Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, J. Neukirch, C. Dinkel, I. Karle

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12. Sonntag nach Trinitatis, 3. September 2006
Predigt zu Apostelgeschichte 3, 1-10, verfasst von Doris Gräb
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Liebe Gemeinde!

Wir wissen es längst: das Schöne und das Schreckliche liegen manchmal ganz dicht beieinander. Eine unvergleichlich schöne Landschaft – und mittendrin Müll, der da nicht hingehört. Lange herbeigesehnte, erholsame Ferientage – und dann ein Unfall, der furchtbare Folgen hat. Eine wunderbare Kathedrale mit herrlicher Außenfassade – und davor bettelnde Frauen, ihren Säugling an der Brust.

Und so ähnlich muss es nun auch, wir haben es eben gehört, an der schönen Pforte am Tempel in Jerusalem gewesen sein. Die Ausleger können sich nicht einigen, welches der Tempeltore denn gemeint sei. Jedenfalls: Mit korinthischem Erz soll es kunstvoll verziert gewesen sein – ein ästhetischer Genuss für alle, die es zu schätzen wussten. – Davor allerdings: ein Bettler. Schönes – und Schreckliches zugleich. Von Geburt an waren seine Beine gelähmt – von seinen Angehörigen wurde er täglich dorthin gebracht, um von den Betern einen Almosen zu erbitten. So, wie wir es aus Rom, aus Florenz, aus Mailand bis zum heutigen Tag kennen. Von all jenen herrlichen und viel besuchten Kirchen, wo sich mit den Touristen und den Betern auch die Bettler einfinden.

„Petrus und Johannes gingen hinauf in den Tempel, um die neunte Stunde, zur Gebetszeit. Und es wurde ein Mann herbei getragen, lahm von Mutterliebe; den setzte man täglich vor die Tür des Tempels, die da heißt die Schöne.“

Warum uns Lukas diese Geschichte vom Schönen und vom Schrecklichen, von der kunstvoll gestalteten Pforte und dem verkrüppelten Mann wohl erzählt? - Was will er uns sagen?

Unmittelbar nach der Pfingstgeschichte berichtet er fast übergangslos vom Entstehen des Christentums in den allerersten kleinen Gemeinden in Jerusalem. Keimzellen müssen es eher gewesen sein, noch verborgen in manchen Häusern der Stadt erst am Werden. – Lukas, der Historiker, wirft einen Blick darauf und weiß von ihnen zu berichten: „Sie blieben aber beständig in der Lehre der Apostel und in der Gemeinschaft und im Brotbrechen und im Gebet.“

Für mich bleibend faszinierend. Wie sie sich wieder gefunden haben trotz ihrer Verzweiflung über den Tod Jesu. Wie aus dieser Verzweiflung neue Hoffnung erwachsen konnte - und in der Mitte der Nacht der Anfang eines neuen Tages geboren wurde. Wie sich die Angst in Mut und in die Kraft verwandelte, anderen von diesem Jesus von Nazareth zu erzählen. Wie sich aus diesen Keimzellen eine weltumspannende Christenheit, die Ökumene, gebildet hat, im Laufe der Jahrhunderte bis zum Beginn des dritten Jahrtausends.

Wie klein muss alles angefangen haben, wir können es uns wahrscheinlich nicht bescheiden genug vorstellen. Doch das war ihnen von Anfang an wichtig: die Verkündigung des Evangeliums von Jesus Christus und das Gebet. Die Gemeinschaft beim Brechen des Brots und der vermutlich daran anschließenden gemeinsamen Mahlzeiten. Und, in den allerersten Anfängen zumindest bei den Jerusalemer Christen immer noch: der Besuch des Tempels zu den üblichen jüdischen Gebetszeiten. Also: die Rückbindung an die jüdische Herkunft und an den, der ihnen wie kein anderer vor ihm vom Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs zu predigen verstanden hatte. Kontinuität war ihnen aber offenbar auch wichtig in ihrem Tun. In der Zuwendung zu den Armen und Verachteten, in der Heilung der Kranken.

Petrus aber und Johannes gingen hinauf in den Tempel – der Bettler sah sie, und sie sahen ihn. „Petrus aber blickte ihn an mit Johannes.“ – Wie damals, als sie mit Jesus durch Galiläa gezogen waren – und ihnen die Blinden und Lahmen und Taubstummen buchstäblich vor die Füße gelegt wurden, damit sie gesehen und beachtet – und geheilt würden.

Es ist also genau so weiter gegangen in den ersten christlichen Keimzellen, wie es schon zu Jesu Lebzeiten gewesen war. Predigt und Gebet. Gemeinschaft und die liebevolle, freundliche Hinwendung zu den Ausgestoßenen und Verachteten. So setzten die Apostel ihre Wirksamkeit fort. So bildeten sich die Keimzellen der großen weltweiten Ökumene. Ich bin mir sicher, dass uns Lukas uns eben dieses so sagen wollte.

Aber da ist eben auch noch das andere, was uns beim Hören dieser Geschichte von den Anfängen einfach in die Augen fallen muß. Das Schöne und das Schreckliche. Das schöne Tor und der verkrüppelte Mann.

Die schönen Gottesdienste hinter der kunstvoll verzierten Pforte – und das Schreien der gequälten Kreatur vor der Tür. Welch ein Kontrast. Damals schon – und heute doch nicht weniger. Hier der Inbegriff von Ästhetik. Von Kunst und Kultur auf der Höhe der Zeit. Die schöne Schwelle hin zur Vergegenwärtigung des Heiligen. Zu den schönen Gottesdiensten im Haus des Herrn. Zu seinen lieblichen Wohnungen. Und dort: ein Häuflein Elend. Stellvertretend für alles Elend, alle Schrecklichkeiten dieser Welt.

Welch ein Kontrast – damals schon, und heute nicht weniger. „Ich kann das Geplärr eurer Lieder in euren vermeintlich schönen Gottesdiensten nicht hören“ – schreit der Prophet Amos, ein gewaltiger Sozialkritiker lange vor Christi Geburt. Was nützen euch die schönen Gottesdienste hinter den kunstvoll verzierten Toren, wenn ihr ihn nicht im Alltag der Welt fortsetzt und verwirklicht? Religion, Kultur, Ästhetik – abgehoben, ausgegrenzt aus dem Elend dieser manchmal so schrecklichen, verbesserungswürdigen Welt?

Wir merken, wie uns der Bettler vor der schönen Pforte auf Gegensätze hinweist, die uns unmittelbar angehen.

Wir, in unserer Gemeinde, wie sehr lieben wir unsere schönen Gottesdienste – ich vielleicht am allermeisten. Wie viel Kraft und Phantasie haben wir investiert, um sie weiter führen zu können – mit einem bestens qualifizierten Kantor, den wir uns eigentlich gar nicht mehr leisten können. Wie wichtig ist es uns, dass die Worte am Altar und auf der Kanzel zusammen klingen mit der Musik, die von der Orgelempore kommt und unsere Gottesdienste, so es denn gelingt, zu einem Gesamtkunstwerk werden lassen. Übersehen wir dabei womöglich den Bettler vor unserer Kirchenpforte? Das Elend der Welt, das Schreien der gequälten, benachteiligten Kreatur – aus lauter Liebe und Hingabe an die schönen Lieder?

Ich möchte mich das schon fragen lassen – und deswegen noch einmal genauer auf unsere Geschichte, auf die Geschichte von Petrus und Johannes an der schönen Pforte hören. Lukas, der grandiose Erzähler, malt uns das Bild ja höchst plastisch und eindringlich vor Augen. Es mischt sich mit den Bildern, die wir alle schon real gesehen haben. Hohe, höchste Baukunst – und ein Häuflein Elend unmittelbar davor. Drinnen die heilvolle Gegenwart Gottes – und draußen die heillose Welt.

Der Zeitpunkt ist gut gewählt. Zum Nachmittagsgebet strömen viele Beter in den Tempel – das wissen die Angehörigen gut. Da lohnt sich das Betteln.

Unter denen, die zum Gebet in den Tempel strömen, um sich hinter der schönen Pforte Gottes heilvoller Gegenwart zu vergewissern, sind auch Petrus und Johannes. Der heilige Raum, die heilige Zeit: beides ist nahe. Doch sie lassen sich, anders als der Strom der Beter, jetzt noch einmal unterbrechen.

„Als der Bettler nun Petrus und Johannes sah, bat er um ein Almosen. Petrus aber blickte ihn an mit Johannes und sprach: Sieh uns an! Und er sah sie an – und wartete…“ Ein intensiver Blickkontakt muss es gewesen sein. Von den Stehenden hinunter zu dem Sitzenden, und umgekehrt hinauf zu den beiden Männern. Ein Blick, der zum Standhalten zwingt. Hinsehen. Nicht einfach weiter gehen. Kein flüchtiger Blick. Nein, einer, der innehalten lässt und dann etwas in Bewegung bringt. Wer im täglichen Strom der Beter mag schon einmal so hingesehen und das Leid angesichts des Schönen wirklich wahrgenommen haben? Geht das überhaupt – so frage ich mich in diesem Augenblick selber. Petrus und Johannes schienen es zu können. Ihr Blick ist viel sagend.

„Silber und Gold habe ich nicht.“ So kostbar schätzt er den armseligen Bettler ein. Mit Silber und Gold legt er ihn gleichsam auf die Wagschale. Für so wertvoll halte ich dich – auch wenn ich dich real gar nicht in Silber und Gold aufwiegen kann. Kunstvoll von Lukas erzählt. Klug und leise verpackt er seine Botschaft. Dieser Blick, der die armselige Kreatur schon aufzurichten und - zu heilen - vermag. Dass der Bettler schließlich aufspringt und dann auch noch zum Beter wird, indem er in den Tempel geht und Gott zu loben beginnt, gehört zur Kontinuität, fügt sich ein in die fortlaufende Linie der Heilungsgeschichten. Ich möchte sie so stehen lassen. – und uns jetzt noch einmal fragen: Wie gehen wir denn nun um mit dem Schönen, das uns wohl tut – und dem Leid, das uns tagtäglich in die Augen fällt?

Eines können wir immer tun, nämlich Gott darum bitten, dass unsere schönen Gottesdienste nicht nur hinter den mehr oder weniger schönen Pforten unserer Kirchen stattfinden. Dass wir die Erfahrung seiner heilvollen Gegenwart vielmehr mit hinaus nehmen in den Alltag unseres Lebens und unserer Welt– und Er selber uns drinnen die Augen für das öffnet, was uns draußen vor die Füße gelegt ist.

Nein, auflösen werden wir die Spannung zwischen dem Schönen und dem Schrecklichen niemals können. Schon viel ist geschehen, wenn wir sie überhaupt wahrnehmen. Wenn wir uns unterbrechen lassen und sehen lernen.

Viel, viel schöner hat der Liederdichter Benjamin Schmolck von jenem Drinnen und Draußen gesagt und gesungen. Dem kann ich nichts mehr hinzuzufügen:

„Tut mir auf die schöne Pforte, führt in Gottes Haus mich ein. Ach, wie wird an diesem Orte meine Seele fröhlich sein. Hier ist Gottes Angesicht, hier ist lauter Trost und Licht.“ – Aber dann doch auch die Bitte für unser Leben draußen in der Welt:
“Mache mich zum guten Lande, wenn dein Samkorn auf mich fällt. Gib mir Licht in dem Verstande, und was mir wird vorgestellt, präge du im Herzen ein, lass es mir zur Frucht gedeihn.“

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, der bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen

Pfarrerin Doris Gräb
Burgfrauenstraße 79a
13465 Berlin
Tel 030/40585890
Email: dorisgraeb@gmx.de

 


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