Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: C. Dinkel und I. Karle

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3. Sonntag nach Trinitatis, 2. Juli 2006
Predigt zu 1. Johannes 1,5 - 2,6, verfasst von Hans Joachim Schliep
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


1,5 Und das ist die Botschaft, die wir von ihm gehört haben und euch verkündigen: Gott ist Licht, und in ihm ist keine Finsternis. 6 Wenn wir sagen, daß wir Gemeinschaft mit ihm haben, und wandeln in der Finsternis, so lügen wir und tun nicht die Wahrheit. 7 Wenn wir aber im Licht wandeln, wie er im Licht ist, so haben wir Gemeinschaft untereinander, und das Blut Jesu, seines Sohnes, macht uns rein von all er Sünde. 8 Wenn wir sagen, wir haben keine Sünde, so betrügen wir uns selbst, und die Wahrheit ist nicht in uns. 9 Wenn wir aber unsre Sünden bekennen, so ist er treu und gerecht, daß er uns die Sünden vergibt und reinigt uns von aller Ungerechtigkeit. 10 We nn wir sagen, wir haben nicht gesündigt, so machen wir ihn zum Lügner, und sein Wort ist nicht in uns.

2,1 Meine Kinder, dies schreibe ich euch, damit ihr nicht sündigt. Und wenn jemand sündigt, so haben wir einen Fürsprecher bei dem Vater, Jesus Christus, der gerecht ist. 2 Und er ist die Versöhnung für unsre Sünden, nicht allein aber für die unseren, sondern auch für die der ganzen Welt. 3 Und daran merken wir, daß wir ihn kennen, wenn wir seine Gebote halten. 4 Wer sagt: Ich kenne ihn, und hält seine Gebote nicht, der ist ein Lügner, und in dem ist die Wahrheit nicht. 5 Wer aber sein Wort hält, in dem ist wahrlich die Liebe Gottes vollkommen. Daran erkennen wir, daß wir in ihm sind. 6 Wer sagt, daß er in ihm bleibt, der soll auch leben, wie er gelebt hat.

Liebe Gemeinde!

„Vorweggenommen in ein Haus aus Licht.“ Mit diesem Bild beschreibt Marie Luise Kaschnitz die christliche Existenz im Licht des Ostermorgens. „Vorweggenommen in ein Haus aus Licht.“ Dieses Licht ist Gott: Gott ist Licht, und in ihm ist keine Finsternis. Mehr als ein unsterblicher Sonnenkönig. Mehr als ein unvordenklicher Lichtgott. Mehr auch als ein Lichtmeer, in das der Mensch sich versenken und darin versinken könnte. Und allemal mehr als die Lichtgewitter moderner Bühnenshows. Gott braucht keine Bühnenscheinwerfer und Schallverstärker. Gott ist Licht: Licht vor allem Licht: Energie, Dynamik, Kreativität, aus der alles Leben kommt, von der alles Leben lebt und in die alles Leben zurückkehrt. Das geht über Albert Einstein hinaus, der die Geschwindigkeit des Lichts zur einzigen Naturkonstante erklärte. Es geht um die Kraft, aus der Leben überhaupt hervorgeht. Selbst wer darauf verzichtet, nach dem Woher, dem Warum und Wohin dieser Kraft zu fragen, muß ihre Existenz anerkennen. Wie soll denn auch, wer nicht mindestens insgeheim von einer zentralen Wirklichkeit ausgeht, jemals zu einem Ergebnis, einer Einsicht, einer Erkenntnis gelangen?

Gott ist Licht, und in ihm ist keine Finsternis. Wer dieses erkennt, bekennt sich zum Geheimnis des Lebens. Könnte auch in der Finsternis das Geheimnis des Lebens beschlossen sein? Während das Licht niemals die Bejahung der Finsternis ist, ist die Finsternis immer und überall die Verneinung des Lichts. Also hat sie keine eigene Kraft. Deshalb heißt es nicht, Gott sei Licht und keine Finsternis, sondern nur: in ihm ist keine Finsternis. Die Finsternis hat weder ein selbstständiges Sein noch ein eigenes Recht. Sie ist ein leerer Raum, der das Licht nicht aufhalten kann.

Doch kehren wir von solchen Raumflügen zurück aufs irdische Ackerland, auf dem die christliche Kirche real existiert. Es ist richtig, daß wir mitsprechen in Politik und Wirtschaft, Wissenschaft und Bildung, Kunst und Medien, Gesundheit und Umwelt. Gerade jetzt, wo die Finanzmittel knapper werden, käme der Rückzug in einen kirchlichen Binnenraum einer Verleugnung des „Licht-der-Welt-Seins“ gleich, zu dem Jesus doch das Christ- und Kirche-Sein bestimmt hat (Mt 5,14). Wie aber stehen wir auf dem Markt der Waren, Werte und Wahrheiten? Und womit können wir bestehen? Mit Gott - einzig Gott. Das Christsein und damit die Kirche hat nur einen Lebensgrund: Gott selbst.

Deshalb ist die Kirche zum Gotteslob da und damit der Gottesbegegnung einen Raum zu geben. Mithin ist das Christ- und Kirche-Sein in Kategorien von Zweck und Nutzen überhaupt nicht zu fassen. Vorsicht deshalb auch vor dem inflationären Gebrauch von „Werten“! Der Wertbegriff entstammt der Ökonomie und paßt nur sehr bedingt in die Ethik! Als bloße Wertebeschaffer dieser Gesellschaft sind wir wertlos. Sie hat genug „Werte“. Was ihr aber fehlt, ist Gott. Was ihr fehlt, ist das Licht, das selbst der Finsternis das Dunkle, den Schatten, die Kälte nimmt.

Dieses Licht wahrzunehmen, fängt freilich bei uns selbst an. Nicht daß unsere Gotteserkenntnis auf unseren Glauben gestellt wäre. Sondern daß wir, wenn wir uns vorweggenommen wissen in ein Haus aus Licht, einfach nicht mehr so tun können, als seien wir Kinder der Finsternis. Kinder der Finsternis aber blieben wir, wenn wir die dunklen Seiten unseres Lebens, die Schatten auf unserer Seele leugneten; dann hielten diese Schatten uns fest. Die Lüge, von der hier in 1. Johannes 1 die Rede ist, ist keine bewußte Falschaussage. Sie ist eine Lüge ohne Worte, ein Verschweigen dessen, was im Licht Gottes doch offen zutage tritt: daß wir das, was wir sind, immer erst noch bei uns ankommen lassen müssen (1. Joh 3,2), daß die Wahrheit, in die Gottes Licht uns taucht, immer erst noch von uns angenommen sein will - angenommen als das, worin wir leben, weben und sind (Apg 17,28).

Wir lassen, was wir sind: Gottes Töchter und Söhne, aber erst bei uns ankommen, wenn wir über einen spekulativen, irgendwie kosmischen Gottesglauben hinausgelangen. Die Wahrheit ist konkret, nur so ist sie die ganze Wahrheit (V. 6). Sie wird getan, gelebt, wenn wir zueinander kommen und Jesus Christus zu uns kommen lassen. Dabei geht es um unsere Identität als Kirche, als Gemeinschaft der Christen - nicht im Sinne einer Abgrenzung von anderen, sondern als Angebot, als Einladung an andere, den Jesus Christus kennenzulernen, der mitten unter uns ist, „wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind“ (EG 564 nach Mt 18,20).

Keine Abgrenzung, sondern Einladung - und doch Unterscheidung, über die alle Philosophie und Religion verwundert „den Kopf schütteln“. Wenn wir aber im Licht wandeln, wie er im Licht ist... ein solcher Satz würde normalerweise fortgesetzt: „dann haben wir Gemeinschaft mit Gott“. Das ist doch die große Frage: Ist ein Gott oder ist kein Gott? Sind wir sinnstiftend, trost- und haltgebend umgriffen von einer Wirklichkeit, die uns persönlich kennt: die uns bei unserem Namen ruft? Oder sind wir nur einsame, auf uns selbst gestellte Nomaden am Rande des Universums?

In 1. Johannes 1 werden wir schlicht an die Gemeinschaft der Menschen gewiesen: nicht im siebten Himmel, sondern auf der einen Erde, mitten unter Menschen, gleichsam in frommer Weltlichkeit entscheidet sich, ob jemand an Gott glaubt oder nicht. Die Frage nach Gott ist eben weniger eine theoretische denn eine praktische Frage: „Woran du dein Herz hängst, das ist eigentlich dein Gott.“ (Martin Luther) Nicht daß die Praxis den Glauben erzeugte, aber in der Praxis wird er bezeugt. Ich muß ja nicht dauernd von meinem Glauben reden. Aber wieviel wäre schon gewonnen, lebte ich so, daß ich oft nach meinem Glauben gefragt würde?! Infolge dessen ist christlicher Gottesglaube auch keine Steigerung religiöser Gefühle, sondern Hinwendung zum konkreten Leben - und schon deshalb keine Wellness-Kur.

Darum ist die Rede vom Blut Jesu. Eine drastische, anstößige Rede. Sie läßt einigen das Blut in den Adern erstarren. Sie bringt das Blut anderer in Wallung, hat doch auch die ganze fromme Blutwäsche schreckliche Blutbäder im Namen Gottes nicht verhindern können. Und immer noch spukt im Hirn ganz Frommer wie ganz Unfrommer die Vorstellung eines blutrünstigen, auf Vergeltung erpichten Gottes herum. Wann, wann endlich wird allen Verehrern wie allen Verächtern des Christentums klar: Dem Gott Jesu Christi geht es nicht um die Lebenshergabe eines anderen an ihn, sondern um seine Lebenshingabe an uns?!

Jesu Lebenshingabe ist Ausdruck einer unverwechselbaren Unbedingtheit. Wie für uns Glaube das Ergriffensein von dem ist, was uns unbedingt angeht (Paul Tillich), hat Gott immer schon ein unbedingtes Interesse am Menschen gehabt. Diese Unbedingtheit verdichtet sich in Jesus Christus: Seine Sensibilität für Gott, das (den) Unbedingte(n) selbst, treibt ihn in eine letzte, unteilbare, unüberbietbare Solidarität mit den Menschen. Nicht einmal der Tod kann sie aufhalten, sie erfüllt sich vielmehr in seinem Kreuzestod. Unbedingter geht es nicht. Das Licht, in dem keine Finsternis ist, ist dann die Liebe (1. Joh 4,9+10+16b). Hätte der Autor doch schon an dieser Stelle von der Liebe gesprochen statt von der Reinheit von aller Sünde!

Aber er wird seine Gründe gehabt haben, sogar noch weiterzugehen: Wenn wir sagen, wir haben keine Sünde, so betrügen wir uns selbst, und die Wahrheit ist nicht in uns. Die Gründe liegen im Denken derer, die der Autor des 1. Johannesbriefes neu zum Glauben, zur Rückkehr an den Anfang (1. Joh 1,1) einladen will. Immer wenn er schreibt Wenn wir aber sagen... zitiert er sogenannte Gnostiker, die sich so im Licht Gottes wähnen, daß sie es in sich selbst zu erkennen meinen und schon keinen Unterschied mehr zwischen sich und Gott, zwischen Geschöpf und Schöpfer, zwischen Empfänger und Geber machen. Ja, sie empfinden sich selbst als derart Erleuchtete, daß alle anderen nur noch Schattenmenschen sind. Dabei übersehen sie aber die Schatten, die sie selbst werfen, weil ihnen das konkrete Leben mit seinem Anspruch praktischer Humanität schon gleichgültig geworden ist.

Diese Menschen müssen an ihre „Sünde“ erinnert werden: Mensch, du führst doch immer noch ein irdisches und kein himmlisches Dasein! Gerade im Licht, Mensch, werden doch die Zweideutigkeiten, die Risse und Brüche im Leben erst richtig sichtbar! Und gestern - ja: gestern - kann es doch nicht besser werden als heute! Das Geschehene können wir doch nicht rückgängig machen, sondern nur vergeben und uns vergeben lassen! Alles andere ist doch Selbstbetrug.

„Nun geht mir doch weg mit Selbstbetrug! Nun hört doch endlich auf mit diesem ewigen Sündengequatsche! Gerade ihr von der Kirche trinkt doch heimlich Wein und predigt öffentlich Wasser! Was sagt ihr denn zur laufenden Fußball-WM: heiter, gelassen, ausgelassen und doch freundlich, nicht nur auf die Sieger fixiert, sondern auch den Verlierern zugewandt! Echte Begeisterung! Hört doch endlich auf mit der Spielverderberei. Redet doch wenigstens am Sonntag vor dem Endspiel nicht von Lüge und Sünde und einer Wahrheit, die ihr selbst dauernd verratet!“

Um eine Antwort wäre ich ja nicht verlegen. So fußballbegeistert ich selber - neben einem Fußballstadion aufgewachsen und Helmut Rahn, Uwe Seeler, Franz Beckenbauer und viele andere Fußballgrößen spielen gesehen habend - bin, so sehr erinnern mich die Sicherheitsmaßnahmen an Freiheitsberaubung und so sehr sehe ich die FIFA und den DFB an den Ketten und in den Klauen der Sponsoren. Auf welcher Seite also ist der Selbstbetrug größer? Ja, Fußball ist „ein starkes Stück Leben“ (Wolfgang Huber), hat aber seinen Preis. Doch das wäre noch keine angemessene Antwort.

Darum möchte ich auf das neue Buch von Gerhard Schulze, dem wir die Studie zur „Erlebnisgesellschaft“ verdanken, ernsthaft eingehen: „Die Sünde. Das schöne Leben und seine Feinde“ (München / Wien 2006). Seine These lautet: In der Moderne hat - mit dem Verlust von Transzendenz und Metaphysik - die Idee der „Sünde“ abgewirtschaftet. Anschaulich beschreibt er, wie an die Stelle der „Sieben Todsünden“ Völlerei, Unkeuschheit, Habsucht, Neid, Trägheit, Zorn, Hoffart, die als Abkehr von göttlichen Geboten galten, das „Projekt des schönen Lebens“, verbunden mit einer neuen Kultur der Selbstbegrenzung getreten ist: z. B. wird die Freude am guten Essen durch Schlankheits- und Fastenkuren begrenzt. Das alles ist gut so. Denn die Todsündenlehre war nichts anderes als die „Mißbilligung des Menschlichen“. In der „gereiften Moderne“ aber geht es um eine ganz und gar freiwillige Selbstbegrenzung, „nicht als geoffenbarte Idee aus dem Jenseits, sondern als eigene Idee“ (S. 182). So bleibt dem Menschen die Freude am Menschlichen und „das Projekt des schönen Lebens“ als Ausdruck von Daseinsfreude, Freiheit und Toleranz. Zu diesem Lebensstil sollten wir - „der Westen“ - uns gegen alle Formen einer fundamentalistischen und rigoristischen, im Namen von Religion einherkommenden Moral „bekennen“.

Gerhard Schulze hat für sein Plädoyer für das „schöne Leben“, überhaupt für sein Festhalten an der „Aufklärung“ meine Sympathie, zumal er realistisch und illusionslos feststellt: „Den schönen Augenblicken und Lebensphasen stehen Enttäuschungen gegenüber; eigene Verletzungen und die anderer; verunsichernde moralische Grenzgänge; die Ungewißheit zahlloser Wahlsituationen; die Gefahr, in eine Haltung nagender Unzufriedenheit zu verfallen. Alles könnte doch immer noch besser sein!“ (S. 260) Aber gerade an dieser Stelle ist er mir zu wenig aufgeklärt. Sein Ansatz, seine Einsicht müßte doch gerade dazu führen, sich neu in das Licht Gottes zu stellen, um Vergebung zu bitten, die Sünde zu bekennen. Denn gerade im „Projekt des schönen Lebens“ (es mag dahingestellt bleiben, ob das ein angemessener Ausdruck für das Leben ist) wimmelt es doch nur so von Enttäuschungen, Verletzungen, Verfehlungen. Können wir uns wirklich am eigenen Schopf aus dem Sumpf herausziehen? Käme ich wirklich ohne Arzt aus, wenn ich mich - selbst - verletzt hätte? Käme der, den ich enttäuscht und verletzt habe, geradewegs zu mir als seinem Therapeuten? Könnte ich mir meine Verfehlungen umstandslos selbst vergeben, verzeihen? Könnte ich mein eigener Fürsprecher sein? Wird nicht im „Projekt des schönen Lebens“ der Mensch zum Angeklagten, Ankläger und Richter in einer Person? Bei aller Sympathie - auch in diesem Ansatz lauert eine kräftige Portion Selbsttäuschung, ja, Selbstbetrug.

Ich bin sogar davon überzeugt, daß erst in Bezug zu einem Gegenüber das individuelle Leben als etwas Eigenes, Persönliches wahrgenommen werden kann. Die Differenz, die in diesem Gegenübersein erfahren wird, wenn aus dem Gegenüber ein Gegensatz wird, nenne ich „Sünde“. „Sünde“ ist doch kein moralischer Defekt, sondern etwas sehr Existentielles: die Wahrnehmung, daß etwas, das nur miteinander sein kann, ganz weit auseinander ist und gegeneinandersteht. Denn Freiheit treibt erst einmal auseinander. Deshalb sage ich ganz zugespitzt: Wer die „Sünde“ leugnet, kennt auch die Freiheit nicht, ja, er will sie gar nicht wirklich. Das „Projekt des schönen Lebens“, gedacht als Anerkennung des Menschlichen, kann doch auch zur Droge werden.

An jenes mit „Sünde“ eigentlich gemeinte schwer beschreibbare Existentielle - ich nenne es gelegentlich auch „Entfremdung“ - hat doch die Todsündenlehre niemals herangereicht. Martin Luther hat sie ja auch verworfen. Kleine und große, läßliche und untilgbare Sünden zu unterscheiden, ist unbiblisch und Unsinn. Es gibt nur eine Sünde - und das ist der Unglaube als radikaler Gegensatz zu dem, was ich als verbundenes Gegenüber zum Leben bräuchte: Ich bin mir selbst Licht genug. Diese Abkehr vom Anderen ist die Trennung von dem, was zu mir gehört.

Im Blick auf das „Projekt des schönen Lebens“ schlage ich vor, „Sünde“ als Selbstverfehlung zu verstehen. Damit ist noch nicht ihr ganzer Bedeutungshorizont erfaßt. Prüfen Sie aber bitte selbst, ob die Verse 8 und 9 in 1. Johannes 1 auch in dieser Form einen guten Sinn ergeben: „Wenn wir aber sagen, wir verfehlen uns niemals selbst, so betrügen wir uns selbst, und die Wahrheit ist nicht in uns. Wenn wir aber unsere Selbstverfehlung, die eigenen Verletzungen und die anderer erkennen und bekennen, so stehen wir wieder in Gottes ungetrübtem Licht und unsere Schatten ziehen uns nicht mehr hinab ins Dunkle.“

Ja, in der Bitte um Vergebung nehmen wir wieder Verbindung auf zu dem ganz Anderen - und schon das ändert unsere Perspektive; aus dem tödlichen Gegensatz wird wieder ein hilfreiches Gegenüber. Wir nehmen wahr, daß wir unter einem Licht, dem Licht Gottes stehen. So geben wir Gott die Ehre, und Wahrheit leuchtet auf in unserem Leben. Wir sind in seinem Wort, d. h. in Jesus Christus, der der Mittler, der Lichtträger, der Fürsprecher ist. Der Fürsprecher - wie wir niemals nur von dem Eigenen, sondern stets von der Fürsprache, dem Für-uns-Sein anderer existieren. Das zu übersehen hieße, die Augen vor der Wirklichkeit zu verschließen. Der Autor des 1. Johannesbriefs nennt es sogar „Lüge“.

Die Kernbotschaft von 1. Johannes 1 ist längst klar geworden: Wahre Gotteserkenntnis führt in echte Menschenliebe. Weil wir auch darin immer wieder auf halber Strecke stehenbleiben und oft in ganz finsteren Gegenden landen, brauchen wir die Rückwendung ins Licht, in dem keine Finsternis ist. Wir brauchen die Versöhnung. Der Autor des 1. Johannesbriefes ist weit entfernt davon, die gegnerischen Gnostiker zu verteufeln und die Christen zu bejubeln. Wie Jesus die Versöhnung ... für die ... ganze(.) Welt ist, so brauchen ihn alle als Fürsprecher - auch die, die sich treu zur Gemeinde halten. Sie sind ja nichts anderes als Sünder und Gerechte zugleich: geliebte Sünder. Es gibt noch Finsternis, auch und gerade in der Kirche selbst; aber den Kampf hat ein anderer schon für sie gewonnen.

Also vollenden auch nicht wir eine etwa unvollkommene Gottesliebe. Vielmehr schließt Gott selbst, der in der Hingabe Jesu Christi seine Liebe als vollkommen erwiesen hat, uns in die Vollendung seiner Liebe mit ein, indem er uns sein Wort zu halten gebietet. Darum gilt: Der Weg zu echter Menschenliebe - das sind die Gebote, die Zehn Worte Gottes. Sie sind es nicht als Einzelgebote. Damit entziehen sie sich auch jeder Bewertung, das eine Gebot sei wichtiger als das andere. Sie sind alle gleich wichtig. Denn jedes von ihnen gibt Gottes Lebensweisung weiter, das Lebensangebot aus dem Licht heraus. Keines von ihnen bedeutet eine „Mißbilligung des Menschlichen“. Denn bei jedem Gebot geht es um genau den Schutz, den jeder Mensch in Anspruch nehmen möchte, um ein Leben in Freiheit führen zu können; also geht es um Billigung, um Anerkennung des Menschlichen. Die Gebote sind wirklich ein Lebensangebot, eine Einladung zum Leben.

Zudem begründet das erste Gebot Ich bin der Herr, dein Gott; du sollst keine anderen Götter haben neben mir wie nichts sonst auf der Welt die Aufklärung. Denn aufgeklärt ist doch erst, wer zwischen Schöpfer und Geschöpf zu unterscheiden weiß und die Gefahr klar erkennt, wie schnell sich ein Mensch zu einem Herrn, einem Gott über andere machen kann. Der Übermensch aber, das zeigt sich immer wieder, ist der Unmensch. Darum hat der Autor des 1. Johannesbriefes schon Recht, wenn er die Gebote in einem Atemzug mit Licht, Liebe und Wahrheit nennt.

Licht kann auch blenden, einen schönen Schein vortäuschen. Im Halten der Gebote aber wird die Hinwendung zum Leben, der Respekt vor dem Menschlichen, der Anspruch auf Humanität ganz konkret. Gerhard Schulze sucht am Ende seines Buches nach den „ergreifenden Metaphern“ für eine „gereifte Moderne“, die der Suggestivkraft „magischer Glaubensbekenntnisse“ widersteht, auch „wenn die Rhetorik metaphysischer Empfindsamkeit schweigt“. Und ich denke, er meint, sie dürfe um der Aufklärung willen auch nicht wiederbelebt werden. Seine eigene Antwort lautet: „Es bleibt das Diesseits und sonst nichts: Oberfläche, Sinneseindruck, Begegnung mit dem Konkreten. Was bleibt ist das Leben ohne Todsünden. Was bleibt ist das irdische Glück.“ (S. 262)

Ja doch, nehmen wir von den „Todsünden“ endgültig Abschied! Sie waren ein Irrweg und haben ohnehin nur verdunkelt, was „Sünde“ wirklich ist: der Bruch, das Scheitern, das Verfehlen der eigenen Existenz, die freilich immer das Gegenüber braucht. Verschwindet nicht gerade dort, wo diese Dimension vergessen, verleugnet wird, das konkret Menschliche, der Mensch als das „krumme Holz“, der er nach Kant nun einmal ist? Wer da kein Gebot und keine Vergebung als das Licht Gottes über und in seinem Leben mehr kennt, wird - so befürchte ich - alsbald aufwachen in der Nacht menschlicher Selbstmanipulation und Selbstamputation, die ihn zurechttrimmt, zuschneidet auf das „Projekt schönen Lebens“. Ob das dann wirklich „schön“ ist?! Oder ob, wer in <Gott> bleibt und damit auch die Differenz, die „Sünde“ wahrnimmt, aber doch zu leben versucht, wie <Jesus Christus> gelebt hat (2,6), von einem helleren, wärmeren, dauerhafteren Licht beschienen wird und am Ende ein tieferes Glück erlebt, als in dem Wort „Glück“ ausgedrückt werden kann? Ich weiß, daß auch „Liebe“ eine Metapher, ein Bild ist. Aber wenn sie ein Bild für die unvergleichliche Selbsthingabe Jesu Christi ist, dann weiß ich mich wirklich „vorweggenommen in ein Haus aus Licht“. Amen.

Hans Joachim Schliep
Pastor am Ev. Kirchenzentrum
Kronsberg in Hannover
(EXPO-Neubaugebiet)
E-Mail: Hans-Joachim.Schliep@evlka.de

 


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