Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: C. Dinkel und I. Karle

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1. Sonntag nach Trinitatis, 18. Juni 2006
Predigt zu Lukas 12,13-21, verfasst von Niels Henrik Arendt (Dänemark)
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Memento mori - denke daran, dass du sterben musst. Das waren die beiden einzigen Worte, die die Mönche des Trappistenordens zueinander sagen durften, wenn sie sich auf den Gängen des Klosters begegneten. In einem gewissen Sinne ist das ein Teil der Botschaft in Jesu Gleichnis von dem reichen Kornbauer. Denn genau das hatte der Bauer vergessen. Und es ist eine Botschaft, die heute noch wichtiger ist als damals im Mittelalter. Wir reden heute zwar offener vom Tode, als man es noch vor nur einem Jahrzehnt tat. Und das ist gut so. Aber in einem anderen Sinne ist uns diese Tatsache: die Endlichkeit des Lebens, ferner als jemals zuvor. In einem großen Teil der Beschäftigung der letzten Jahre mit Organtransplantation, Screening der gesamten Bevölkerung, Forschung über das Gen des Alters usw. ist ein Unterton zu spüren, dass das Leben eines Tages doch nicht einfach vorbei sein kann. Jedenfalls nicht, ehe wir selbst meinen, wir seien damit fertig.

Ich habe vor einiger Zeit an einer Diskussion über Organtransplantiation teilgenommen und gebrauchte in diesem Zusammenhang den Ausdruck, es herrsche "Mangel an Organen". Ein Zuhörer reagierte prompt: Es gebe keinen Mangel an Organen! Seines Wissens hätten wir alle die Organe bekommen, die wir nötig hätten, so dass es genau so viele Organe gebe wie nötig. Das Problem sei, dass wir uns nicht damit abfinden wollten, dass sie mit begrenzter Haltbarkeit geliefert würden und wir deshalb versuchten, um diese Tatsache herumzukommen, indem wir einige davon zweimal gebrauchten.

Man möge mich nicht missverstehen: ich bin kein Gegner der Organtransplantation. Aber ich bin beunruhigt angesichts der Verdrängung der Verwundbarkeit des Lebens, die Voraussetzung für oder Folge von moderner Behandlungstechnologie zu sein scheint. Bis auf unsere Zeit haben die Menschen gewusst und anerkannt, dass das Leben verwundbar ist. Und das hat immerhin bewirkt, dass sie dem Leben gegenüber ab und an eine Aufmerksamkeit an den Tag legten, die heute oft verloren scheint. Was geschieht, wenn dieses Wissen um die Verwundbarkeit des Lebens verdrängt wird? Ja, dann sind wir - in aller Kürze gesagt - weniger geeignet zum Leben, das Leben zu bestehen, wenn es anders verläuft, als wir vorausberechnet hatten. Und wir sind weniger imstande zur Aufmerksamkeit anderen gegenüber, wenn es sie trifft. Das ist der Preis für all das, was wir heute können.

Wir glauben, wir könnten uns absichern. Und wir wiegen uns in falscher Sicherheit. Ein Arzt hat nachgewiesen, wie die enormen Summen, die hierzulande für sogenannte vorbeugende Screenings, also für große Untersuchungen der Bevölkerung, ausgegeben werden, hinsichtlich unseres Gesundheitszustandes keine entscheidende Bedeutung haben, sondern uns oft nur ein falsches Sicherheitsgefühl vermitteln oder eben einen falschen Schreck einjagen, weil sie mit großer Unsicherheit verbunden sind - davon aber wissen die Leute nichts. In einer kleineren Stadt führte man 30 aufeinander folgende Screenings an tausend im übrigen gesunden Menschen durch. Das Ergebnis war, dass 90% von ihnen faktisch in die Hochrisikogruppe für irgendeine ernsthafte Krankheit gehörten. Hätte man ein paar Untersuchungen mehr gemacht, hätte man die 100% erreicht. Und das ist selbstverständlich wissenschaftlich korrekt: wir gehören alle zur Hochrisikogruppe derer, die eines Tages sterben müssen. Die Leute wollen die Untersuchungen dennoch haben, obwohl sie ihr Leben mit Unruhe oder mit zweifelhalt begründeter Sicherheit füllen. Und: obwohl dieses ganze Geschrei um den quantitativen Umfang des Lebens ihre Aufmerksamkeit von dem ablenkt, was das Leben ist: Nähe, Gemeinschaft mit anderen Menschen, Aufmerksamkeit für das, was Gott für uns will. Und in genau diesem Punkt gleichen wir dem reichen Kornbauern in dem Gleichnis Jesu. Wir handeln, als ob das Leben etwas wäre, was wir besitzen, genauso wie der Kornbauer von der Erwartung aus plante, dass das Leben ihm im selben Maße gehörte, wie sein Korn und seine gefüllten Scheunen ihm gehörten.

Ein dänisches Fernsehspiel aus den 70ern bietet eine Übersetzung des Gleichnisses von dem reichen Kornbauern in das Dänemark unserer Zeit. In dem Stück möchte der sympathische Fabrikant Daniel, der sich sein Leben lang geschunden hat und so ein wohlhabender Mann geworden ist, sich zur Ruhe setzen, die Früchte seiner jahrelangen Anstrengungen genießen, um mit der Familie zusammen zu sein, die er in all den betriebsamen Jahren nur allzu selten gesehen hat. Aber als seine Frau vorschlägt, eine Lebensversicherung abzuschließen, zeigen die ärztlichen Untersuchungen, dass er ein Geschwulst im Gehirn und nur noch kurze Zeit zu leben hat. Man folgt ihm nun in dem schmerzvollen Prozess, in dem er die bittere Erkenntnis machen muss, dass sein Leben in mehr als einem Sinne kein gutes Leben gewesen ist, weil er ununterbrochen aufgeschoben hat, sein Leben in Wirklichkeit zu leben, bis es zu spät war. Daniel fühlt, dass es sinnlos ist, dass das Leben nichts mehr für ihn bereit hat, gerade jetzt, wo er es genießen will. Er ist bitter und enttäuscht. Aber das ist ja ganz und gar der reiche Kornbauer in neuem Gewande, abgesehen davon, dass Daniel ein durch und durch sympathischer Mensch ist - wir wissen nichts darüber, ob der Bauer das auch war - aber warum eigentlich nicht? Daniel ist auch weitestgehend ein Bild des gewöhnlichen Dänen.

Dieser fleißige und sympathische Däne ist, was das Evangelium einen Toren nennt, weil er Leben so auffasst und eingerichtet hat, als wäre es etwas, worüber er frei verfügen könnte. Weil er erwartet, dass es erst vorbei ist, wenn er ganz satt geworden ist. Aber nun ist es eben einfach so, dass wir sterben müssen. Und das müsste unsere Aufmerksamkeit eigentlich darauf richten, wozu wir dieses Leben gebrauchen, solange wir es haben, in einem völlig anderen Umfang, als wir es jetzt tun.

Jesus erzählt das Gleichnis von dem reichen Kornbauern nicht mit der geringsten Schadenfreude oder, wie wenn er jetzt seine Jünger darüber belehren wollte, wie sich alles letzten Endes in einer höheren Einheit ausgleicht.

Der reiche Kornbauer musste sterben - wie jeder von uns. Und das bedeutet ganz einfach, dass das Leben nicht sein Eigentum war, nicht etwas, womit er rechnen oder worauf er Anspruch erheben konnte, und dass er seinen Reichtum nicht mit sich nehmen konnte. Wieviel hat er hinterlassen? wurde einmal ein Rechtsanwalt gefragt in Bezug auf jemanden, der kurz zuvor verstorben war. Alles, antwortete der Rechtsanwalt.

Das ist die Lehre, die der Tod jeden uns lehren sollte. Das ist die Lehre, die anzunehmen uns schwerer fällt als irgend etwas sonst. Und u.a. aus diesem Grunde liegt uns so sehr daran, das Leben zu verlängern. Nicht dass das an sich schon verkehrt wäre. Aber es wird verkehrt, wenn es zur Sache selbst wird. Wenn das, wozu das Leben gebraucht werden soll, am Horizont verschwindet.

Jesu Gleichnis ist nicht so sehr ein "memento mori" als vielmehr ein "memento vivere" - denke daran, zu leben, und selbstverständlich: auf die richtige Weise zu leben. Das Leben ist nicht dein Eigentum. Das Leben ist nicht etwas, wozu du ein Recht hättest. Ist es billig, dass ich jetzt sterben muss, fragt der Bauer. Aber die richtige Frage lautet natürlich: ist es billig, dass wir leben? Das Leben zu behandeln, als ob man es besäße, heißt vergessen, dass man sterben muss. Daran denken, dass man sterben muss, sollte vielmehr in uns auch das Bewusstsein wecken für das grundlose, unglaubliche Geschenk: dass wir das Leben in diesem Augenblick haben, es zu gebrauchen, von ihm abzugeben. Denn das ist der Sinn des Lebens; es ist Gottes Sinn mit dem Leben, des Gottes, der es uns geschenkt hat: dass wir es gebrauchen sollen, dass wir es ausgeben sollen, dass wir davon abgeben sollen - nicht erst morgen, sondern jetzt, hier und jetzt. Sobald wir nicht davon abgeben wollen, weil wir andere Pläne damit haben, sind wir von derselben Torheit gefangen wie der reiche Bauer.

Sterben müssen wir - aber davon können wir lernen, dass das Leben ein unverdientes Geschenk ist. Der Tod ist eine Erinnerung daran, wer allein und anhaltend alles Recht hat und haben wird - im Leben und über das Leben. Der Tod bedeutet, dass uns das Steuer aus der Hand genommen wird. Das erfüllt uns mit Furcht. Aber das Evangelium will haben, dass es uns mit Freude erfüllt. Das Evangelium will, dass wir erfahren: "Wenn das Dunkel schwindet, das Seelenweh, sag ich’s neu: Dein Wille, mein Gott, gescheh" (Lied 629,3, Jakob Knudsen). Wenn Gott das Steuer ergreift, dürfen wir uns damit begnügen, das Leben zu empfangen und uns darüber zu freuen. Und der größte Grund zur Freude ist, dass selbst der Tag, den wir am meisten fürchten, der Tag, an dem wir endgültig das Steuer aus der Hand geben müssen, an dem Gott nimmt, was sein ist, dass dieser Tag im Grunde dasselbe bedeutet; dass er die Macht hat und dass wir in allem auf ihm ruhen. Amen.

Bischof Niels Henrik Arendt
Ribe Landevej 37
DK-6100 Haderslev
Tel.: +45 74 52 20 25
E-mail: nha@km.dk

Übersetzung aus dem Dänischen: Dietrich Harbsmeier

 

 

 

 


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