Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: C. Dinkel und I. Karle

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6. Sonntag nach Trinitatis, 23. Juli 2006
Predigt zu Matthäus 19,16-26, verfasst von Lars Ole Gjesing (Dänemark)
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Es ist eine herrliche Sammlung von ganz wesentlichen Bibeltexten, die für den heutigen Sonntag bestimmt sind. Insgesamt sind sie geeignet, etwas über das Grundlegende in der Art und Weise zu sagen, wie das Christentum die Welt sieht.

Das kommt daher, dass die Frage, die der Mann an Jesus richtet, die grundlegende Frage der Menschheit zu allen Zeiten ist, die Frage nach dem Sinn des Daseins. Er formuliert sie auf seine Weise, wie man es innerhalb eines jüdischen Horizonts tat, wenn er fragt, was er Gutes tun soll, um das ewige Leben zu haben. Aber der Sinn ist derselbe: Womit soll man sein Dasein füllen? Worauf kommt es im Leben an? Wie ist ein gutes, ein eigentliches Leben?

Die Antwort Jesu lautet, dass der Mann die Gebote halten soll. Das ist natürlich die Antwort, die der Grund dafür ist, dass der Text aus dem 2. Buch Moses, wo die Zehn Gebote stehen, heute auch gelesen worden ist, und Jesus zitiert zum Überfluss auch noch einige Gebote.

Und jetzt lauern alle die alten Missverständnisse im Hintergrund: Dass das Christentum darin bestehe, dass es eine Reihe Gebote gibt, von denen ein Gott sich aus irgendeinem unfasslichen Grunde in den Kopf gesetzt hat, die Menschen sollten sie einhalten. Und täten sie das, hätten sie das Wohlwollen Gottes und würden erlöst, täten sie es nicht, wären sie verloren. Basta.

Das hat nichts mit Christentum zu tun. Es ist vielmehr genau die Form von verwurzelter alter Religion, mit der das Christentum Schluss macht.

Wir wollen mit den Geboten anfangen. Wenn sie noch immer eine Rolle spielen und in Katechismen und Konfirmandenstunden vorkommen, hat das seinen Grund darin, dass Jesus sich eingehend mit ihnen befasst und sie ausgelegt hat – vor allem in der Bergpredigt, als den Versuch eines bestimmten Volkes, zu sagen, wie man es in der Praxis anstellt, Gott und seinen Nächsten zu lieben. Das ist die Auslegung, die Jesus von allen Geboten gibt – auch im heutigen Text, wenn man genau hinschaut. Die Zehn Gebote sind keine zufälligen, unverständlichen Gebote, die der Herr aus unerforschlichen Gründen sich hat einfallen lassen, sondern sie sind ein begabter 3000 Jahre alter Gedanke, was man zu tun hat, wenn man Gott und seinen Nächsten lieben will.

Um nur ein Beispiel zu geben. Das Gebot, den Ruhetag zu heiligen. Es gibt Leute, die ganz oberflächlich sagen: Warum in aller Welt darf man am Sonntag nicht arbeiten? Was geschähe, wenn man nun Lust dazu hätte? Können wir das nicht selbst entscheiden?

Genau! Das können wir. Wenn man genau zuhört, wie das Gebot vom Ruhetag im 2. Buch Moses entwickelt wird, dann entdeckt man, dass es ein Gebot an den erwachsenen israelitischen Mann ist, an den, der Hausherr ist und Frau und Kinder und Diener und Sklaven und Haustiere unter sich hat. Er ist es, der zu wissen bekommt, dass man seine Ausnutzung der Untergebenen einschränken soll. Mindestens jeden siebten Tag sollen sie für sich haben, an diesen Tagen kann man sie nicht auf Arbeit schicken, sie sollen das Leben genießen und über sich selbst bestimmen können. Das Gebot ist also ein Gebot, das den Schwachen in der Gesellschaft schützt. Es ist ein Liebesgebot. Entsprechendes gilt von all den anderen Geboten, wenn man sich ein wenig in sie vertieft und sie von ihrer Absicht her versteht. Und so werden sie überall von Jesus ausgelegt und verstanden.

Das heißt: wenn ein Mann kommt und Jesus fragt, was er mit seinem Leben tun soll, dann antwortet Jesus, dass er Gott und seinen Nächsten lieben soll.

Und aus allem, was diese Antwort umgibt, aus seinen Gleichnissen und allen seinen Auseinandersetzungen mit seiner Zeit geht hervor, dass diese Antwort keine zufällige Antwort ist. Das Gebot der Liebe ist nicht aus der Luft gegriffen. Es kommt daher, dass jeder Mensch sein Leben und seine Welt aus der Liebe Gottes empfangen hat. Die kleinen Kinder werden geboren mit allen Sinnen und der Liebe ihrer Eltern – zu einem blauen Himmel und grünem Gras und allem, was das Menschenleben an Herrlichkeit und Möglichkeiten zu bieten hat, ohne auch nur im Geringsten etwas dafür gegeben zu haben. Es gibt nur eine Art und Weise, darauf zu antworten: indem man wieder liebt.

Ist das dann Christentum? Jetzt haben wir erst einmal die alte Gesetzesreligion beiseite geräumt. Ist es dann Christentum, von der Tatsache auszugehen, dass aller Segen des Daseins ein Geschenk ist, das zu beantworten ist, indem wir uns bemühen, von dem Segen weiterzugeben an einen jeden, dem wir begegnen?

Nein! Das ist noch nicht Christentum (oder christlicher Glaube).

Aber es ist trotzdem wahr. Für das Christentum ist es kein besonderer Glaube. Es ist am ehesten eine Selbstverständlichkeit, eine natürliche Voraussetzung.

Wenn das Menschenleben so gesegnet ist mit Mitmenschen, mit zwei Geschlechtern, mit Gesang und Musik, mit Kindern und Eltern, mit Land und Meer und Geschichte und schönen Städten und Sternenhimmel, dann geht kein Weg darum herum, sein Leben darauf zu verwenden, dass man von dem Segen weitergibt an jeden, der weniger bekommen hat. Dann ist die Liebe der Sinn des Daseins.

Aber wie gesagt: Das ist es noch nicht, was den christlichen Glauben ausmacht. Sondern für den christlichen Glauben ist es eine völlige Selbstverständlichkeit. Anders kann das Dasein in seinem Grunde nicht zusammenhängen. Das ist kein Glaube. Es ist eine einleuchtende Grundlage für den Glauben. Dass das Leben das Leben kostet. Wir haben es erhalten, um es wegzugeben.

Es ist bemerkenswert, dass der Mann, der mit seiner Frage zu Jesus kommt, insoweit auch einig ist. Darüber sollte man sich nicht streiten können.

Der Christusglaube kommt im Grunde erst mit dem nächsten Schritt. Denn das, was so selbstverständlich und einleuchtend ist, dass der Segen, in den wir hineingeboren sind, noch mehr Segen hervorbringen sollte, so dass das Glück nur wächst – dies, das so einleuchtend sein sollte, tritt nicht ein. Oder jedenfalls: es trifft zu selten ein.

In dieser Geschichte z.B. hat der sonst so kluge Mann eine so große Liebe zu seinem Vermögen, dass er nicht zu der Freigebigkeit imstande ist, zu der ihn das Dasein auffordert.

Und er ist nicht der Einzige. Was so selbstverständlich ist: dass wir die Liebe, in die wir hineingeboren sind, mit neuer Liebe beantworten, geschieht nur allzu selten. Die Neigung, von dem Segen an sich zu raffen anstatt davon auszuteilen, ist unwahrscheinlich groß und destruktiv. Das ist unser Anteil daran, und der ist massiv.

Aber der selbstverständliche Kreislauf des Segens wird auch von anderem unterbrochen als von der Hartherzigkeit von Menschen – nämlich von dem Teil der Natur, der Krankheit, Entkräftung, Tod heißt. Der Segen im Dasein verschwindet manchmal von selbst – oder große Teile davon – ohne dass jemand die Schuld daran trüge, indem wir von irgendeinem Unglück getroffen werden und einander früher oder später verlieren. Und wenn man an diese Tatsache denkt, kann man dahin gelangen, zu behaupten, dass der Kreislauf des Segens gar keine Selbstverständlichkeit ist.

Jesu Antwort darauf ist, dass er Vergebung für die menschliche Bosheit verheißt, so dass der Segen wieder aufgerichtet werden kann, und er verspricht, dass Gott der Vater selbst seinen Segen für alle, die ihn verlieren, wiederherstellen wird. Er will der Entkräftung und dem Tod nicht das letzte Wort lassen. – Auf dieses Versprechen zu vertrauen, ist christlicher Glaube.

Und wenn ihr daran nicht glaubt, weil Jesus es verheißen hat, dann glaubt daran auf Grund all des unwahrscheinlichen Segens, in den ihr hineingeboren seid völlig ohne eigenes Verdienst.

Amen

Pastor Lars Ole Gjesing
Søndergade 43
DK-5970 Æreskøbing
Tel.: +45 62 52 11 72
E-mail: logj@km.dk

Übersetzung aus dem Dänischen: Dietrich Harbsmeier


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