Göttinger Predigten im Internet
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10. Sonntag nach Trinitatis, 20. August 2006
Predigt zu Jesaja 62, 6-12, verfasst von Heinz Janssen
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


„Siehe, dein Heil kommt“ – Eine Stimme voller Hoffnung

Liebe Gemeinde!

I. Der Zehnte Sonntag nach Trinitatis ist in den christlichen Kirchen ein Tag des Anteilnehmens an dem Schicksal Jerusalems, der symbolträchtigen Heiligen Stadt, auch Zion genannt und als Frau personifiziert, der Gott wie in einer Ehe in Liebe zugewandt und treu verbunden ist.

Mehrmals wurde die Stadt Jerusalem in ihrer fast dreitausendjährigen Geschichte zerstört und mit ihr der Tempel, der als Ort der Gegenwart Gottes hoch verehrt war. Die letzte Zerstörung datiert in das Jahr 70 nach Christus, als die Römer die Stadt eroberten – eines der historischen Zeugnisse ist der Titusbogen in Rom. Bis heute ist Jerusalem eine politisch und religiös umstrittene Stadt. Juden und Moslems behaupten ihren Anspruch darauf. Wie blutig sind die Auseinandersetzungen um Stadt und Land bis heute. Unmittelbar nach der völkerverbindenden Fußball-WM begannen erneut die kriegerischen Kämpfe zwischen Israel und dem Libanon. Endlich am vorigen Montag (14.August) nach fünf Wochen Krieg Waffenstillstand. Gott sei Dank, Dank allen, die um friedliche Lösungen von Konflikten bemüht sind. Wann wird die Zeit kommen, in der jene Vision des Propheten Jesaja wahr wird, dass die einander feindlichen Völker „ihre Schwerter zu Pflugscharen und ihre Spieße zu Sicheln machen“, dass „kein Volk gegen das andere das Schwert erheben wird und sie hinfort nicht mehr lernen, Krieg zu führen“ (Jesaja 2,4), dass Jerusalem mit dem Tempel zu einem Ort der friedlichen Begegnung der Völker wird, um gemeinsam auf die Weisungen Gottes zu hören (Jesaja 2,2-3).
Noch ist diese fast dreitausend Jahre alte Vision Jesajas nicht wahr geworden.

II. Unser Predigttext, der zu den letzten Kapiteln des Jesajabuches gehört, blickt auf die im 6.Jahrhundert vor Christus durch die Babylonier erfolgte Zerstörung Jerusalems zurück. Stadt und Tempel waren wieder notdürftig aufgebaut, und der Tempel konnte etwa 70 Jahre nach seiner Niederbrennung wieder eingeweiht werden. Hoffnungen begannen neu zu keimen, aber da war auch die Angst, ob die Stadt jemals wieder zu ihrer ursprünglichen Lebendigkeit und Schönheit finden wird. Noch war sie verlassen, viele frühere Bewohner kehrten nicht mehr zurück, sie blieben oder starben fern von ihrer Heimat in babylonischer Gefangenschaft. Wird nicht bald wieder ein anderer Feind über die Stadt herfallen? Wir ahnen, wie es den in der Stadt übrig gebliebenen und den aus der Gefangenschaft heimgekehrten Menschen ging. Da mischten sich Hoffen und Bangen, Resignation, Müdigkeit und Verstummen mit Aufbruchsstimmung, neuer Wachheit und Brechen des Schweigens. In diese Situation hinein erging die prophetische Stimme, auf die wir heute als dem Predigttext hören wollen, Jesaja 62,6-12:

6 O Jerusalem, ich habe Wächter über deine Mauern bestellt, die den ganzen Tag und die ganze Nacht nicht mehr schweigen sollen. Die ihr den HERRN erinnern sollt, ohne euch Ruhe zu gönnen,
7 laßt ihm keine Ruhe, bis er Jerusalem wieder aufrichte und es setze zum Lobpreis auf Erden!
8 Der HERR hat geschworen bei seiner Rechten und bei seinem starken Arm: Ich will dein Getreide nicht mehr deinen Feinden zu essen geben noch deinen Wein, mit dem du so viel Arbeit hattest, die Fremden trinken lassen,
9 sondern die es einsammeln, sollen's auch essen und den HERRN rühmen, und die ihn einbringen, sollen ihn trinken in den Vorhöfen meines Heiligtums.
10 Gehet ein, gehet ein durch die Tore! Bereitet dem Volk den Weg! Machet Bahn, machet Bahn, räumt die Steine hinweg! Richtet ein Zeichen auf für die Völker!
11 Siehe, der HERR läßt es hören bis an die Enden der Erde: Saget der Tochter Zion: Siehe, dein Heil kommt! Siehe, was er gewann, ist bei ihm, und was er sich erwarb, geht vor ihm her!
12 Man wird sie nennen »Heiliges Volk«, »Erlöste des HERRN«, und dich wird man nennen »Gesuchte« und »Nicht mehr verlassene Stadt«.

Eine Stimme voller Hoffnung. Sie setzt auf die Verheißung Gottes, seinen Treueschwur:

GOTT hat geschworen: Die Getreide und Wein ernten, sollen's auch essen.

Die prophetische Stimme beruft sich auf die Zusage, dass Gott selbst die Stadt vor den Feinden schützen wird. Darum die Aufforderung, Gott „keine Ruhe zu lassen, bis er Jerusalem wieder aufrichte und es zum Lobpreis auf Erden setze“. Von einer heiligen Unruhe sollen sich die Überlebenden der Katastrophe bestimmen lassen, Gott an seine Versprechen erinnern, ihm gleichsam in den Ohren liegen, einfordern und in Erinnerung an sein Versprechen neu den Weg in die Zukunft wagen.

Das neue Leben in der Stadt vorwegnehmend werden sie aufgefordert, durch die Stadttore zu gehen in das Innere der Stadt, auf den Weg zu ihren Häusern und zum Haus Gottes, dem Tempel:

Gehet ein, gehet ein durch die Tore! Bereitet dem Volk den Weg! Machet Bahn, machet Bahn, räumt die Steine hinweg! Richtet ein Zeichen auf für die Völker!

Nicht mehr die Resignation soll die Menschen bestimmen, sondern das Vertrauen, dass Gott hilft, die Wende herbeiführen wird – Saget der Tochter Zion: Siehe, dein Heil kommt! Sie sind nicht mehr die Verlassenen oder „die verlassene Stadt“, nicht mehr diejenigen, nach denen niemand fragt und die niemand sucht, sondern:

Man wird sie nennen »Heiliges Volk«, »Erlöste des HERRN«, und dich wird man nennen »Gesuchte« und »Nicht mehr verlassene Stadt«.

Siehe, dein Heil kommt!“ „ Heil“ ist in der biblisch-hebräischen Sprache ein umfassender Begriff, er hat mit „Rettung“ zu tun, mit „Heilwerden und Heilsein“, mit „Ganzwerden und Ganzsein“.

III. An diesem Sonntag, den wir in unserer Kirche auch „Israelsonntag“ nennen, ist uns besonders aufgegeben, durchzubuchstabieren, was es für unseren christlichen Glauben bedeutet, wenn Jesus im Johannesevangelium sagt: „Das Heil kommt von den Juden“ (Johannes 4,22). Das hebräische Wort für „Heil“ – Jescha´ – klingt auch in dem hebräischen Namen Jesus an – Jeschu´a bedeutet: Gott heilt, hilft, rettet. Wir müssen uns hüten, alles besser zu wissen, dennoch dürfen wir kritisch sein. Die biblische Aussage „Das Heil kommt von den Juden“ hat keine politische, sondern eine religiös-ethische Dimension.

Gottes heilvolles Handeln bleibt nicht auf ein einzelnes Volk beschränkt. Alle Völker sind einbezogen, darauf weist das aufzurichtende Zeichen für die Völker. Gottes Heil soll weithin in alle Welt leuchten.

Machet Bahn, machet Bahn, räumt die Steine hinweg!

Gott ruft wie sein Volk Israel so auch alle seine Völker auf, den Weg zu ebnen, die Steine wegzuräumen, damit sein Heil zu uns kommen, bei uns, in Stadt und Land, einziehen kann. Das bedeutet, die alten Hindernisse zu beseitigen, die Stolpersteine, Mauern und Barrièren – im eigentlichen Sinn, wo Wege versperrt werden, aber auch im übertragenen Sinn gilt: Räumt weg, was euch die Sicht nimmt, euch in eurem Reden und Handeln einengt, wenn es um das von Gott gewollte Leben für alle Völker geht. Achtet wieder auf die Vision dieses Lebens. Werdet zum „Heiligen Volk“, zu „Erlösten Gottes“, die als Beispiel/Vorbild von den Menschen in aller Welt gesucht werden. Gebt in eurer Stadt und eurem Land ein Beispiel für die Völker, dass es möglich ist, in Frieden zusammenzuleben, wie unterschiedlich unsere Herkunft, Nation, Religion und Kultur sein mag.

Wie damals Wächter über Jerusalems Mauern bestellt waren, die Tag und Nacht über die wieder aufgebaute Stadt wachen sollten, so sind auch wir heute zur steten Wachsamkeit aufgerufen, um Gottes Stimme Gehör zu verschaffen und nicht nachzulassen, darum zu bitten und das Menschenmögliche dafür zu tun, dass wie für Jerusalem die Zeit kommt, in der alle Völker zum Lobpreis Gottes auf Erden werden, und das heißt einander gerecht werden in gegenseitiger Achtung und in einem friedlichen Miteinanderleben.

IV. Der Predigttext aus dem 62.Kapitel des Jesajabuches ist eine zunächst partikular auf Zion begrenzte Zukunftsansage, ermutigend und voller Hoffnung, dass es von Gott her die ersehnte Rettung für das zerstörte Jerusalem gibt. Diese Stimme der Hoffnung, die aus Gottes Verheißung schöpft, verbindet uns mit der israelitisch-jüdischen Religion und damit auch mit dem Volk Israel, dem wir den größten Teil, nicht weniger als zwei Drittel, unserer Bibel verdanken und damit unsere Lebenswerte, unsere Ethik, die Grundlagen unseres Zusammenlebens. Die traditionelle Bezeichnung „Altes Testament“ wird den so wunderbaren Texten, zu denen auch der heutige Predigttext gehört, nicht gerecht. Sie sind keineswegs veraltet, keineswegs pauschal „alttestamentarisch gesetzlich“ im Gegensatz zum „Evangelium“ des Neuen Testaments zu verstehen. Sie gehörten zur Bibel Jesu, des Juden aus Nazareth. So sind die Juden und die Christen in einem tiefen, bis heute viel zu wenig bedachten Sinn Geschwister.

Mögen wir mit dem Apostel Paulus einstimmen, der staunend über die Wege Gottes mit Israel und den Völkern ausruft (Römer 11,33-36): „O welch eine Tiefe des Reichtums, beides, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes! Wie unbegreiflich sind seine Gerichte und unerforschlich seine Wege! Denn >>wer hat des Herrn Sinn erkannt oder wer ist sein Ratgeber gewesen?<< Oder >>wer hat ihm etwas zuvor gegeben, dass Gott es ihm vergelten müsste?<< Denn von ihm und durch ihn und zu ihm sind alle Dinge. Ihm sei Ehre in Ewigkeit!“

(Die Gemeinde singt:) Amen.

Lieder: „All Morgen ist ganz frisch und neu“ (EG 440), „Ich lobe meinen Gott von ganzem Herzen“ (EG 272), „Wie der Hirsch lechzt nach frischem Wasser“ (EG 278), „Gott liebt diese Welt“ (EG 409), „Bewahre uns, Gott“ (EG 171).

Heinz Janssen
Pfarrer an der Providenz-Kirche in Heidelberg Altstadt/City
providenz@aol.com


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