Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, J. Neukirch, C. Dinkel, I. Karle

Spenden Sie dem Förderverein Göttinger Predigten im Internet e.V.
für die Fortführung seiner Arbeit!

10. Sonntag nach Trinitatis, 20. August 2006
Predigt zu Jesaja 62, 6-12, verfasst von Heinz Behrends
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Vorbemerkung

Der Israelsonntag setzt die Themen „Erwählung Israels“ und die „Geschichte der Schuld der Christen gegen die Juden“. Der ungelöste Konflikt der Israelis und der Palästinenser und der latente Antisemitismus in unserem Land lagen in den vergangenen Jahren als aktuelle Anforderungen an den Prediger, die Predigerin immer darunter.

Der Libanon-Krieg schafft in diesem Jahr eine völlig neue homiletische Situation für die Auslegung des Textes, die Frieden für die Stadt Jerusalem verheißt. Die Predigt darf an ihr nicht vorbeigehen. Ein harmonischer, seelsorgerlich orientierter Gottesdienst ist nicht möglich.

Liebe Gemeinde!

„Man wird sie nennen „Heiliges Volk“ und „Erlöste des Herrn“. Du hältst bei diesem Prophetenwort angesichts der Bilder der letzten vier Wochen die Luft an. Wo ist Erlösung sichtbar?

Fast 400.000 israelische Soldaten und Reservisten unter Waffen im nicht erklärten Krieg der Guerilla im Libanon. Häuser in Haifa in Trümmern. Zum ersten Mal dringt der Krieg durch Raketen über die Grenzen ins Heilige Land. Krankenhäuser überfüllt. Das alltägliche Leben steht still. „Erlöste des Herrn“? Israel greift unerbittlich an. Der Süden Beiruts, Paris des Orients, in Schutt und Asche. Die wunderbare Bade-Küste vom Öl verseucht. Der Libanon, von dem das Hohelied noch singt: „Komm mit mir, meine Braut, vom Libanon“. Der Libanon, in der Poesie der Bibel ein Ort der Liebe, jetzt ein Hort der Gewalt.

„Siehe, dein Heil kommt“. Ja, wo denn?

Ich halte die Luft an. Diese Spannung zwischen der Verheißung des Propheten aus den Jahren um 500 vor Christus und der aktuellen Politik der letzten Wochen.

Ich war die letzten Wochen in Urlaub und habe sehr intensiv die Zeitungen über den Konflikt in Israel gelesen. Ich war hin- und hergerissen. Auf der ersten Seite fast jeden Tag ein großes Foto von betroffenen Menschen. Der Vater beweint seinen toten Sohn, die israelische Soldatin mit Gewehr und einer Träne auf ihrer Wange, die alte Frau, die auf den Trümmern des Hochhauses herumirrt. Auf Seite 2-4 die Berichte von den Kämpfen, Worte der Politiker, der Kampf ums Überleben, das Machtspiel der Großen, die Friedensbemühungen der anderen. Kommentare der Experten.

Israel hat vor 5 Jahren das Gebiet jenseits ihrer Grenzen im Libanon und im Gaza frei gegeben. Die Antwort: Raketenbeschuss der Hisbollah. Israels Verhalten verstehe ich. Doch die Bomber nehmen keine Rücksicht und machen alles platt, weil sie die Hisbollah in den Wohnhäusern wähnen. Die Bomben sind das Recht der Bedrohten, nein, das ist gegen jedes Völkerrecht.

Der Iran steckt dahinter. Er will sich als Großmacht etablieren. Das fürchten alle Araber und schreiten nicht ein. Ja, das hatten wir schon einmal. Als der Tempel zerstört war und die Perser die Babylonier aus dem Heiligen Land vertrieben, wurde Kyros, der König der Perser, als Retter Israels gefeiert.

Als der Schüler des Jesaja seine Verheißung über Jerusalem schreibt, sind die Perser aber Besatzungsmacht in Israel. „Wir werden Israel von der Landkarte radieren,“ sagt der Präsident in Teheran heute.

Wir kommen als Retter und sortieren den Nahen Osten neu und bringen die Demokratie, sagt der Präsident in Washington, der keinen Arbeitstag ohne Gebet und Losung beginnt und sich einer Äußeren Mission verpflichtet fühlt.

Die Motive der christlichen und muslimischen Fundamentalisten erscheinen verwandt.

Ich bin hin- und hergerissen. Worum wird gekämpft im Libanon? Kampf um Vorherrschaft ? Kampf um Öl? Terror der sich unterbewertet fühlenden Moslems? Auf jeden Fall ein Überlebenskampf Israels.

Ich sehe das alles und denke: Am Ende ist es wieder der sogenannte Kleine Mann, der betroffen ist, Familie und sein Haus verliert und flüchten muss. Als Christ weiß ich,

Gott hat sein Volk Israel erwählt. 1.900 Jahre waren sie seit Christi Geburt ohne Heimat, obwohl doch Gott seine Verheißung an Raum und Zeit gebunden hat. 1917 entstand die Idee, dass Juden in Palästina wieder siedeln und friedlich mit Palästinensern zusammenleben, die Kolonialmächte Frankreich und England schaffen neue Staaten. Irak, Syrien, Jordanien, Libanon.1948 wurde die Staatsgründung Israels wahr. Frieden hat es bisher aber nie gegeben. Die Erwählung hat Krieg gebracht bis heute.

„Siehe, was er gewann, ist bei ihm, und was er sich erwarb, geht vor ihm her!“ Ich könnt den Kopf schütteln über die Verheißung des Propheten.

Könnte den Kopf schütteln, wenn ich nicht wüsste, dass er in einer Situation spricht, die von Leid und Besatzungsmacht geprägt ist, von Überlebenskampf und Hoffnung auf das Friedensgebet im wiedererrichteten Tempel.

Er antwortet auf die hin- und hergerissenen Seelen, auf die zertrümmerten Häuser und verbrannten Leiber mit einer Vision. „Der Herr hat geschworen bei seinem starken Arm.“ Ihr werdet den Wein, den ihr gepflanzt habt, selber ernten und trinken.“ „Dein Heil kommt.“

Die Vision entwirft immer ein Gegenbild. Die Bibel entwickelt ihre Kraft zur Hoffnung immer aus dem Leid. Ein sattes Volk hat keine Visionen.

So haben die Leute den Propheten damals nicht anders gehört als wir heute. Ambivalent, kritisch ungläubig oder aufgerichtet.

Ich nehme mit den Bildern des zerstörten Libanon und des aufgeschreckten Israel im Kopf drei Worte des Propheten besonders auf.

„Ich habe Wächter über deine Mauern bestellt, die den ganzen Tag und die ganze Nacht nicht schweigen sollen.“

Der Friede braucht Wächter. Er braucht Menschen, die Gottes Wort erinnern, sagen, die unbequem sind. Du kannst solch ein Wächter sein, der die Friedensbilder des Propheten lebendig hält. Wenn selbst wir sie verschweigen, sieht es böse aus.

„Macht Bahn, räumt die Steine hinweg.“

Räumt die Steine, die den Frieden hindern, hinweg. Wir Christen wissen, was dem Frieden dient. Selbstbewusstsein, Wahrheit und Gewaltlosigkeit.

Wer weiß, wer er ist und was er wert ist, muss keine Konkurrenz fürchten. Wer sich seiner Würde vor Gott bewusst ist, muss andere nicht abwerten. Das Selbstbewusstsein.

Und die Wahrheit. Ein Mensch muss über sich Bescheid wissen. Er muss sich schonungslos in seinen Stärken und Schwächen kennen. Unfriede wächst, wo Menschen sich was vormachen, wo Interessen verschleiert werden.

Und die Gewaltlosigkeit. Der Körper des Menschen gehört zu seiner Identität. Er ist ein unverzichtbarer Teil unserer Ganzheit. Er darf nicht willentlich versehrt werden.

Ich weiß, das löst den Konflikt in Palästina nicht. Aber wir dürfen nicht zu denen gehören, die irgendwo auf der Welt Steine in den Weg der Versöhnung räumen.

„Lasst Gott keine Ruhe, bis er Jerusalem wieder aufrichtet.“

Betet. Erinnert den Herrn, fallt ihm auf die Nerven. In gefalteten Händen ist kein Platz für Schwert, Gewehr oder Raketenabschussknopf.

“Geht ein durch die Tore, bereitet dem Volk den Weg“

Jerusalem bleibt die Stadt schlechthin, Symbol für den Frieden der Welt. Alle Toren öffnen sich, alle Völker kommen, um in ihr zu wohnen. Es wird kein Leid noch Geschrei mehr sein. Mit diesem großen Bild der Stadt schließt unsere Heilige Schrift, die mehr von Leid und Krieg weiß, als wir jemals erfahren oder gesehen haben.

„Nächstes Jahr in Jerusalem,“ so ist der Abschiedsgruß der Juden. Errichtete Mauern werden abgebaut, die Tore sind für alle geöffnet. Für diese Zukunft lohnen sich die bittersten Tränen.

Heinz Behrends
Superintendent
Entenmarkt 2
37154 Northeim
Heinz.Behrends@evlka.de

 


(zurück zum Seitenanfang)