Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: C. Dinkel und I. Karle

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2. Sonntag nach Trinitatis, 25. Juni 2006
Predigt zu 1. Korinther 14, 1-3.20-25, verfasst von Walter Meyer-Roscher
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


In einem Theaterstück des Dramatikers und Gesellschaftskritikers Franz Xaver Kroetz, das gerade in München seine Uraufführung erlebt, sitzt der Souffleur in der ersten Reihe im Zuschauerraum. Er hat ein Pult mit dem Text vor sich und ein Mikrofon in der Hand. Vier Schauspieler sitzen in seiner Nähe und jeder starrt in einen farbigen Plastik-Fernsehkasten.

In der Kritik einer großen deutschen Tageszeitung wird dann weiter berichtet: „Wenn der Souffleur schreit: ‚Beten!’, dann beten sie, wenn er schreit: ‚Grinsen!’, dann grinsen sie, wenn er schreit: ‚Wählen!’, dann wählen sie, machen ihr Staatsbürgerpflichtskreuz auf dem Boden, auf den Fernsehern, auf den Sesseln, ja selbst auf ihren entblößten Hinterbacken. Zwischen dem oft und oft vom Souffleur wiederholten "’Wählen!’ plappern sie panisch und mechanisch nach, was durch ihre Köpfe beim Zappen rauscht: ‚Deutschland!’, ‚Sparpolitik!’ ‚Zukunft!’, ‚Wir brauchen mehr Kinder!’. ’Deutschland muss ein Land der Ideen werden!’ und so weiter. Die vier Männer sind ‚Drücker’, ihr Leben besteht aus dauerndem Drücken der Fernbedienung. Und was das Fernsehen ihnen vormacht und vorsagt, das machen und sagen sie nach.“

Werden wir tatsächlich schon so exzessiv durch Medienkonsum ferngesteuert? Sind unsere Köpfe schon mit vorgekauten Meinungen und vorgefertigten Entscheidungen so „verfüllt“ und unsere Ohren vom Dauerton medialer Kommunikation so zugedröhnt, wie diese Gesellschafts- und Medienkritik uns weismachen will?

Die Dichterin Nelly Sachs hat in einer sehr viel hintergründigeren Zukunftsvision schon vor Jahrzehnten gefragt, was wohl geschehen würde, wenn einmal der Lärm der vielen Stimmen, die auf uns einreden, plötzlich verstummen, wenn es still würde wie in einer nicht enden wollenden Nacht:

„Wenn die Propheten einbrächen durch Türen der Nacht –
Ohr der Menschheit, würdest du hören?
Wenn die Propheten aufstünden in der Nacht der Menschheit –
Würdest du ein Herz zu vergeben haben?“

So viele Fragen! Die selbsternannten Propheten, die uns im Lärm des Alltags bedrängen und doch nichts weiter sind als Souffleure, die uns von selbständigem Denken und eigenen Entscheidungen abhalten, sind an einer Antwort auf diese Fragen nicht interessiert. Die Propheten der Macht und die Befürworter brutaler Gewalt, die Propheten eines rein wirtschaftlichen Denkens in roten und schwarzen Zahlen, die Anbeter steigender Aktienkurse und die Propheten eines bedenkenlosen Egoismus kennen nur eine Maxime: Es muss sich rechnen und es muss sich auszahlen. Nein, diese Propheten werden uns keinen Ausweg aus einem fremdbestimmten und ferngesteuerten Leben weisen können.

Paulus beschwört die prophetische Rede als die einzig hilfreiche Antwort, die eine christliche Gemeinde auf die drängenden Lebensfragen geben kann. Ihre Aufgabe ist nicht das Soufflieren gängiger Trends, ihre Aufgabe ist es vielmehr, den Menschen „zur Erbauung, zur Ermahnung und zur Tröstung“ zu reden.

Paulus redet die ganze Gemeinde an. Er meint alle, die sich im Gottesdienst versammeln, in der Gemeinde mitarbeiten und mit der Gemeinde leben. Alle sind empfänglich für die „Gaben des Geistes“. Sie können sich für Gottes Geist offen halten, sie sollen sich um die Gaben des Geistes bemühen – mit Ohren, die sie öffnen und mit Herzen, die sie vergeben, verschenken können.
„Wenn die Propheten
den Zögernden zu essen geben,
den Zaghaften reinen Wein einschenken,
beim Namen nennen,
was Kummer macht.

Wenn die Propheten
den Schweigenden ein Stichwort geben,
den Hoffnungslosen
Schritte zeigen auf festem Grund

Du da!
In Schuhen gehend
auf dünner Erdenhaut:
In deinem Munde glüht
ein Feuerwort,
auch deine Zunge taugt
zum Feueranzünden.“

„Wir stehen auf dünner Erdenhaut“ hat Arnim Juhre seine Sammlung von Gedichten und Psalmnachdichtungen genannt. Du da, ruft der Dichter, du gehst weiter auf dünner Erdenhaut, und in einem Munde glüht ein Feuerwort, Du hast etwas zu sagen – eine Botschaft, die sich wie in Feuer ausbreiten und andere anstecken könnte: Die vielleicht, die auf schwankendem Grund nicht mehr weiterzugehen wagen; die unsicher geworden sind und ängstlich, vielleicht schon resigniert und hoffnungslos zu Boden blicken, aber nicht mehr nach vorn und nicht mehr nach oben sehen.

Aus ihrer Erstarrung könnte die Botschaft auch alle die befreien, die keinen Ausweg aus einem fremdbestimmten und ferngesteuerten Leben mehr zu sehen meinen, deren Ohren und Herzen sich vor dem Lärm der vielen Stimmen verschlossen haben.

Mit Paulus können wir uns sicher sein, dass dieses Feuerwort in allen christlichen Gemeinden entzündet wird – in den Gottesdiensten, im Gemeindeleben und in jedem hilfreichen Einsatz für die, die Hilfe brauchen. Es zu entzünden ist kein Privileg besonderer Ämter und Berufe. „Du da – auch deine Zunge taugt zum Feueranzünden“. Alle in der Gemeinde sind gemeint. Alle können sich dazu auch berufen fühlen.

Eins aber will Paulus ausschließen: Das Feuerwort soll keine ekstatische Religiosität entfachen. Es soll nicht durch „Zungenreden“, durch Begeisterung ohne Verstand und ohne Verstehen weitergegeben werden. Begeisterte, die sich in ihrem ekstatischen Glauben den Zögernden und Zaghaften, den Schweigenden und Hoffnungslosen nicht verständlich machen können, reihen sich ein in die große Schar derer, die letzten Endes nur das Leben und Zusammenleben anderer fremd bestimmen und Souffleure bleiben wollen.

Dabei wären doch die vielen Außenstehenden und Randsiedler im Umfeld der Kirche, die Kritiker und Skeptiker am Rande einer Gemeinde für Hoffnung und Ermutigung schon empfänglich, vielleicht auch für Ermahnung und Wegweisung vor dem Horizont der Gebote Gottes im Lärm und in der Hetze des Alltags. Ganz sicher aber brauchen sie alle, was Paulus „Tröstung“ nennt – Licht in einer sich verdunkelnden „Nacht der Menschheit“. Zungenreden und Äußerungen einer in sich verschlossenen, selbstgenügsamen Religiosität können das nicht bewirken. Die prophetische Weitergabe von Gottes Feuerwort kann es, weil sie den Zögernden das Brot des Lebens und den Zaghaften den Wein der Wahrheit anbietet. Das hilft, den von Leid und bösen Erfahrungen Niedergebeugten ihren Kummen auszusprechen, und gibt den in sinnloser Hetze und in sorgengeplagtem Alltag Verstummten ein neues Stichwort. Es lässt sie auf ihre vielen Fragen die alten Antworten des Glaubens neu erfahren und erproben. Das zeigt den auf dünner Erdenhaut ängstlich und hoffnungslos Gewordenen Schritte auf festem Grund, neue Räume des Lebens und Zusammenlebens, die sich durch Nächstenliebe, Hilfsbereitschaft und Fürsorge für andere auftun.

Auch das sind Gaben des Geistes, von den Paulus spricht. Sich um sie zu bemühen und so nach der Liebe zu streben, lohnt sich – für uns selbst und für die, die noch auf das Feuerwort warten. Paulus hat es erfahren: In diesem prophetischen Wort ist Gott selbst unter uns. Seine Nähe wirkt einladend und schließt auch die Zaghaften und Zögernden in die Gemeinschaft einer lebendigen Gemeinde ein.
Amen


Walter Meyer-Roscher
Landessuperintendent i.R.
Adelog Str. 1
31141 Hildesheim
e-mail: meyro-hi@arcor.de


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