Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, J. Neukirch, C. Dinkel, I. Karle

Spenden Sie dem Förderverein Göttinger Predigten im Internet e.V.
für die Fortführung seiner Arbeit!

9. Sonntag nach Trinitatis, 13. August 2006
Predigt zu Jeremia 1, 4-10, verfasst von Thomas und Margarete Oesterle
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Der heutige Predigttext erzählt die Berufung des Jeremia zum Propheten. Wir hören Jeremia 1,4-10:
Und des Herrn Wort geschah zu mir: Ich habe dich gekannt, ehe ich dich im Mutterleibe bereitete, und ich habe dich ausgesondert, ehe du von der Mutter geboren wurdest, und ich habe dich bestellt zum Propheten für die Völker.
Ich aber sprach: Ach, Herr, Herr, ich tauge nicht zu predigen; denn ich bin zu jung.
Der Herr sprach aber zu mir: Sage nicht: "Ich bin zu jung, sondern du sollst gehen, wohin ich dich sende, und predigen alles, was ich dir gebiete. Fürchte dich nicht vor ihnen; denn ich bin bei dir und will dich erretten, spricht der Herr.
Und der Herr streckte seine Hand aus und rührte meinen Mund an und sprach zu mir: Siehe, ich lege meine Worte in deinen Mund. Siehe, ich setze dich heute über Völker und Königreiche, dass du ausreißen und einreißen, zerstören und verderben sollst und bauen und pflanzen.


Liebe Gemeinde,
da geschieht etwas Umstürzendes. Ein Mensch wird herausgerufen aus seinem bisherigen Leben. Alle Pläne und Lebensentwürfe sind plötzlich hinfällig, weil Gott mit seinem Wort in radikaler Weise in dieses Leben eingreift. Franz Werfel beschreibt es in seinem großartigen Jeremia-Roman so: „Innen und außen, wie ein sich deckender Gleichklang, ertönt das dreimal unabänderliche „Ich habe“. Fremd, nicht zu fassen fremd ist die Botschaft die es bringt.“ Und dieser Mensch - der junger Mann Jeremia kann sich diesem Zugriff nicht entziehen.
"Und des Herren Wort geschah zu mir" - zunächst scheint alles wie immer. Der Blick wandert über die vertraute Umgebung, über die vertrauten Gegenstände. Alle sind an ihrem Platz. Der Tisch. Der Stuhl davor. Der Krug mit Wasser. Das Fenster. Das Ohr hört die gewohnten Geräusche. Die Hände gehen der gewohnten Beschäftigung nach, die Gedanken gehen in die gewohnte Richtung. Alles ist wie immer.
Und plötzlich ist eben nichts mehr wie gewohnt. Das Vertraute wird fremd und das Selbstverständliche hört auf selbstverständlich zu sein. Und es wird, das ist sicher, auch nicht wieder so werden wie vorher. Was ist geschehen?
Jeremia, der Priestersohn aus dem Dorf Anathoth im Lande Benjamin, beschreibt das umstürzende Ereignis später sehr zurückhaltend. Er sagt es mit Worten, die immer wieder gebraucht worden sind, um etwas zu beschreiben, was sich im Grunde nicht beschreiben lässt: "Und des Herren Wort geschah zu mir". Hinter dieser feststehende Wendung verbirgt sich etwas sehr ergreifendes. Jeremia bekennt: „Unausweichlich hat mich das Wort, hat mich Gott selbst, erreicht. Er hat mit Namen genannt, was ich bin, - ein vom Mutterleib an Herausgerufener - und aufgedeckt, was ich von mir nicht wissen wollte. Er hat mich gerufen. Ich wusste: Ich bin gemeint. Er hat für mich einen unausweichlichen Auftrag. Ich wusste: Ich bin gefordert, obwohl ich noch gar nicht überschauen kann, was das bedeutet: Mit seinem Wort hat Gott in unbedingter Weise nach mir gegriffen. Und dieser Zugriff Gottes macht Angst.“
Zurecht hat Jeremia Angst, denn er weiß diese Berufung, dieser Zugriff bedeutet für ihn der Aufbruch in ein ungesichertes Leben, in eine ungewisse Zukunft. Der Ruf Gottes sendet den jungen Mann aus einem kleinen Dorf in die Hauptstadt nach Jerusalem. Diese äußere Entfernung entspricht die innere Entfremdung zur Heimat und zur Herkunftsgruppe. Denn er, der Priestersohn, wird genau diese Priester im Namen Gottes hart angreifen müssen. Das bringt ihm Anfeindungen und Verleumdungen ein. Und dabei ist Jeremia alles andere als ein hartgesottener Bursche, der das wegstecken könnte; vielmehr hat er eine weiche, zartfühlende Natur. Er wird durch diese Berufung zeitlebens ein Erschütterter, ein von der Krise Geschüttelter bleiben. Unter dem Druck seiner schweren Aufgabe nahm er sich manchmal vor: "Wohlan, ich will Gottes nicht mehr gedenken und nicht mehr in seinem Namen predigen". Aber er kam nicht an gegen diesen Auftrag herausgerufen zu sein, gegen diesen Zwang, unter den er geraten war. "Aber es ward in meinem Herzen wie ein brennendes Feuer" – so beschreibt er das. Er der zarte, junge Mann musste sich im Namen Gottes gegen die herrschende Meinung stellen, gegen die Heuchelei in Staat und Religion.

Jeremia hat das im glaubenden Vertrauen und von Gott gehalten durchstehen können. Er hatte ja keinen Beweis für seine Berufung, nicht einmal den zweifelnden Fragen seines eigenen Herzens gegenüber, ob den diese Stimme wirklich Gottes Stimme gewesen sei und nicht nur die Stimme seines eigenen Herzens, eine anmaßende Selbsttäuschung. Auch der äußere Erfolg wurde ihm nicht zum Beweis; denn er hatte keinen und ist am Schluss ein gescheiterter Mensch gewesen: Spott hat er geerntet, den Untergang seines Volkes musste er mit ansehen, als Vaterlandsverräter wurde er beschimpft und in die Jauchegrube geworfen, und von einem Haufen Überlebender wurde er gegen seinen Willen auf der Flucht mit nach Ägypten geschleppt, wo er schließlich getötet wurde.
Manchmal, wenn meine Kirche wie im EKD-Impulspapier „Kirche der Freiheit“ vollmundig ein „wachsen gegen den Trend“ ankündigt, von einer „Konzentration auf die zukunftsträchtige Felder der kirchlichen Arbeit“ spricht, dann hätte ich gute Lust darauf einfach mit dem Schicksal des Jeremia zu antworten. Wer hat denn behauptet, dass „prophetischer Protest“ - der hoffentlich auch weiterhin ein Grundzug christlicher Verkündigung sein wird - Mehrheiten sammelt, Wachstumsraten erzeugt und auf freudige Zustimmung stößt? Die hebräische Bibel zumindest nicht!
Das Lebensschicksal des Jeremia mag besonders gravierend sein und doch gibt es im Laufe der Kirchengeschichte immer wieder Lebensläufe, die zumindest phasenweise ähnliches erzählen können wie Jeremia. Herausgerufene Menschen werden von der Mehrheit oft mit Leid, Not und Angst bedrängt und streben nicht nach ihren Posten (und das ist doch spürbar anders wie die Ämtervergabe, die heute in der Kirche praktiziert wird, die ist abhängig von Personalentwicklung erneuerter Visitation und Ähnlichem). Man denke an den heiligen Martin. Martin von Tour versteckte sich der Legende nach in einem Gänsestall, als man ihn zum Bischof machen wollte, aber leider verrieten ihn die schnatternden Gänse und die Menschen zerrten den Widerstrebenden auf den Bischofsthron. Oder man denke an den am Martinstag geborenen Martin Luther, der immer wieder zweifelte und angefochten war darüber, ob sein reformatorische Wende denn richtig gewesen ist. Oder man erinnere sich im Bonhoefferjahr an Dietrich Bonhoeffer der bekennt: "Du hast mich heimgesucht bei Nacht". Der, den wir in diesem Jahr verehren und feiern, war ebenfalls bei den Kirchenleitungen seiner Zeit wenig geachtet. Und nach dem Krieg mussten über 20 Jahre vergehen, ehe man sich „bei Kirchens“ traute, diesen von den Nazis verurteilten Theologen anders denn als einen Verbrecher anzusehen und auch mal ein Gemeindezentrum nach ihm zu benennen. Die Geschichte der Kirche kennt viele Berufungsgeschichten, die auch Leidensgeschichten waren. Auch die Christen im Sudan, in Indonesien, oder ganz aktuell im Libanon könnten davon erzählen. Und wenn wir in die hebräische Bibel hineinschauen, dann entdecken wir da nicht nur den leidenden Jeremia, sondern auch einen Mose, der gegen seinen Willen berufen wird, und einen Jona, der vor dieser Aufgabe auf und davon rennt und Gott doch nicht entfliehen kann.
Da kann man schon fragen: „Gott, hast du nicht selbst gesagt, dass du Gedanken des Friedens und nicht des Leides mit uns hast? Du bist doch unser Vater! Muss es denn wirklich sein, dass Menschen in deinem Dienst so unter Druck geraten? Muss es denn wirklich sein, dass Menschen, die zu dir halten, dafür von Schicksalsschlägen getroffen werden? Ich denke zurück an jene alleinerziehende Mutter mit zwei halbwüchsigen Kindern, kirchliche Mitarbeiterin in unserer Kinderkirche und Schwester unserer Diakoniestation. Ein Mensch der auf seine Weise eine starke Zeugin für dich war. Sie stirbt plötzlich und völlig unerwartet an einer Embolie, mitten aus dem Leben heraus. Dabei hätten ihre Patienten sie noch gebraucht, unsere Gemeinde und natürlich und vor allem ihre Kinder. Dass du Gott deine Gläubigen durch ein solches Geschehen irre an dir werden lässt und sie durch ein dunkles Tal führst, dass du sie heimsuchst bei Nacht - muss das wirklich so sein Gott?“

Muss das sein - so reagierten auch die Jünger Jesu, als er ihnen nahe bringen wollte, dass er nach Jerusalem geht um dort zu leiden und zu sterben. Muss das sein? Wenn es möglich ist, so lass diesen Kelch an mir vorüber gehen, so reagiert dann auch Jesus selbst als er im Garten Gethsemane betet. Er, der die Geschichte des Jeremias sicher vor Augen hatte, als er vom Ölberg auf Jerusalem hinübersah und mit großer Trauer sagte: "Jerusalem, Jerusalem, die du tötest die Propheten und steinigst, die zu dir gesandt sind." Jesus, der unmittelbar darauf verhaftet, verhöhnt, zerschlagen und auf martervolle Weise am Kreuz ums Leben gebracht wurde. Jesus wird durch die Macht seines Auftrags und begleitet von dem hellen Licht einer großen Verheißungen, immer tiefer ins Dunkel geführt, bis es schließlich ganz aus zu sein scheint mit ihm. Darin ist Jesu irdische Existenz immer auch eine prophetische Existenz und die Alten haben schon recht gehabt, wenn sie eines der Ämter Christi immer als prophetisches Amt beschreiben haben. Es scheint von daher eine Regel zu sein, dass die Anfechtungen keinem erspart bleiben, die Frage nach dem Warum, der Zweifel, die Angst sein Liebstes hergeben zu müssen, die Not kein Ziel zu sehen und die Verheißungen nur mitten in ihrem Gegenteil glauben zu können.
Die ganze Gemeinde vor und nach der Zeit Jesu ist mit diesem menschgewordenen Herrn zusammengeschlossen durch die Teilnahme an seinem Weg, dem Weg des Gottesknechtes, der selbst das tiefste Dunkel nicht scheut und ins Dunkel hineingeht mit nichts als einer Verheißung, deren Erfüllung bis heute noch nicht gesehen wird. Die Verheißung kann nur geglaubt werden, ihr kann nur vertraut werden in einem Zutrauen, das sich ganz an den hängt, der die Verheißung gegeben hat.

Gibt es aber Zeichen dafür, dass die Stimme, die Jeremia ruft und ihm auch den Weg ins Leiden zumutet, nicht eine Stimme der Verführung ist, vor der man am besten davonläuft ?
Ein Zeichen dafür ist die von außen gesehen kaum verstehbare Gewissheit, die diesen Jeremia erfüllt. So bitter er unter seinem Auftrag litt, er ist trotz allem Schweren, das ihm mit seinem Auftrag aufgeladen wurde, offenbar nie vom Zweifel überwunden worden. Da war stets ein Stück Gewissheit übrig, dass es ein guter Herr ist, der ihn gerufen hat. Jeremia schien das bleibende Vertrauen zu haben, dass er nicht als Objekt eines übermächtigen Götzen für dessen Ziele geopfert wird, sondern dass der Herr, der ihn in seinen Dienst rief, es gut mit ihm meint. Also, gerade auf einem solchen Weg wie dem des Jeremia, muss den Gerufenen ein waches Gottvertrauen begleiten, ein Vertrauen dass nicht Zweifel und Fragen unterdrückt, sondern beides zulässt und sich trotzdem gehalten weiß.

Ein weiteres Zeichen ist die eigenständige Macht dieses Wortes, das Jeremia in den Mund gelegt bekommt. Gott gibt dem Propheten ja nicht mehr Überzeugungsmittel als seinen eigenen Mund, seine eigene Stimme und das Versprechen, dass durch sein Menschenwort hindurch der Gott, der ihn gerufen hat auch seine Botschaft zu den Menschen bringt. Mit nichts anderem wird der Bote ausgerüstet, - „sine vi sed verbo“ werden die Reformatoren dazu später sagen - das scheint lächerlich und zunächst auch zum Scheitern verurteilt. Dann aber erweist das Wort seine eigenständige Kraft. Die erweist sich dadurch, dass Diejenigen, denen die Botschaft gilt, nicht einfach zur Tagesordnung übergehen können. Ihr brutaler Widerstand und ihre heftige Abwehr zeigt, wie zielgenau der Angriff ist, dem die Priester und Mächtigen in Israel hier ausgesetzt sind. Und als sie schließlich diesen Boten Jeremia totgeschlagen haben, da ist seine von Gott kommende Botschaft immer noch nicht tot und widerlegt: im Gegenteil, sie hat Wenige erreicht, die sich um Jeremia sammelten und seine Reden aufschrieben. Und damit nicht genug. Nein, gerade in dem Israel, das sich so heftig gegen Jeremia gewehrt hat, saß der Stachel seines Auftretens so tief, dass man die Worte dieses Staatsfeindes, dieses Gescheiterten sorgsam aufbewahrte. Am Ende wurde das was Jeremia im Namen des Herrn gesagt hatte, in die Sammlung der heiligen Schriften Israels aufgenommen hat. Aufgenommen als Worte, die nie verklingen dürfen, die nie veralten, die für zukünftige Generationen noch ebenso wichtig sind und deren Erfüllung noch kommen wird.

Trotz alle dem bleibt am Ende die Frage, was wir als einfache Christen in unserem Alltag mit einer so gewaltigen Berufungsgeschichte anfangen können? Wünschen wir uns nicht eher ein ruhigere und undramatischere Gottesbegegnung? Würden wir unseren Glauben nicht lieber in kleinerer Münze erleben? Das ist verständlich und es ist ja auch so, dass kein Christ bewusst solche extremen Lebenswendungen suchen sollte, wie sie im Jeremiabuch dargestellt sind. Aber eines sollte auch heute noch passieren: Nämlich dass Gottes Wort uns Menschen erfasst, dass es uns in Bewegung setzt, und der Glaube an die Verheißungen Gottes wächst. Dass Menschen, wie es ein großer Theologe einmal sagte, „ergriffen werden von etwas, das sie unbedingt angeht.“
Diese Kraft des Rufes Gottes soll auch uns auch heute noch packen. Sie soll uns auch in finsteren Tagen einen Halt geben. Der Ruf Gottes bleibt bei uns, auch an Tagen in denen wir nur dumpf nach einem Warum fragen können, keinen Sinn sehen, keinen Glauben mehr haben und hoffnungslos im Dunkeln tappen. Vielleicht hilft uns Gottes Ruf dann das folgende Bekenntnis nachzusprechen:
Die Nacht wird nicht ewig dauern.
Es wird nicht finster bleiben.
Die Tage, von denen wir sagen,
sie gefallen uns nicht,
werden nicht die letzten Tage sein.
Wir schauen durch sie hindurch
vorwärts auf ein Licht,
zu dem wir jetzt schon gehören
und das uns nicht loslassen wird.
Das ist unser Bekenntnis.
AMEN



Pfarrer Thomas Oesterle und Pfarrerin Margarete Oesterle, Schorndorf
ev.pauluski.ost.schorndorf@t-online.de


(zurück zum Seitenanfang)