Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, J. Neukirch, C. Dinkel, I. Karle

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10. Sonntag nach Trinitatis, 20. August 2006
Predigt zu Matthäus 11, 16-24, verfasst von Kirsten Bøggild (Dänemark)
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


MELANCHOLIE

Wir haben euch aufgespielt,
und ihr wolltet nicht tanzen.
Wir haben Klagelieder gesungen,
und ihr wolltet nicht weinen.

Die Vorwürfe hängen in der Luft. Dieses Geschlecht hat die Aufforderung zum Tanz nicht angenommen. Dieses Geschlecht ist von einem sonderbaren Unwillen gekennzeichnet. Es gibt nichts oder niemanden, der es zufriedenstellen könnte. Johannes der Täufer, der ein Asket war, wird als abweichend und wahnsinnig betrachtet. Jesus, der kein Asket ist, sondern mit den Menschen isst und trinkt, mit denen die meisten nicht verkehren wollen, Jesus löst Verärgerung aus. Dieses Geschlecht hält sich selbst außen vor, betrachtet die Ereignisse aus der Distanz. Und was es auch sein mag, es weckt seinen Unwillen. Es kritisiert – und damit verbleibt es auf Distanz. Enthält sich jeder Einmischung. Beschützt sich selbst vor verpflichtender Begeisterung. Gegen Teilnahme am gemeinsamen Leben. Es ist wie mit dem Fernsehzuschauer unserer Zeit: Da ist nichts, was etwas auf sich hätte, aber man möchte es doch gern von der gemütlichen Tiefe des Sessels aus im Fernsehen sehen. Aus der Distanz zu den Ereignissen selbst. Selbst will man seinen Ort außerhalb des Gangs der Welt haben. Außerhalb dieses ganzen Dramas, das man als Unterhaltung betrachtet. Jetzt wo die Tragödien der Welt zu Unterhaltung auf dem Bildschirm geworden sind. Man glaubt vielleicht, man wäre nicht beteiligt, obwohl man in Wirklichkeit sehr wohl beteiligt ist. Denn während die Welt ihren schiefen Gang geht und du es dir in deinem Sessel gemütlich machst, unternimmst du nichts, um zu verhindern, dass sich die Dinge in eine falsche Richtung bewegen.

Passiv zuzusehen ist eine moderne Lebensweise. Das gemeinsame Leben – Gesellschaft, Umwelt, Demokratie, Globalisierung – das alles ist so kompliziert und unhandlich geworden, so unüberschaubar für den Einzelnen, dass man versucht ist, sich aus dem allem abzumelden und passiv zuzuschauen, als wäre das Ganze reine Unterhaltung, die meine Beteiligung, meinen Einsatz nicht verlangt. Einerseits ist die Aufklärung über den Zustand der Welt und die Not der Menschen, über Krieg und Hunger und Krankheit umfassender als jemals zuvor. Andererseits ist die Möglichkeit des Einzelnen, etwas zu unternehmen, verschwindend gering. So erleben wir den Zustand der Welt durch die Medien – und das macht uns passiv. Wir werden zu Pessimisten ohne Hoffnung. Nicht alle! Aber es ist eine Tendenz, und es ist eine einleuchtende Tendenz. Nur hilft das überhaupt nichts! Die Welt wird nicht dadurch besser, dass wir passiv sind. Und wir selbst werden zu elenden Menschen, wenn wir uns nicht am gemeinsamen Leben beteiligen. Denn was ist ein Mensch? Wie wird ein Mensch er selbst? Er tut es, indem er Verantwortung auf sich nimmt für seinen Mitmenschen, mit dem zusammen zu leben ihm aufgegeben ist – und zwar nicht nur im engsten, sondern im umfassendsten Sinne. Die Verantwortung ist grenzenlos, es geht nur darum, dass du irgendwo anfängst, an deinem Ort – und dann deinen Blick weitest in der Zeit und im Raum. Hinaus in die wunderbar geschaffene Welt, und dass du sie mit dir selbst und mit deinem Leben bewahrst.

Warum wollte dieses Geschlecht denn nicht tanzen? Nicht trauern? An nichts teilnehmen? Was ist das für eine Melancholie, die die Menschen der Zeit kennzeichnet? Darauf kann man gewiss viele Antworten geben, aber im Grunde ist Melancholie genauso unerklärlich wie Liebe. Dieser nach innen gewandte Sinn, dieses verschlossene Wesen, diese Schwarzseherei bis zum Wahnsinn. Schwermut, die im Widerspruch steht zu der Freude, die der Sinn alles Lebendigen ist. Wenn ein Mensch seinem Mitmenschen immer den Rücken kehrt, immer zu Boden sieht und wegsieht und an dem anderen Menschen vorbeisieht. Wenn er immer bloß seines Weges geht, seine Tür verschließt, die Gardinen vorzieht. Es ist so selbstzerstörerisch, dass es unerklärlich ist. Melancholie ist genauso sinnlos, wie Liebe und Freude sinnvoll sind. Die passive Gefangenschaft in der eigenen Welt ist genauso lebensfeindlich, wie die aktive, nach außen gerichtete Tatkraft in der gemeinsamen Welt Lebensfreude bezeugt. Nur ist das gar nicht so einfach. Melancholie ist eine Seite des menschlichen Wesens, eine dunkle Seite, mit der wir leben und kämpfen, weil sie ihre eigene Macht hat. Ihre Übermacht bekämpfen wir nur, wenn wir sie ernst nehmen und fortlieben. Allein Liebe vermag sie zu überwinden. Und deshalb sehnt sie sich auch unbewusst nach Liebe. Aber nun ist sie so paradox, dass sie vor ihr flüchtet, sich vor ihr versteckt, sich gegen sie wendet. Sie will nicht tanzen, wenn die Liebe aufspielt. Sie will nicht trauern, wenn die Liebe Klagelieder singt. Sie zieht sich scheu in sich selbst zurück und verbleibt dort. Der Liebevolle kann dort nicht hineingelangen.

Was Jesus immer kritisiert hat, war die Art und Weise, wie Menschen sich zueinander verhalten. Die Kälte, die zwischen ihnen herrschen konnte. Die Gleichgültigkeit, die Unterdrückung und Ausnutzung, die Lust zur Verurteilung. Die Eigenliebe in allen ihren Schattierungen. Auch die Melancholie hat einen egoistischen Aspekt. Unfreiwillig vielleicht, aber eine Folge davon, dass man in seiner eigenen inneren Welt verharrt, mit eigenen Empfindungen und Problemen beschäftigt, innerhalb der eigenen vier Wände mit der Welt da draußen, eine Folge davon kann sein, dass man den Menschen auf der anderen Seite der Wand nicht wahrnimmt. Ob er glücklich oder unglücklich ist? Ob er Hilfe braucht oder nicht? Wenn wir nicht aufmerksam sind, wenn wir nicht interessiert sind, überlassen wir einander der Einsamkeit. –

Was hat das mit dem Text von heute zu tun, mögen wir nun fragen. Ja, das vernichtende Urteil, das Jesus über sein Volk, seine Zeit fällt, ist eine Verurteilung ihres Mangels an Glauben an ihn. Und das heißt: Mangel an Mitgefühl. Wenn er dazu auffordert, dass man seinen Nächsten lieben soll wie sich selbst, dann geht es um Mitgefühl mit dem Menschen außerhalb der Mauern, die einen umgeben. Und wenn die Zeitgenossen nicht nach seiner Melodie tanzen wollen, dann bedeutet das, dass sie an seine Botschaft nicht glauben wollen, dass wir einander vorbehaltlos lieben sollen. Stattdessen kehrt man sich in sich selbst und fragt sich: Wie kann ich mich selbst am besten lieben? Als wäre man dem Individualismus ganz und gar ausgeliefert.

Jesus wanderte in dem Land umher und verkündete das Wort Gottes – wie es die Propheten vor ihm getan hatten. Aber er sprach auf seine Weise. Er kam mit der Barmherzigkeit Gottes, seiner Vergebung der Sünden. Und er hielt sich nicht streng nur an die Juden, seine eigenen Landsleute. Seine Botschaft war universal. Er wollte, dass die Leute an das Recht der Barmherzigkeit glauben sollten. Dass niemand außerhalb der Reichweite der Liebe Gottes stand, und deshalb sollte auch niemand außerhalb der Reichweite der Liebe von Menschen stehen. Aber was die Leute gern für sich haben wollten: Gottes Vergebung, das wollten sie anderen nicht gönnen und schon gar nicht denen, die in einem anderen Land wohnten und eine andere Religion hatten. Die Inspiration aus der Verkündigung des Reiches Gottes mit der Vergebung der Sünden wurde nicht angenommen. Sie wirkte nicht auf die Anführer des Volkes, dem Jesus angehörte. Es ist eine Inspiration, die das Verständnis eines Menschen von seinem Gottesverhältnis dahin ändern will, dass es auch sein Verhältnis zu dem anderen Menschen umfasst. Eine Wandlung von einem individuellen Verhältnis zu einem sozialen und mitmenschlichen. Aber die Inspiration wurde abgelehnt. Das geschieht, wenn wir nicht wollen. Wenn wir nicht vergeben wollen, wenn wir nichts mit dem anderen Menschen zu tun haben wollen.

Und das Urteil ist hart. So hart, dass es schwer ist, Gottes Barmherzigkeit gegenüber dem Menschen zu sehen, der sie ablehnt. Aber das Urteil ist eine gnadenlose Aufdeckung der Ablehnung. Man ist gezwungen, seiner Eigenliebe in die Augen zu sehen. Man sieht das Ergebnis der Kälte des Herzens und der Passivität des Geistes. Aller Welt Not und Elend, Tränen, die nie versiegen, Sehnsüchte, die nie erfüllt werden, Einsamkeit bis zum Wahnsinn. Alles zieht an dem inneren Blick vorbei in einem letzten hoffnungslosen Schrecken angesichts all des eigenen Versagens. Der Prophet Jesus spricht Worte des letzten Gerichts, wie es die Propheten vor ihm getan haben. Und sollen wir sie mit unserem eigen Leben in Verbindung bringen, dann formulieren sie die Furcht, als ein gefühlskaltes unmenschliches Wesen zu enden, das seinen Mitmenschen nichts Gutes tut. Die Worte des Gerichts sind eine Warnung, aufzuwachen und sich selbst und seinem Leben in die Augen zu sehen, - ehe es zu spät ist.

Ja, aber ist Gott so hart, dass etwas überhaupt jemals zu spät sein kann? In diesem Leben sorgen wir selbst dafür, viele Lebensmöglichkeiten zu zerstören. Wir sind selbst schuld, wenn es für etwas zu spät geworden ist – und wenn wir im letzten Augenblick unseres Lebens erkennen, dass wir nie andere geliebt haben als uns selbst, dann ist das im menschlichen Sinn zu spät. – Was ist dann die Vergebung der Sünden, Gottes Barmherzigkeit in all dem? Vor allem nimmt das Urteil das Menschenleben ernst, sowohl den Menschen, der nicht geliebt hat, als auch den Menschen, der auf die Liebe eines anderen Menschen hat verzichten müssen. Gott ist es nicht einfach egal. Und dieser Ernst im Verhältnis zu beiden Menschen, ist dieser Ernst nicht eine Verheißung, dass Gott in seiner Ewigkeit das, was wir Menschen nicht vermögen, nämlich uns selbst zu vergeben, dass Er es vermag? Jesus verkündete nicht Hoffnungslosigkeit, sondern er verkündete Hoffnung über eine jede Grenze hinweg.

Amen!

Pastor Kirsten Bøggild
Thunøgade 16
DK-8000 Århus C
Tel. +45 86124760
E-mail: kboe@km.dk

Übersetzung aus dem Dänischen: Dietrich Harbsmeier


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