Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, J. Neukirch, C. Dinkel, I. Karle

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7. Sonntag nach Trinitatis, 30. Juli 2006
Predigt über Philipper 2, 1-4, verfasst von Christoph Dinkel
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Liebe Gemeinde,

fromme Wünsche, das sind bekanntlich solche Wünsche, denen fast jeder zustimmen kann, weil sie aus einer christlichen Gesinnung herrühren. Doch haben fromme Wünsche den Nachteil, dass sie kaum in Erfüllung gehen werden. Wer fromme Wünsche hegt und dann auch noch mitteilt, der gerät leicht in den Verdacht, ein wenig einfältig und weltfremd zu sein. Einem hochbetagten Menschen gesteht man fromme Wünsche zu, wenn er an seine Enkel oder Urenkel denkt. Auch frischgebackenen Eltern sieht man sie nach, wenn sie allzu sehr von ihrem wunderbaren Nachwuchs schwärmen. Diejenigen, die schon länger Eltern sind, lächeln dann freundlich, nicken weise den Kopf und denken dabei leise. „Ihr werdet auch noch merken, wie das Leben so spielt und was aus dem süßen Wonneproppen noch alles wird.“

Fromme Wünsche sind eine Sache für sich. Man lässt sie sich lieber nicht nachsagen, wenn man als realistischer Mensch gelten will. Im Allgemeinen sind fromme Wünsche nicht ganz von dieser Welt. Von daher müssen wir heute bei unserem Predigttext genau aufmerken. Denn unser Predigttext liest sich zunächst wie eine Ansammlung frommer Wünsche. In Philipper 2,1-4 schreibt Paulus:

„Ist nun bei euch Ermahnung in Christus, ist Trost der Liebe, ist Gemeinschaft des Geistes, ist herzliche Liebe und Barmherzigkeit, so macht meine Freude dadurch vollkommen, dass ihr eines Sinnes seid, gleiche Liebe habt, einmütig und einträchtig seid. Tut nichts aus Eigennutz oder um eitler Ehre willen, sondern in Demut achte einer den andern höher als sich selbst, und ein jeder sehe nicht auf das Seine, sondern auch auf das, was dem andern dient. (Philipper 2,1-4)

Ja, möchte man dem Apostel Paulus antworten: So soll es sein: herzliche Liebe und Barmherzigkeit sollen unter den Christinnen und Christen herrschen, sie sollen nichts aus Eigennutz oder um eitler Ehre willen tun. Sie sollen nicht auf das ihre sehen, sondern auch auf das, was dem anderen dient. Und das Größte wäre es, auch hier stimmen wir wohl dem Apostel zu, wenn alle Christinnen und Christen eines Sinnes wären, gleiche Liebe hätten und untereinander einmütig und einträchtig wären. Das wäre ein paradiesischer Zustand. Eine solche Gemeinschaft hätte eine bezwingende Ausstrahlung auf ihre Umwelt, der sich wohl nur wenige entziehen könnten.

Sind das alles nur fromme Wünsche, ein wenig irreal und nicht ganz von dieser Welt? So weit wir wissen hat Paulus mit seinen Vorstellungen vom rechten christlichen Leben keinesfalls das blaue vom Himmel herab phantasiert. Natürlich war auch bei den ersten Christen nicht alles so perfekt, wie es sich der Apostel wünscht. In den Briefen des Paulus finden wir zahlreiche Berichte über heftige Konflikte und große Spannungen. Aber vieles, was der Apostel in unserem Predigttext beschreibt, dürfte damals tatsächlich auch Wirklichkeit gewesen sein: Die Armenfürsorge war für damalige Verhältnisse vorbildlich, der Zusammenhalt unter den Gemeindegliedern in aller Regel sehr fest, die Nächstenliebe und auch die Feindesliebe wurde von vielen in hohem Maße ernst genommen. Auch unsere Schriftlesung (Apg. 2, 41-47) bezeugt den hohen ethischen Anspruch der Urchristenheit: Die Gemeinde kam täglich zum Gottesdienst und zum Abendmahl zusammenkam und teilte die Güter untereinander, damit niemand Hunger leiden musste.

Auch das Verhältnis von Frauen und Männern dürfte in vielen urchristlichen Gemeinden nicht nur nach damaligen Maßstäben vorbildlich gewesen sein. Im Galaterbrief formuliert Paulus: „Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus “ (Gal. 3,28) Die in diesem Satz vorgestellte Gleichheit war keinesfalls nur ein frommer Wunsch. Die von Paulus gegründeten urchristlichen Gemeinden nahmen die Gleichheit ihrer Mitglieder ernst. Dies kann man leicht an den Grüßen überprüfen, mit denen Paulus seine Briefe jeweils abschließt. Frauen werden in den Grüßen so prominent wie Männer berücksichtigt. Vor allem das 16. Kapitel des Römerbriefes ist hier aufschlussreich. Von Junia, die er als Stammverwandte und Mitgefangene bezeichnet, sagt Paulus, dass sie als Apostelin berühmt sei und schon vor ihm in Christus war. Voller Respekt sendet Paulus auch Grüße an die uns sonst unbekannten Frauen Tryphäna, Tryphosa und Persis. Er rühmt, wie sie für Christus arbeiten und Persis nennt Paulus gar mit Nachdruck: Persis, meine Liebe.

Nun hat dieser Zustand der Gleichheit zwischen Frauen und Männern in der Christenheit wohl nicht allzu lange angehalten. Schon nach wenigen Jahrzehnten war es möglich, dem Apostel Paulus einige frauenfeindliche Worte zu unterschieben und in seine Briefe einzuschmuggeln. Sie kennen wahrscheinlich den unseligen Satz, dass das Weib in der Gemeinde schweigen solle. Hier hat sich ein Paulusverehrer bemüht, das Rad der Geschichte zurückzudrehen – und über lange Zeit leider auch mit Erfolg. Erst seit wenigen Jahrzehnten können Frauen in der evangelischen Kirche als Pfarrerinnen arbeiten und öffentlich das Evangelium verkündigen. Fast zwei Jahrtausende hat es gedauert, bis wir wieder das Gleichheitsniveau der Urchristenheit erreicht haben – eine Schande für die christlichen Kirchen. Und auf Fortschritte bei der Gleichberechtigung der Frauen warten wir ja bei der römisch-katholischen und bei der orthodoxen Kirche noch immer.

Das Beispiel der Gleichberechtigung von Frauen und Männern in der Kirche kann uns lehren, die hohen Forderungen des Apostel Paulus nicht einfach als weltfremde fromme Wünsche abzutun, sondern sie ernst zu nehmen und nach Kräften in die Wirklichkeit umzusetzen. An vielen Stellen in unserer Gemeinde geschieht dies ja auch, wenn mit großer Treue Kranke besucht und gepflegt werden, wenn Nachbarinnen und Nachbarn einander helfen und beistehen, wenn man versucht, trotz Konflikten friedlich miteinander auszukommen. Das Engagement in Sachen Nächstenliebe ist bei vielen vorbildlich und dies bestätigt noch einmal, dass die hohen Erwartungen des Apostels durchaus von dieser Welt sind.

Einen Punkt möchte ich nun aber herausgreifen, an dem die Sache komplizierter ist. Der höchste Wunsch des Paulus ist, dass die Christinnen und Christen eines Sinnes sind, dass sie gleiche Liebe haben und einmütig und einträchtig sind. Wie verträgt sich diese Erwartung mit der Aufspaltung der Christenheit in verschiedene Konfessionen? Und noch einmal anders gewendet kann man fragen: Müsste das Ziel unserer ökumenischen Bemühungen nicht eine einheitliche, weltweite Kirche sein, zu der sich alle Konfessionen zusammenschließen?

Der Streit zwischen den Konfessionen hat großes Leid über die Christenheit gebracht. Es kommt zwar heute zum Glück nicht mehr zu Ketzerverbrennungen und zu gegenseitigen Verdammungen. Aber bis heute spüren Ehepartner in gemischtkonfessionellen Ehen die Kirchentrennung sehr schmerzlich. Nach offizieller Lehre der katholischen Kirche dürfen protestantische Ehepartner in der Regel nicht mit ihrem katholischen Ehepartner zum katholischen Abendmahl. Zum Glück wird diese Regel meistens missachtet. Aber die offizielle Lehre ist hier weiterhin unerbittlich. Für die katholische Kirche sind wir Protestanten weiterhin Irrende, die nach Rom zurückkehren müssen, bevor man sie zur Eucharistie einlädt. Für die meisten katholischen Bischöfe und für den derzeitigen Papst kann die kirchliche Einheit deshalb nur dadurch herbeigeführt werden, dass der Papst von den Protestanten in irgendeiner Weise anerkannt wird. Die Kircheneinheit muss also irgendeine organisatorische Form annehmen – mit dem Papst an der Spitze.

Hat der Apostel Paulus das gemeint, wenn er forderte: „macht meine Freude dadurch vollkommen, dass ihr eines Sinnes seid, gleiche Liebe habt, einmütig und einträchtig seid“? Die Reformatoren haben den Apostel Paulus anders verstanden als die katholische Kirche. Sie haben ein anderes Modell kirchlicher Einheit entwickelt. Im Augsburgischen Bekenntnis von 1530 haben die Evangelischen dargelegt, dass es für die kirchliche Einheit genüge, wenn man im Verständnis des Evangeliums und in der Praxis von Taufe und Abendmahl übereinstimme. Umgekehrt sei es zur kirchlichen Einheit nicht erforderlich, dass überall dieselben Ordnungen und Zeremonien gelten. Vielmehr sei eine große Vielfalt an Formen und Organisationen möglich (CA VII).

Die Einheit der Kirche und die Einheit der Christenheit ist nach evangelischem Verständnis also keine Sache der einheitlichen Ordnungen, der einheitlichen Kirchenstruktur oder gar einer einheitlichen Kirchenhierarchie. Nichts davon ist für die Kircheneinheit wirklich erforderlich. Die Einheit der Kirche ist eine Einheit im Geist. Diese Einheit ist überall dort verwirklicht, wo der Geist Christi Menschen bewegt und zusammenführt. Wenn Menschen im Verständnis des Evangeliums übereinstimmen und gemeinsam Brot und Wein teilen, dann ist die Einheit der Kirche vollkommen verwirklicht und der fromme Wunsch des Paulus ist tatsächlich in Erfüllung gegangen.

Wenn wir also nachher gemeinsam Abendmahl feiern und dazu wie immer Christen aller Konfessionen eingeladen sind, dann ereignet sich das, was der Apostel von uns fordert. Wir sind eines Sinnes, einmütig und einträchtig. Das heißt nun aber nicht, dass alle Gegensätze zwischen uns aufgehoben sind. Die Einheit des Sinnes bezieht sich nur auf das Verständnis des Evangeliums und auf die Gemeinschaft am Tisch des Herrn. Weder müssen wir alle denselben Geschmack in Fragen der Gottesdienstgestaltung, noch dieselben Vorlieben für Kirchenmusik teilen. Und auch bei politischen oder moralischen Fragen dürften beträchtliche Unterschiede zwischen uns sein, ohne dass dies die Einheit der Gemeinschaft am Tisch des Herrn in Frage stellt.

Die Einheit der Kirche ist eine Einheit im Geist und das heißt, dass sie eine von Christus und nicht von Menschen garantierte Einheit ist. Indem Christus uns an seinen Tisch ruft, stiftet er eine Gemeinschaft über alle trennenden Grenzen hinweg. Christi Nähe, die wir in Brot und Wein erfahren, nimmt uns hinein in die Tischgemeinschaft Jesu, die er mit Sündern und Gerechten zusammen hielt. Wir werden Tischgenossen Gottes und erfahren seine versöhnende, seine stärkende, seine lebensschaffende und segnende Kraft. Die Teilnahme an Gottes Mahl stärkt uns, damit wir neue Menschen werden, die, zur Nächstenliebe befreit, den anderen höher als sich selbst achten können. Gottes Mahl rüstet uns aus mit Kräften aus Gottes kommender Welt und gibt uns den Mut zur Hoffnung, dass die frommen Wünsche des Apostels auch bei uns Wirklichkeit werden. – Amen.

Prof. Dr. Christoph Dinkel
Pfarrer
Gänsheidestraße 29
70184 Stuttgart
E-Mail: dinkel@email.uni-kiel.de
Internet: http://www.uni-kiel.de/fak/theol/personen/dinkel.shtml

 


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