Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, J. Neukirch, C. Dinkel, I. Karle

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11. Sonntag nach Trinitatis, 27. August 2006
Predigt zu Galater 2, 16-21, verfasst von Johannes Block
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Der Brief des Apostels Paulus an die Galater ist so etwas wie ein theologisches Drehbuch. Vor allem im heutigen Predigtabschnitt macht uns Paulus mit dem Drehbuch seines religiösen Lebens bekannt. Was für ihn die Hauptrolle in seinem Leben spielt, das fasst er mit zwei eindrücklichen Sätzen zusammen. Paulus schreibt von sich:

Ich lebe, doch nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir. Denn was ich jetzt lebe im Fleisch, das lebe ich im Glauben an den Sohn Gottes, der mich geliebt hat und sich selbst für mich dahingegeben.

Diese großen Sätze klingen ein bißchen wie ein happy end nach einem langen, bewegenden Kinofilm. Doch man sollte diese großen Gefühle nicht verachten. Auch der Galaterbrief wirbt für ein befreiendes Lebensgefühl. Er wirbt darum, dass jeder Mann und jede Frau seine eigene Rolle findet; dass man frei und ein erfrischend anderer Mensch werden kann; dass man das Leben riecht und spürt wie in einem eigenen großen Lebensfilm. Man kann seine große Rolle finden und entdecken – und sei es für den Augenblick eines Kinoerlebnisses oder für den Moment eines Gottesdienstes.
Eine ganz andere Luft weht in der Gemeinde in Galatien. Freie und befreiende Gefühle sucht man hier vergeblich. Man zieht den eigenen Kopf ein und geht auf Nummer sicher. Man will vor Gott lieber nichts riskieren. So suchen sich die Galater ein sicheres Haus und schlüpfen unter das Dach von Gesetz und Tradition. Gegen diese Verkrustungen in der christlichen Gemeinde hält der Apostel sein persönliches Drehbuch. Paulus schreibt: Ich lebe, doch nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir.

Doch Eile mit Weile! Vielleicht lässt sich das happy end des Paulus besser verstehen und verdauen, wenn wir noch ein paar Szenen vorschalten und uns anschauen. Ich möchte dem Lebensgefühl im großen paulinischen Finale weiter auf den Leib rücken, indem ich an drei Szenen entlanggehe. Es sind drei Szenen an drei unterschiedlichen Orten, noch dazu aus drei unterschiedlichen Jahrhunderten. Die erste Szene spielt in Paris im 18. Jahrhundert.

I.

„Das Leben, das Leben! Man gebe mir nur das Leben!“, flehte Madame Dubarry, Mätresse Ludwig XV. von Frankreich, auf dem Weg zum Schafott. Und als sich der Henker anschickte, das Fallbeil auszulösen, rief sie gellend ihre letzten Worte: „Nur noch eine Minute, Herr Scharfrichter, nur noch eine Minute!“ Dann fiel ihr Kopf. Die Würde der Dubarry liegt in der Unverstelltheit, mit der sie sich ihrer Leidenschaft für das Hier und Jetzt überlässt. Selbst eine allerletzte, eine zusätzliche Minute ist ihr unendlich viel wert. Sie schreit ihr Bekenntnis zum schönen Leben heraus, bevor sie sterben muss: Spazierfahrten in offener Kutsche, endloses Gelächter über komische Missgeschicke, ein ordentliches Frühstück nach einer Liebesnacht, der Anblick regennasser Dächer beim Aufklaren des Himmels und der Geruch des Fischmarktes. „Das Leben, das Leben! Man gebe mir nur das Leben!“

Die Szene aus dem Paris der Revolution schildert der Soziologe Gerhard Schulze in einem seiner Essays. Seinem Urteil nach ist der Lebenshunger der Dubarry eine Schlüsselszene für die anbrechende Neuzeit. Der moderne Mensch und der westliche Lebensstil ist davon bewegt, das pure Leben auszukosten, möglichst viele Facetten zu erleben und die Tage zu genießen als gäbe es kein Ende. Dem Fazit des Soziologen nach lautet die Philosophie der Moderne: Mein Leben ist von dieser Welt, und es soll ein schönes Leben sein.

Nehmen wir diese Zeitdiagnose ernst! Es wäre gewiß zu einfach, wollte man sich auf einen neutralen Punkt zurückziehen und mit dem modernen Projekt des schönen Lebens nichts zu tun haben. Jeder ist auf der Suche nach dem gelingenden Leben. Jeder sucht sein Drehbuch. Und wenn sich dabei angenehme und erfolgreiche Seiten ergeben, soll uns das recht sein. Für die gefühlige Lebenslust einer Dubarry habe ich spontan mehr Sympathie als für die knöchernde Abgeklärtheit eines akademischen Asketen. Wie auch immer: Was das Leben recht und angenehm macht, was es bis in die Haarspitzen erfüllt, das will gesucht und erlebt sein. Manchmal denke ich, dass uns diese Suche in fast jeden Lebenswinkel hinein begleitet. Sie schwingt mit auf der weiten Reise in ein fernes Urlaubsland, auf dem nächsten Gang in ein Kino oder in ein Café am Marktplatz, beim nächsten Besuch eines Klosters oder eines Gottesdienstes. Wie findet man das Drehbuch des eigenen Lebens? Wer besetzt darin welche Rolle?

Eine nächste und zweite Szene soll uns dabei helfen. Sie spielt in Jerusalem im 1. Jahrhundert. Wir kennen die Szenerie aus der Lesung des heutigen Evangeliums.

II.

Es gingen zwei Menschen hinauf in den Tempel, um zu beten, der eine ein Pharisäer, der andere ein Zöllner. Der Pharisäer stand für sich und betete so: Ich danke dir, Gott, dass ich nicht bin wie die andern Leute, Räuber, Betrüger, Ehebrecher oder auch wie dieser Zöllner. Ich faste zweimal in der Woche und gebe den Zehnten von allem, was ich einnehme. Der Zöllner aber stand ferne, wollte auch die Augen nicht aufheben zum Himmel, sondern schlug sich an seine Brust und sprach: Gott, sei mir Sünder gnädig!

Die Szene aus dem Jerusalemer Tempelbezirk macht augenfällig, was Paulus im Brief an seine Galater beschreibt. Er unterscheidet gewissermaßen zwei Drehbücher. Auf der einen Seite gibt es ein Drehbuch voller Werke des Gesetzes; dafür steht der Pharisäer, der bibelfeste Theologe. Und es gibt auf der anderen Seite ein Drehbuch voller Glauben; dafür steht der Zöllner, der skrupellose Geldeintreiber. Wie seltsam: der moralisch hoffnungslose Fall des Zöllners ist gerade eine besondere Situation hingebungsvollen Glaubens: Gott, sei mir Sünder gnädig! Wo wir nichts mehr haben und deklarieren, dort beginnt das Reich des Glaubens.

Vielleicht rüttelt der Modellfall des Zöllners die Galater ein wenig auf. Denn ihr gepflegtes Leben unter dem Dach der Tradition und des Gesetzes schützt vor Sünde nicht. Was äußerlich recht und gerecht erscheint, ist bloß die schöne Fassade für einen schrägen Handel. Das regelmäßige Fasten des bibelfesten Pharisäers und seine Gabe des Zehnten werden wie ein religiöses Kapital angehäuft. Läßt sich damit am Ende Gottes Urteil und Gnade ersteigern? Wer alles für machbar und bezahlbar hält, der hält auch Gott im Himmel für käuflich. Stünde es in unserer Macht, kommentiert Martin Luther den Galaterbrief, dann würden wir uns den Gott schaffen, der unsere Leistungen respektiert. Die Sünde im rechten schönen Leben besteht in einer simplen Projektion: man schließt von seinem eigenen feinen Leben auf Gottes Urteil; man passt Gottes Gottsein der eigenen Lebensleistung an.

Das Drehbuch eines Lebens voller Werke des Gesetzes hat viele Seiten. Jeder von uns schreibt an diesem Skript mit. Der erwähnte Soziologe Gerhard Schulze beschreibt den Typus des Workaholic, des rastlosen und versessenen Arbeitsmenschen. Dahinter verbirgt sich weit mehr als das Beispiel des termingeplagten Managers, des publikationsgetriebenen Wissenschaftlers oder der unermüdlichen Politikerin in Wahlkampfzeiten. Eigentlich bewundern wir ja außerordentliche Arbeitsleistungen – sei es offen oder heimlich. Wir schreiben alle mit am Drehbuch eines Lebens voller Werke des Gesetzes. Immer wieder hofft man, damit das Leben zu gewinnen, Schritt für Schritt. Mit jedem Erfolg und mit jedem Karrieretreffer will man das Leben noch trefflicher erjagen. Es geht um die Suche nach der Erfüllung bis in die Haarspitzen. Von Zeit zu Zeit prüft man, ob man nicht doch besser ist als der andere. Ich danke dir, Gott, dass ich nicht bin wie die andern Leute, Räuber, Betrüger, Ehebrecher oder auch wie dieser Zöllner. Das ist einer der Sätze aus einem ganz bestimmten Skript: aus dem Drehbuch eines Lebens voller Werke des Gesetzes.

Für eine ganz andere Lebensorientierung wirbt, wie gesagt, Paulus, wenn er schreibt: Ich lebe, doch nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir. Hier öffnet sich das Drehbuch eines Lebens voller Glauben. Wie könnte man an solch einem Entwurf weiterschreiben? Wer übernimmt darin welche Rolle?

Wieder soll uns eine Szene helfen: eine dritte und beschließende Szene. Sie spielt in Innsbruck im 21. Jahrhundert. Es ist die Schlussszene des schwedischen Kinofilms „Wie im Himmel“.

III.

Der berühmte, weitgereiste und weltgewandte Dirigent Daniel Daréus stirbt unverhofft an einem jämmerlichen Ort: in der Herrentoilette des Innsbrucker Konzerthauses. Kurz vor dem Auftritt bricht der Dirigent mit einer Herzattacke zusammen. Niemand ist bei ihm. Nun liegt er sterbensallein auf den kalten Bodenfliesen. Doch er lächelt. Er lächelt, weil er über einen Lautsprecher die einsetzenden Konzertklänge hört. Es sind die schwebenden Klänge seines eigenen Chores. Er lächelt. Er ist nicht bei sich und seinem Schicksal, er ist ganz bei der Musik. Er lebt in diesem Moment nicht das eigene Leben. Er lässt sich tragen und durchströmen von einem ganz anderen Leben, das ihn klangvoll erfüllt. Mit den Bildern vom lächelnden Dirigenten, dahingebrochen in der Herrentoilette, endet der Film. Ob der Hauptdarsteller nun stirbt oder am Ende gerettet wird, das erschließt sich für den Zuschauer nicht. Letztlich ist das auch nicht das Entscheidende. Entscheidend ist dieser eine große Moment, in dem Daniel Daréus mehr war als er selbst. Das Leben hatte ihn erfüllt im Hören und Hineinhören auf ein Stück Chormusik.

Die Schlussszene aus dem schwedischen Film erzählt nicht buchstäblich von einer religiösen oder christlichen Erfahrung. Dennoch kann die Biographie des Dirigenten Daréus eine Erlebnisfolie dafür sein, was Paulus im Galaterbrief beschreibt: den Rollenwechsel, den Existenzwandel, die Rechtfertigung: Ich lebe, doch nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir. Auf diesen Rollenwechsel kommt es an: nicht ich habe das Leben, sondern das Leben hat mich. Es liegt in Christus erfüllt und bereitet. Dazu wurde er gekreuzigt, ist gestorben und auferstanden. Diese befreiende Entdeckung hat Paulus gemacht – und auf seine Weise die Filmfigur des schwedischen Dirigenten.

Während seiner großen Karriere verliert Daniel Daréus Stück für Stück sein Leben. Obwohl er weltweit vieles erlebt und fast alles erreicht, weiß er am Ende nicht, warum und wozu er leben soll. Völlig ausgehöhlt von seinen Konzerttourneen sucht er endlose Ruhe und Stille – ausgerechnet in seinem Heimatdorf in der schwedischen Provinz. Ganz langsam, kaum merklich, kriecht er in ein neues Leben hinein. Bald wird ihm die Probenleitung des Kirchenchores angeboten. Und dort, auf einfachstem Niveau, entdeckt er das am eigenen Leib, was sich an den großen Weltbühnen immer nur theoretisch sagen ließ: dass die Musik und ihr Klang bereits im Raum vorhanden ist und gar nicht gemacht und produziert werden muß. Dieses Vertrauen, diese Hingabe, dieses Erfülltsein lernt er nun selbst am Rande der Welt mit seinem im besten Sinn gotterbärmlichen Kirchenchor. Das abschließende große Chorfestival in Innsbruck erlebt der Chorleiter nicht mehr. Wir kennen die dramatische Schlussszene in der Herrentoilette des Innsbrucker Konzerthauses. Doch wie gesagt: Daniel Daréus lächelt. Er ist nicht bei sich und seinem Schicksal, er ist ganz bei der Musik. Er lebt in diesem Moment nicht das eigene Leben. Er lässt sich tragen und durchströmen von einem ganz anderen Leben, das ihn klangvoll erfüllt.

Die Schlussszene des Kinofilms „Wie im Himmel“ entlässt uns ins Leben. Die Lichter im Saal gehen gleichsam wieder an. Was haben wir gesehen? Was haben wir gehört?

Das Drehbuch eines Lebens voller Glauben ist für Paulus längst geschrieben. Wir müssen dafür nicht sterbensallein liegen wie der Dirigent Daréus. Wir müssen dafür nicht in die Ferne reisen nach Paris, Jerusalem, Innsbruck oder sonstwohin. Das Drehbuch eines Lebens voller Glauben spielt hier in dieser Stadt: in deiner Familie und Partnerschaft, in deinem Büro, in deinem Küchentopf. Gewiß, die Hauptrolle im Beruf, bei der Bewerbung, in der Prüfung und in der Freizeit muß man selber übernehmen. Aber die Hauptrolle für die Erfüllung bis in die Haarspitzen ist gesetzt und besetzt. Die Fülle des Lebens steht bereits im Raum. Sie muß gar nicht gemacht und produziert werden. Für dieses befreite Leben wirbt Paulus mit seinem persönliches Drehbuch:

Ich lebe, doch nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir. Denn was ich jetzt lebe im Fleisch, das lebe ich im Glauben an den Sohn Gottes, der mich geliebt hat und sich selbst für mich dahingegeben.

Dr. Johannes Block
Universitaet Leipzig, Institut fuer Praktische Theologie
Otto-Schill-Str.2
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Tel: 0341-9735460 Fax: 0341-9735469
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