Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: C. Dinkel und I. Karle

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5. Sonntag nach Trinitatis, 16. Juli 2006
Predigt zu Genesis 12, 1-4, verfasst von Jochen Cornelius-Bundschuh
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Und der HERR sprach zu Abram: Geh aus deinem Vaterland und von deiner Verwandtschaft und aus deines Vaters Haus in ein Land, das ich dir zeigen will. 2Und ich will dich zum großen Volk machen und will dich segnen und dir einen großen Namen machen, und du sollst ein Segen sein. 3Ich will segnen, die dich segnen, und verfluchen, die dich verfluchen; und in dir sollen gesegnet werden alle Geschlechter auf Erden. 4Da zog Abram aus, wie der HERR zu ihm gesagt hatte, und Lot zog mit ihm. Abram aber war fünfundsiebzig Jahre alt, als er aus Haran zog.

Es war bei einem Vorgespräch für eine Goldene Hochzeit! „Ich wollte schon als junge Frau eigentlich gerne in eine große Stadt ziehen, vielleicht sogar ins Ausland!“, sagt die 73jährige Ehefrau. „Aber dass wir jetzt noch einmal losziehen, das hätte ich nicht gedacht.“ Der Ehemann nickt: „Ja, wir haben es schön hier. Das eigene Haus; der Garten; die Nachbarschaft ist gut; wir haben viele befreundete Ehepaare. Seit fünfzehn Jahren genießen wir jetzt schon meinen Ruhestand. Der Abschied wird uns schwer fallen.“

Zwei Wochen nach der Goldenen Hochzeit wird der Möbelwagen kommen. Das Ehepaar bricht noch einmal auf! Der Schritt fällt ihnen nicht leicht! Sie ziehen in die Schweiz. In eine Wohnung – ohne Garten. Sie kennen dort niemanden, außer der Enkeltochter und dem kleinen Urenkel. Ein großer Aufbruch. Ein Wagnis!

I

So ähnlich stelle ich mir die Situation von Abram und Sara vor. Schon ergraut, aber noch gesund und guter Dinge. Allerdings ohne Kinder und Enkelkinder. Fest verwurzelt in ihrem Heimatland hören die beiden den Ruf Gottes: „Geh aus deinem Vaterland und von deiner Verwandtschaft und aus deines Vaters Haus in ein Land, das ich dir zeigen will.“

Statt die Ruhe zu genießen, sollen sie noch einmal aufbrechen. Statt bei denen zu bleiben, an die sie sich gewöhnt haben, sollen sie neuen Menschen begegnen. Ein neues Land und eine neue Kultur kennen lernen. Statt dort zu bleiben, wo sie sich sicher fühlen, weil sie alles kennen, auch die Schwächen und Macken der anderen, sollen sie den Verheißungen Gottes trauen. Statt den Spatz fest in der Hand zu halten, sich nach der Taube strecken.

Eine ungewöhnliche Szene: Alte Menschen brechen auf. Dass junge Leute einmal das Dorf, die Stadt, in denen sie groß geworden sind, verlassen, das kennen wir. Das scheint uns sinnvoll! Etwas Neues sehen, sich neu orientieren, neue Erfahrungen machen! Daran wachsen Menschen, so werden Menschen erwachsen. Aber Abram und Sara oder das Jubelpaar nach der Goldenen Hochzeit – mit Mitte 70 sich noch einmal auf den Weg machen? Eine ungewöhnliche Vorstellung!

II

Warum brechen Menschen im hohen Alter auf?

Als erstes fallen mir dazu Geschichten und Bilder von Flüchtlingen ein. Erschöpfte und entwurzelte alte Menschen nach ihrer Flucht vor den Nazis. Alte Frauen und Männer auf Karren – vertrieben aus ihren Heimatorten in Ostpreußen. Bilder aus dem Sudan: Kinder und Alte, die nicht mehr können und auf der Flucht zusammenbrechen. Von all dem ist hier nicht die Rede.

Auch nicht von den alten Menschen, die ihr Haus verlassen müssen, weil sie aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr selbständig leben können. Oder weil sie ihr Haus oder ihre Wohnung nicht mehr bezahlen können, weil die Rente nicht mehr steigt, aber die Miete und die Lebenshaltungskosten höher werden. Auch das trifft weder bei Abraham und Sara noch bei dem Ehepaar zu.

Schließlich gibt es lange ersehnte Aufbrüche: nach der Rente ziehen wir nach Mallorca! Da ist es warm; da können wir unseren Ruhestand genießen.

Sara und Abram brechen aus einem anderen Grund auf: Sie fühlen sich herausgerufen. Und sie nehmen diesen Aufruf an! Sie wären nicht von selber auf die Idee gekommen, die Heimat zu verlassen. Es hat sie auch kein Mensch gezwungen. Nein, sie hören einen Ruf, Gottes Ruf. „Ich will euch zum großen Volk machen und will euch segnen und euch einen großen Namen machen.“

Drei Verheißungen stehen über diesem Aufbruch:
1. Ich will dich zum großen Volk machen: Abrams und Saras Not, ihre Kinderlosigkeit wird ein Ende haben! Sie werden Kinder und Enkelkinder bekommen und sich daran freuen. Die Generationenfolge wird weitergehen. Das Leben hört nicht mit ihnen beiden auf.
2. Ich will euch segnen! Das Leben wird reich sein und schön. Neue Begegnungen verspricht Gott, Glück und Zufriedenheit. Macht euch auf den Weg der Verheißung, ruft Gott Abram und Sara zu, ihr werdet euren Frieden finden.
3. Ich will euch einen großen Namen machen. Was ihr tut, wird ins Gedächtnis der Menschen eingeschrieben. Es ist gut, es ist wichtig! Ihr seid ein wichtiges Teil der Geschichte Gottes mit seinem Volk!
Also macht euch auf! Und: Seid ein Segen!

III

Damit bin ich wieder bei dem Paar, das seine Goldene Hochzeit feiert. Die Enkeltochter hat sich von ihrem Mann getrennt. Sie hat ein kleines Kind und eine schöne Stelle in Basel. Was soll nun werden?

Seid ein Segen! Die beiden 70jährigen haben diesen Satz mit offenen Ohren und offenen Herzen gehört. Sie sind bereit aufzubrechen, um von dem Segen weiterzugeben, den sie selbst geschenkt bekommen haben: Kinder, Enkelkinder und einen Urenkel. Glück und Zufriedenheit. Ein gutes Auskommen. 50 Jahre Ehe, eine lange gemeinsame und befriedigende Zeit.

„Warum klagen wir darüber, dass immer mehr Menschen immer älter werden, Herr Pfarrer?“ sagt der Ehemann. „Und dass wir dann zum alten Eisen geworfen werden. Es gibt doch so viele Herausforderungen. Wir ziehen jetzt nach Basel und tun, was wir können. Kinderwagen schieben, ein bisschen Haushalt, eine neue Stadt kennen lernen, eine neue Kirchengemeinde.“

Ganz überzeugt wirken die beiden von ihrem Weg. Sie verlassen sich darauf, dass Gott mitgeht. Dass Gott ihnen die Kraft schenkt, noch einmal neue Freundschaften zu schließen. Dass Gott sie noch eine Weile gesund erhält, um helfen zu können. Dass Gott sie wieder eine Heimat finden lässt.

IV

Andererseits sind die beiden nicht unrealistisch oder naiv. „Wir haben unserer Enkelin gesagt: wir sind nicht unsterblich! Stell dir vor, einer von uns oder gar wir beide werden krank. Dann werden wir dir eher Last als Hilfe“, erzählt die Frau. Und der Mann ergänzt: „ich weiß nicht, ob das eine Erfolgsstory wird! Stellen Sie sich nur vor, wir vertragen uns gar nicht so gut, wie wir aus der Entfernung immer gedacht haben.“

Die Enkelin hat gelassen reagiert: „Ihr kommt ja nicht, um meine Probleme zu lösen. Es gibt einen Kindergarten. Ihr habt eure Wohnung und ich meine. Wir müssen nicht immer aufeinander hocken. Aber es ist gut, wenn ihr da seid! Dann ist da jemand, auf den ich mich verlassen kann. Und wenn ihr krank werdet, dann werden wir sehen, dann will ich meinen Teil dazu beitragen, dass das Band der Generationen hält.“

V

Der Aufbruch ist kein Allheilmittel und keine Erfolgsstory! Er bleibt ein Aufbruch ins Ungewisse.

Saras und Abrams Weg aus Haran nach Kanaan ins gelobte Land ist nicht eben gewesen ist: Zuerst wollte sich doch kein Nachwuchs einstellen. Dann hat Abram ein Kind von einer anderen Frau bekommen. Schließlich wurde Isaak geboren, der einzige Sohn, doch kurze Zeit später sollen sie ihn wieder an Gott zurückgeben. Das sichere Land, die endgültige Ruhe, sie blieb auch eine Hoffnung. Sie wohnten in dem neuen Land, doch es war nicht ihr Land! Es war und blieb ein Aufbruch ins Ungewisse, keine Erfolgsstory. Doch Gott war immer dabei. Das ist die Erfahrung von Sara und Abram.

Gott ist immer dabei! Das ist auch der Glaube des Paares, das mit Mitte 70 noch einmal aufbricht. Gott geht mit. Auch auf ungewissen Wegen. Sein Segen macht Mut und trägt. Gerade auch, wenn das Alter keinen Aufbruch mehr zulässt. Wenn die Tatkraft nachlässt, wenn die Hilfe brauchen, die eigentlich helfen wollten. Gott geht mit. Als Schöpfer, der dem Alter seine eigene Kraft gegeben hat, als Erlöser, der Krankheit und Tod überwunden hat, als Geisteskraft, die es ermöglicht, dass alte Menschen noch einmal neu geboren werden, sich herausrufen lassen und aufbrechen.

Und dankbar für den Segen Gottes selbst zum Segen zu werden.

Amen.

Direktor Priv.-Doz. Dr. Jochen Cornelius-Bundschuh
Evangelisches Predigerseminar
der Ev. Kirche von Kurhessen-Waldeck
Gesundbrunnen 10
34369 Hofgeismar
05671-881271
e-mail: cornelius-bundschuh@ekkw.de


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