Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: C. Dinkel und I. Karle

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4. Sonntag nach Trinitatis, 9. Juli 2006
Predigt zu 1. Petrus 3, 8-15, verfasst von Elisabet Mester
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


(Gute-Nachricht-Übersetzung)

8 Euch allen schließlich sage ich: Haltet in derselben Gesinnung zusammen und habt Mitgefühl füreinander! Liebt euch gegenseitig als Brüder und Schwestern! Seid gütig und zuvorkommend zueinander!
9 Vergeltet Böses nicht mit Bösem, und gebt Beleidigungen nicht wieder zurück! Im Gegenteil, segnet eure Beleidiger, denn Gott hat euch dazu berufen, seinen Segen zu empfangen.
10 Ihr wisst ja:
»Wer nach dem wahren Leben verlangt
und glückliche Tage sehen will,
der nehme seine Zunge gut in Acht,
dass er nichts Schlechtes und Hinterhältiges sagt.
11 Er kehre sich vom Bösen ab und tue das Gute.
Er mühe sich mit ganzer Kraft darum,
mit allen Menschen in Frieden zu leben.
12 Denn der Herr hat ein offenes Auge für die,
die das Rechte tun,
und ein offenes Ohr für ihre Bitten.
Aber er wendet sich gegen alle, die Böses tun.«
13 Kann euch überhaupt jemand Böses antun, wenn ihr euch mit ganzer Hingabe darum bemüht, das Gute zu tun?
14 Wenn ihr aber trotzdem leiden müsst, weil ihr tut, was Gott will, dann dürft ihr euch glücklich preisen. Habt keine Angst vor Menschen; lasst euch nicht erschrecken!
15 Christus allein ist der Herr; haltet ihn heilig in euren Herzen und weicht vor niemand zurück!

„Mama!“, sagte meine Tochter. „Wir sind auf dem Weg zur Schule. Wir sind hier nicht im Krieg!“ Ich konnte sie im Rückspiegel sehen. Sie hielt den Ranzen fest auf dem Schoß und guckte ärgerlich zu mir nach vorn.

„Was hab ich denn nun wieder gemacht?“, fragte ich in ihre Richtung.

„Gemacht, na ja“, erwiderte sie. „Aber gesagt.“ – „Ich hab doch seit zwei Minuten gar nichts gesagt!“, meinte ich. „Doch“, sagte meine Tochter. „Du hast ‚Trödelheini’ gerufen und ‚Treckerfahrer’, ‚Traumtänzer’ und ‚Tüdeltante’. Du hast zu dem einen gesagt: ’Hier ist asphaltiert, wir sind nicht auf dem Feldweg!’, und zu dem anderen ‚Schlaf doch zuhause aus, wenn du noch nicht wach bist!’.“ – „Die können mich doch alle gar nicht hören“, wandte ich entschuldigend ein. “Das ist aber auch gut so“, tönte es von der Rückbank. „Außerdem hast du heute wieder kein Benzin gespart. Du musst früher rauf schalten und nicht so doll Gas geben.“

Ich war für den Rest der Reise still. Es dauert nur fünf Minuten bis zur Schule. „Wir sind hier nicht im Krieg!“. Das hatte mich sehr erschreckt. Bin ich wirklich so aggressiv beim Autofahren?
Anscheinend schon. Kindermund tut Wahrheit kund.
Aber warum bin ich so kriegerisch?
Mit sich selbst ehrlich zu sein, das ist die beste Voraussetzung dafür, zum Frieden zu finden.
Mit sich selbst ehrlich zu sein, das allerdings ist gar nicht so leicht.

In mir gibt es viele Zwiespältigkeiten. Manches sehe ich so, aber gleichzeitig auch so – obwohl das beides nicht zusammen passt. Deshalb merke ich meistens nur eine Seite davon – eben die, die gerade stärker ist. Das ist so bei Ambivalenzen. Wie zwei Seiten einer Medaille erscheinen sie. Nur, wer sehr ehrlich ist mit sich selbst, wird die andere, gerade verborgene Seite seiner zwiespältigen Haltung auch erkennen und berücksichtigen können, wenn die eine gerade oben liegt.

In mir gibt es auch manches, das mir ziemlich unangenehm ist. Es stört das Bild, das ich von mir selbst habe, ganz empfindlich: „Ich bin doch ein ganz vernünftiger und verträglicher Mensch. Ich bin nicht kriegerisch. Gewiss nicht. Da kann es also gar nicht sein, dass ich so aggressiv bin beim Autofahren. Ist doch klar.“ Jeder hat in sich verborgene Motive für das, was er tut: Gründe, die zwar wichtig, aber für einen selbst (oder erst recht: vor anderen) doch irgendwie peinlich sind. „Ich will mich durchsetzen“ oder „Ich bin aber stärker als du“, das können solche Beweggründe sein. Man muss sich selbst sehr gut kennen, um so einen Antrieb für das eigene Tun zu bemerken und gelten zu lassen. Wer sich traut, ehrlich zu sein, der versteht mit der Zeit die Motive für sein Handeln. Sie haben ihr Recht, ja, ihr gutes Recht. Das tun zu können, was man für erforderlich hält, das ist eine gute Sache. Es muss nicht heißen, dass man mit angespitzten Ellenbogen durch Leben geht und rücksichtslos wird gegen andere. Jedenfalls nicht dann, wenn man von sich selber weiß: Ich will stark sein. Gerade diejenigen, die das, was sie antreibt, nicht vor sich selbst verbergen, habe die Chance, gut umzugehen mit sich und mit anderen. Wissen, was man will. Das ist wichtig.

Auch wissen, was man nicht will, es gehört dazu. Viele von uns hegen geheime Vorbehalte und haben in ihrem Herzen Einsprüche gegen bestimmte Dinge aufbewahrt. „Das macht man nicht“, „Das darf ja wohl nicht wahr sein“, oder auch: „Das soll mir nie wieder passieren!“ – solche Veto-Stimmen können einem das Leben sehr schwer machen. Denn wer immer wieder damit beschäftigt ist, bestimmte Dinge zu vermeiden, ist einer, der über-lebt, und das heißt, dass er nicht richtig lebt.

Es kommt hinzu, dass Dinge, die verhindert werden sollen, umso häufiger eintreffen. Der Versuch, etwas Bestimmtes zu umgehen, wirkt oftmals wie ein Magnet: er zieht gerade das an, was doch nicht passieren sollte.

Manchmal kommen Menschen zu mir, klagen ihr Leid und fragen dann: „Frau Pastorin, sagen Sie doch, warum passiert mir das immer wieder?“

Es fällt mir schwer, ihnen ehrlich zu sagen, was ich dazu denke: Die Dinge, die wir wegschieben, drängen sich in unser Leben, und das, vor dem wir davon laufen, verfolgt uns.

Ehrlich mit sich selbst zu sein, das ist das Einzige, was hilft. Sich aufrichtig zu fragen: was schiebe ich hier eigentlich immer weg? Warum meine ich, dies oder das dürfte auf keinen Fall geschehen? Bin ich so gekränkt, dass ich verzweifelt versuche, an bestimmten Stellen erneute Verletzungen zu verhindern?

Wer ehrlich mit der eigenen Person sein will, der sollte als erstes damit beginnen, auch freundlich mit sich selber umzugehen. Sonst wird sich sein Inneres dagegen wehren, ihm die Antworten, die er sucht, so aufrichtig zu geben, wie es nötig ist.

Ich denke, es wäre gut, zu Beginn einmal alle Erinnerungen, alle inneren Einstellungen und alle Beweggründe der Seele liebevoll so anzusprechen: „Euch allen schließlich sage ich: Haltet in derselben Gesinnung zusammen und habt Mitgefühl füreinander! Liebt euch gegenseitig als Brüder und Schwestern! Seid gütig und zuvorkommend zueinander!“

Denn die Zwiespalte und Motive, die Vermeidungen und Kränkungen, die müssen sich zunächst einmal kennen und verstehen lernen. Womöglich waren sie es gewohnt, sich gegenseitig in die Ecke zu stellen und einander Vorwürfe zu machen. Vielleicht könnte man ihnen mal aufmunternd zusprechen und sagen: „Vergeltet Böses nicht mit Bösem, und gebt Beleidigungen nicht wieder zurück! Im Gegenteil, segnet eure Beleidiger, denn Gott hat euch dazu berufen, seinen Segen zu empfangen.“ Nichts ist überflüssig, was die Seele aufbewahrt, und alles, was darin vorkommt, hat sein Recht – oder doch zumindest einmal sein Recht gehabt. Es mag sein, dass manches große „Nie wieder!“ heute überflüssig geworden ist. Dann kann man sich dafür bedanken, dass es seinen Dienst getan, seine Zweck erfüllt hat, und es freundlich verabschieden.

Wer der Wahrheit des eigenen Lebens näher kommen will, wird das erreichen, wenn er gelten lässt, ja, annimmt, was da ist in ihm. Wer eine solche Haltung sich selbst gegenüber einnimmt, dem wird es auch leichter fallen, sich annehmen zu lassen von Gott. „Erforsche mich, Gott, und erkenne mein Herz; prüfe mich und erkenne, wie ich’s meine“ (Ps. 139, 23) – so haben wir zu Beginn des Gottesdiensts gesprochen. Denn Gott unterstützt uns in unserer Selbsterkenntnis. Er hilft uns, aufrichtig zu sein mit unseren Fehlern und Schwächen und das zu werden, was man früher „demütig“ nannte. „Hilfreich sich selbst und anderen gegenüber“, so würde ich diese Haltung nennen. Sie erfordert zunächst einmal viel Mut, die Demut.

In der Begegnung mit dem wahren Gott können wir es lernen, wahrhaftig zu uns selbst zu sein und wahres Leben zu finden.

„Ihr wisst ja: »Wer nach dem wahren Leben verlangt und glückliche Tage sehen will, der nehme seine Zunge gut in Acht, dass er nichts Schlechtes und Hinterhältiges sagt.«“

Wer seine Zunge hüten will, dass sie nichts Falsches sagt, der wird als erstes sein Herz im Auge behalten. Wenn ich aufrichtig und redlich mit mir selber bin, wird mein Mund nicht unbedacht lügen. Die meisten Leute, die lügen, sind nämlich in dem Moment, wo sie die Unwahrheit sagen, innerlich fest davon überzeugt, dass das stimmt, was sie sagen. Sie machen sich selbst etwas vor, und das ist das Problem.

Sich selbst nichts vorzumachen, wahrhaftig mit sich umzugehen, das ist darum der erste und wichtigste Schritt zur Wahrheit. Es ist ein Weg, den wir gehen können; ein Weg, zu dem Gott uns einlädt: „Erforsche mich, Gott, und erkenne mein Herz; prüfe mich und erkenne, wie ich’s meine. Und sieh, ob ich auf bösem Wege bin, und leite mich auf ewigem Wege.“

Ein Weg mit Gott: Sich in seiner Gegenwart selbst begegnen, sich der eigenen Person zu stellen, in Gottes Angesicht. Nicht weglaufen, sondern bewusst gehen, Schritt für Schritt, mit seiner Hilfe, das ist gut. Es ist „wahres Leben“. Die echten und ursprünglichen Gefühle erfahren, die tiefste Sehnsucht erkennen, die wirklichen Bedürfnisse, die argen Nöte wahrnehmen in der eigenen Seele, das alles gehört dazu.

Da, wo wir unseren eigenen Schwächen begegnen, wird Gottes Liebe in uns stark. Das klingt widersprüchlich, und es ist wahr. Eine Erfahrung, die jeder Christenmensch macht auf seinem Weg des Wachsens. „Darum bin ich guten Mutes in Schwachheit (...) um Christi Willen; denn wenn ich schwach bin, so bin ich stark.“ (2 Kor 12, 10) – so hat Paulus das in Worte gefasst.

Schwach sein dürfen. In Gottes guter Gegenwart vorkommen dürfen, wie ich bin. Selbsterkenntnis gewinnen, Trost erfahren, Hilfe bekommen – das tut gut.

Was mir gut tut, hilft mir auch wieder, Gutes zu tun.

„Haltet in derselben Gesinnung zusammen und habt Mitgefühl füreinander! Liebt euch gegenseitig als Brüder und Schwestern! Seid gütig und zuvorkommend zueinander!“ Wenn ich das zu mir selber sagen kann, kann ich es auch auf andere anwenden. Freundlich zu den Mitmenschen zu sein – für den, der gelernt hat, mit sich selbst freundlich umzugehen, ist das nicht mehr allzu schwer. Denn wer sich mit sich selbst verträgt, kann sich auch mit anderen vertragen. „Er kehre sich vom Bösen ab und tue das Gute. Er mühe sich mit ganzer Kraft darum, mit allen Menschen in Frieden zu leben.“ Womöglich braucht es dann gar nicht mehr so viel Kraft, um Gutes zu tun und Frieden zu halten. „Denn der Herr hat ein offenes Auge für die, die das Rechte tun, und ein offenes Ohr für ihre Bitten.“

Amen.

Elisabet Mester
Anna-von-Borries-Straße 5
30625 Hannover
Tel.: 0511/5354119
E-Mail: mester@annastift.de


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