussten Leben. Manchmal – so meinte Freud – bleibt dem leidenden Menschen gar nichts anderes übrig, als in die Welt seines Unbewussten, als in die Schatten der Vergangenheit hinab zu steigen, um die Gespenster dort auszutreiben, um Krankheiten der Seele und des Körpers zu heilen. Eingefleischte Verwundungen, gelernte Verhaltensweisen, die krank machen – sie müssen ans Tageslicht. Der Mensch soll in die Lage kommen, selbst zu entscheiden, wie er leben will und wie nicht.

Die Psychoanalyse Sigmund Freuds ist weiter entwickelt worden. Neue psychologische Zugänge sind dazu gekommen. Menschen unserer Kultur gehen zum Arzt, wenn sie seelische und körperliche Leiden haben. Viele gehen zum Psychologen, zum psychologisch geschulten Therapeuten oder Lebensberater, wenn sie mit ihrem Leben unzufrieden sind.

Dass die Bibel ein Buch der menschlichen Seele ist, wird vergessen. Das ist schade. Man sollte es einmal wieder probieren mit biblischen Texten wie Jeremia 31, 31-34. Manchmal Vers für Vers, Satz für Satz:
Siehe, es kommt die Zeit, spricht der HERR, da will ich mit dem Hause Israel und mit dem Hause Juda einen neuen Bund schließen ..

Auch Psychologen wissen: Alles braucht seine Zeit. Wenn eine Mensch sich dagegen wehrt, mit dem eigenen Unbewussten in Berührung zu kommen, dann ist das zu respektieren. Es wäre Gewalt, Vergewaltigung, einen Menschen gegen seinen Willen mit den Abgründen seiner Seele zu konfrontieren. Im geschützten Rahmen einer Therapie darf die Psychologin provozieren und konfrontieren, aber in Maßen und im Respekt vor dem „Klienten“ oder „Patienten“. Der muss sein Leben führen und erleiden. Der bestimmt, wie weit der Kontakt geht zu den eingefleischten Welten der Vergangenheit.

„Es kommt die Zeit ..“ . Alles braucht seine Zeit. Eine biblische Einsicht von Anfang an. Im Unterschied zur psychologischen Wissenschaft hält es der fromme Jude oder Christ für möglich, dass Gott selbst die Zeit heraufführt, in der das Wunder geschieht. Nicht ein blindes Schicksal beherrscht den Menschen. Nicht Körpersäfte und Seelenkräfte bestimmen, wer der Mensch ist. Nicht „meine“ momentane Verfassung, ob gut oder schlecht, macht mich als Menschen aus. „Ich“ bin nicht meine Fröhlichkeit und meine Traurigkeit. Ich bin nicht meine Angst und nicht mein Mut. Ich bin nicht meine Jugend oder mein Alter. All das gehört zu mir – aber ich bin dadurch nicht festgelegt, nicht „definiert“. Was mich definiert, was mich im Innersten ausmacht und zusammen hält, ist ein ANDERER als ich, ist eine Kraft überlegener Freiheit, die weit über allem steht und wirkt, was ich fühle, denke und tue. Das Geheimnis meiner Person ist nicht mein Gesundheitszustand, sondern ist der lebendige GOTT selbst.

Unerhörte Rede vor dem kritischen wissenschaftlichen Forum! Doch ernst zu nehmende Wissenschaftler reden Juden und Christen ihren Gott nicht aus. Sie können akzeptieren, dass „Gott“ eine Deutung ist, wie Menschen ihre Lebenswirklichkeit verstehen können. Wissenschaftler nehmen die Grenzen ihrer Wissenschaft ernst. Vielleicht war das Freuds einer wirklich wichtiger Fehler, dass er die Religiösität des Menschen pauschal als „kollektive Zwangsneurose“ abtat. Kein Zweifel: Viel Religion, viel Glaube war und ist krankhaft, neurotisch. Man muss nicht allein an die Fanatiker aller Religionen denken. Auch in vielen gutmütigen, anscheinend „normalen“ Gläubigen sitzt tief eingefleischt eine Mischung aus Glauben und Aberglauben, aus Freiheit und Zwang, aus Lebendigkeit und verdeckter Todessehnsucht. Die Psychoanalyse hat da bis heute viel zu entdecken und vielleicht zu heilen. Doch „Gott“ ist nicht pauschal eine religiöse Wahnidee. Der Gott der Bibel erweist sich mitten im Leben als die Macht, die aus Knechtschaften in Freiheit führt!

„Es kommt die Zeit, spricht der HERR, da will ich mit dem Hause Israel und mit dem Hause Juda einen neuen Bund schließen ..“

Zu SEINER Zeit wird Gott einen neuen Bund schließen „..nicht wie der Bund gewesen ist, den ich mit ihren Vätern schloss, als ich sie bei der Hand nahm, um sie aus Ägyptenland zu führen, ein Bund, den sie nicht gehalten haben, ob ich gleich ihr Herr war, spricht der HERR ..“

Eine neue Befreiung aus der Sklaverei wird es sein. Nicht aus Ägypten wie damals 1200 Jahre vor Jesus Christus, zur Zeit des Mose und des Pharao von Ägypten. Nicht mit Geboten auf Steintafeln wird es zugehen. Einen Mann, einen religiösen und politischen Führer wie Mose wird es dazu nicht mehr brauchen. Man wird dann sagen: Das Vorige war ein großer Versuch Gottes mit den Menschen; aber er ist gescheitert. Er ist jedenfalls nicht an sein Ziel gekommen. Trotz aller göttlichen Fürsorge, obwohl das Volk sein ihm versprochenes Land bekommen hat, obwohl es durch die 10 Gebote wusste, wie es sich seine Freiheit erhalten konnte durch Befolgung der Gebote im täglichen Leben, trotz furchtbaren Lektionen in der Geschichte des Volkes hat es nicht das gelernt, was es hätte lernen sollen: Wie es geht, mit einander und mit den Fremden friedlich und erfüllt zu leben. Ein Leben in der Erkenntnis des einen Gottes aller Menschen wäre das. Da wird niemand mehr verfolgt wegen seiner Rasse, Hautfarbe, Nationalität, Sprache oder Religion.

„.. sondern das soll der Bund sein, den ich mit dem Hause Israel schließen will nach dieser Zeit, spricht der HERR: Ich will mein Gesetz in ihr Herz geben und in ihren Sinn schreiben, und sie sollen mein Volk sein und ich will ihr Gott sein.“

Jeder wird zu dieser göttlichen Zeit selber im Herzen tragen, was menschliches Leben ist und was er oder sie dazu beitragen kann. Und niemand wird wie heimatlos auf dieser Erde dahintreiben, verloren zwischen all den verlockenden Angeboten und vielen Wegen, die ein Mensch gehen kann. Jeder wird einen inneren Sinn in sich tragen, einen Kompass, ein seelisches Navigationssystem, mit dem er oder sie den eigenen Weg findet und das Ziel nicht aus den Augen lässt.

„Und es wird keiner den andern noch ein Bruder den andern lehren und sagen: »Erkenne den HERRN«, sondern sie sollen mich alle erkennen, beide, Klein und Groß, spricht der HERR ..“

Dann werden Menschen einander nicht mehr bevormunden. Niemand wird den anderen klein machen und von oben herab belehren. Statt dessen werden die Menschen es lernen, einander mitzuteilen von dem, was sie bewegt. Sie werden Vertrauten ihre Träume erzählen und mit einander beraten, was sie bedeuten könnten. Sie werden es riskieren, zu einander ehrlich und offen zu sein, dabei immer auch voller Achtung für den Anderen. Respekt wird dann nicht das sein, was ein „Kleiner“ einem „Großen“ schuldet, sondern sie werden sich alle gegenseitig respektieren. Ehe jemand gegen einen anderen vorgeht, wird er versuchen, zu verstehen, was den anderen umtreibt. Ehe jemand böse gegen einen Anderen redet, bösen Leumund gibt oder gar Mobbing betreibt, wird er sich selbst fragen: Was hat das mit mir zu tun? Bin ich selber mit schuldig an der Misere? Warum habe ich den Anderen so gereizt? Was könnte ich tun, um ihm oder ihr den Weg zu ebnen?

Bald beginnt die Fußball – Weltmeisterschaft in Deutschland. Wir werden die ganze Spannbreite der Gefühle mit erleben. Sieg und Niederlage. Freude, Stolz und Trauer und Scham. Respekt vor dem Anderen und Verachtung. Ich fürchte, dass wir auch Gewalt erleben werden, Entladung der Wut gegen den, der „meine“ Mannschaft am Siegen hindert. Wir werden mit erleben des Menschen Möglichkeiten und Größe – vielleicht gerade in der Niederlage – und des Menschen primitive Schwächen. Wir werden erleben, dass die „Zeit“ noch nicht für alle gekommen ist, von der der Prophet schreibt: „Siehe, es kommt die Zeit ..“

Ja, die Zeit ist noch nicht. In Jesus von Nazareth war sie da. Christen glauben das. Sie setzen darauf, dass diese Zeit immer dann „da“ ist, wenn der auferstandene Christus im Leben der Menschen auftritt.

Wo man IHN, den CHRISTUS, wahrnimmt im eigenen Herzen, in den schönen und beklagenswerten Geschichten zwischen den Menschen, im Glück und im Streit, in Versöhnung und in Enttäuschung .. da kommt der „neue Bund“ zum Zuge. Da wird verbunden, was getrennt war:

Meine durchwachsene, auch Leid getränkte, auch Schuld besetzte Vergangenheit wird in Christus aufgehoben. „Christus versöhnt dich mit deiner Vergangenheit“ hat Frère Roger in Taizé oft gesagt. Was mir eingefleischt ist, bleibt wohl da bis zu meinem letzten Tag auf dieser Erde; aber es muss mich nicht umhauen, nicht völlig durchsetzen. Es „definiert“ mich nicht. Was immer war: Gott ist Verzeihen. Noch einmal Frère Roger: „Gott ist grenzenloses Verzeihen. Gott kann nur seine Liebe schenken.“

Und weil das so ist, kann ich auch auf andere Menschen immer neu zugehen. Der Streit, den ich gestern mit jemandem hatte, muss nicht meinen weiteren Umgang mit ihm definieren, festlegen. Ich bin so frei. Ich verkrieche mich nicht in einen Kokon aus Beleidigt - Sein und Selbstvorwurf. Auch meine neurotischen Anteile kann ich wahrnehmen und muss mich weder dauernd rechtfertigen, noch mich zum kranken Mann, zur kranken Frau machen lassen. Ich bin so frei.

Es gibt Psychologen, die sagen: Den „Trick“ mir der Vergebung der Sünden – das habt ihr glaubenden Menschen unseren Möglichkeiten voraus.“ Ich glaube nicht, dass „Vergebung“ ein „Trick“ ist. Ich will auch gar nicht mit Psychologen streiten, wer denn nun „Recht“ hat oder den Menschen mehr oder weniger hilft. Ich lese die Bibel und finde darin Worte, die mein Leben trösten, tragen und erneuern, Worte wie dieses:

„ ..denn ich will ihnen ihre Missetat vergeben und ihrer Sünde nimmermehr gedenken.

Amen.

Bernd Vogel
Bernd.Vogel@evlka.de

 


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