Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, J. Neukirch, C. Dinkel, I. Karle

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14. Sonntag nach Trinitatis, 17. September 2006
Predigt zu Johannes 5,1-15, verfaßt von Hans-Ole Jørgensen (Dänemark)
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


(Text der dänischen Perikopenordnung)

Ich hörte einmal im Radio eine Sendung, in der der nun verstorbene Schriftsteller Egon Nielsen von einem Grab erzählte auf einem Friedhof irgendwo an der jütländischen Westküste, wo er zu Hause war. Das Grab gehörte einer Kleinbauernfamilie in der kleinen Gemeinde, und auf ihm standen drei kleine Kreuze, aufgestellt zur Erinnerung an die drei kleinen Kinder, die die Familie zur Unzeit hatte zu Grabe tragen müssen. Denn es kommt ja vor, dass Menschen das tun müssen. Auf einem der Kreuze standen die biblischen Worte: Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen.

Diese Worte mochten die Leute in dieser Gegend nicht leiden, erzählt Egon Nielsen. Denn da fehlte etwas. Das biblische Zitat stehe nicht in voller Länge da. Denn im Buch Hiob, wo es herkommt – und das wussten die Menschen in dieser Gemeinde –, steht: Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen; der Name des Herrn sei gelobt!

Das letzte – der Name des Herrn sei gelobt! – auf die Gräber zu schreiben, hatten die Eltern der drei kleinen Kinder nicht über sich bringen können. Denn das entsprach nicht dem, was sie selbst fühlten. Sie meinten nicht, der Name des Herrn sei für das zu loben, was ihnen geschehen war. Sie meinten, wenn es denn der Herr gewesen sei, der genommen habe, dann sei es jedenfalls zu ungerecht unpassender Zeit geschehen. Deshalb habe der Text in ihrem Fall nicht länger sein können: Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen. Die Leute mochten denken, was sie wollten.

Was sich in einer solchen Sache bemerkbar macht, hat mit unserem Gottesbild zu tun. Wogegen diese Eltern in ihrer Trauer über ihre gestorbenen Kinder verständlicherweise protestieren, ist das Denken über Gott, das nicht alles, was geschieht, seinen Willen und sein Handeln sein lässt, sondern das auch von uns verlangt, dass wir es widerspruchslos, ja mit dankbarem Sinn hinnehmen, in Trauer wie in Freude und völlig ohne Rücksicht darauf, ob wir nun menschlich und natürlich irgendetwas dabei fühlen.

In diesem Gottesbild sagt Hiob im Alten Testament: Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen; der Name des Herrn sei gelobt!

Aber haben die Eltern nicht Recht? Ist Gott nicht ein zynischer Gott, wenn wir so denken sollen? Ein Gott, dem sein Mensch gleichgültig ist? Dem gleichgültig ist, was wir menschlich und natürlich erleben, wenn wir unser Leben leben und dann immer wieder von Unglück geschlagen werden?

Ja, das stimmt. Und deshalb passt dieses Denken auch nicht mit Jesus zusammen.

Es passt zum Alten Testament. Oder jedenfalls zu bestimmten Seiten des Alten Testaments. Dort können wir ohne Weiteres Züge eines Gottes bezeugt finden, der der Ursprung aller Dinge ist, der guten wie der bösen, eines Gottes, der mit den Geschicken des Schicksals in seiner machtvollen Hand seine Geschöpfe sowohl freigebig belohnt als auch grausam bestraft, und der sogar manchmal launenhaft und despotisch und nach einem eigenartigen Behagen mit Menschen handeln kann, so dass Sinnlosigkeit und Ungerechtigkeit daran gen Himmel schreien. Wir haben heute auch Ansätze zu solchen Gedanken über Gott gehört. In der Lesung sagte der Psalmist über sein Leiden zu Gott (39,10): „denn du hast es getan.“

Aber zu Jesus passt es nicht. Und deshalb dürfen wir auch mit den leidenden Eltern aller Welt fühlen in ihrer Trauer über Kinder, die sie verloren haben – und da gibt es reichlich, woran man denken kann –, oder in irgendeinem anderen unbilligen Schmerz, der Menschen getroffen haben kann, mit ihnen fühlen in dem Trost: was immer sie und vielleicht auch wir selbst an Schlimmem und Schrecklichem erlitten haben, es ist nicht Gott, der es so gewollt hat.

Zwar ist es immer eine Voraussetzung, wenn wir über Gott nachdenken und über ihn sprechen, dass es Geheimnisse bei ihm gibt, in die zu dringen Menschen nicht beschieden ist. Aber der Gott, der sich in Jesus zu erkennen gegeben hat, sieht anders aus.

Hin und wieder müssen wir sicherlich einander in Erinnerung rufen, dass, wenn wir in unseren Gottesdiensten aus den alttestamentlichen Texten lesen, es öfter geschieht, um zu provozieren oder das hervorzuheben, was mit Jesus ins Feld geführt wird, als um die endültige Wahrheit über etwas auszusagen. Immer wieder hören wir in diesen alttestamentlichen Texten etwas, was im Evangelientext gewaltig und entscheidend korrigiert wird, wenn wir dahin kommen. Und so ist es z.B. auch heute.

Denn hätte Jesus von dem kranken Mann am Teich Betesda, der dort 38 Jahre krank gelegen hatte, gedacht, dass ihm sein Leiden von Gott gegeben war, dann hätte er kaum eingegriffen und ihn geheilt.

Einige der Kranken – und vielleicht auch der Mann selbst – haben möglicherweise gedacht, dass sie in ihrem Leiden von Gottes Strafe, von seinem Zorn, seiner Ungunst oder seinem Vergessen getroffen seien. Denn sie standen der Welt des Alten Testaments nahe. Aber in dem Bericht selbst – wie er im Neuen Testament erzählt ist – sind die Krankheit und das Leiden verstanden nicht als etwas, was Gott gesandt hat, sondern als etwas, was auch ihm feindlich ist und wogegen er etwas hat. Sonst hätte Jesus ja keinen Grund zum Eingreifen gehabt.

Wir stehen hier vor einer entscheidenden Berichtigung der Gedanken, die im Alten Testament über Gott gedacht werden. Und sie ist wichtig. Denn bekommen wir sie nicht mit, dann können wir das Unglück und sein Wüten, das Leiden und alle seine unangemessenen und zufälligen Angriffe unter uns nicht von dem unterscheiden, was Wille und Handeln Gottes ist. Und dann können wir nicht protestieren, wenn wir getroffen werden. Wir können uns kaum erlauben zu trauern. Denn wenn Gott all dies über uns bringt, dann haben wir uns ihm demütig zu fügen. Nur zu sagen, der Name des Herrn sei gelobt, auch wenn uns das Leben schwer wird und unerträglich und wir menschlich und natürlich nur trauern und weinen oder vor Schmerzen nur schreien können.

Würden wir darauf verzichten, würden wir Unmenschen sein. Und das ist nicht der Sinn des Christentums.

Am Teich Betesda sehen wir in einem unheimlichen Konzentrat die Welt bei uns, die allzu sehr von blindem Zufall und grundlosem Leiden erfüllt ist.
Wir sehen es an den Kranken. An denen, die hier jetzt auf diese Weise so zufällig getroffen sind. Aber wir sehen es auch an denen, die geheilt werden. Wir können nicht von der Frage loskommen: Warum ausgerechnet sie?

Und wir könnten jeweils mit unseren eigenen Beispielen fortfahren, mit Beispielen aus unserem eigenen Leben oder dem Leben unserer Lieben, von der furchtbaren Tragödie mit den vielen Kindern in Russland, von den Flüchtlingslagern und Gefängnissen in der ganzen Welt und so weiter und so weiter, jeder Tag hat allzu viel zu bieten von der Art, was von dem Gott, der sich in Jesu Leben als ein Gott der Barmherzigkeit gezeigt hat, nicht über die Menschen gebracht worden ist.

Im letzten Lied von heute wollen wir von Gott singen, dass er Schnee fallen ließ, der gegen den harten Frost schützt, und es milde wieder tauen und regnen und im Frühjahr warm werden ließ, – bei uns in Dänemark können wir das für gewöhnlich gut singen. Aber anderwärts in der Welt mag das manchmal nicht so leicht sein. Denn da verlief die Ernte vielleicht nicht wie bei uns. Und was sollen die Menschen dann von Gott denken? Sollen sie dann denken, dass er ihnen nicht gut gesonnen ist? Es kann ihnen leicht so erscheinen, aber das ist nicht christlicher Glaube.

Christentum ist, was etwas später in dem Lied steht, dass Gott ein Gott ist, der sogar von der Not der Raben berührt wird. Und nicht will, dass jemand der Seinen ohne täglich Brot sein muss.

Und wenn die Wirklichkeit dann eine andere ist, dann ist sie es aus anderen Gründen. Weil etwas kaputtgegangen ist. Und weil auch Gott nicht Macht genug hat, seine Barmherzigkeit zu stützen.

Über den Mann am Teich Betesda müssen wir uns ähnliche Gedanken machen. Denn er wurde von der Barmherzigkeit Gottes getroffen, aber was geschah mit den anderen?

Und deshalb müssen wir auch mit dem enden, was über alle Jesu wunderbaren Taten zu sagen ist: wenn da nicht mehr in ihnen zu holen wäre als das, was sie als konkrete Wohltaten gegenüber den bestimmten Menschen, die sie trafen, waren, dann wäre das zu wenig, um den Grund einer dauerhaften Freude bei uns zu bilden. Und deshalb müssen wir sie, diese wunderbaren Taten, als das sehen, was sie auch waren: Zeichen des Willens und Wesens Gottes.

Jesu wunderbare Taten waren nicht genug. Sie hatten keinen großen Nutzen in einer Welt, die damals wie heute voller Not und Tod und Elend ist. Aber als die Zeichen, die diese Taten auch waren – Zeichen für den Willen und das Wesen Gottes –, wurden sie zur Grundlage für einen Glauben der Menschen, für einen Glauben, den man als ein Gut in sich trägt, wenn ein Menschenleben zu leben ist, und nicht zuletzt, wenn es im Kampf zu leben ist und uns das Gefühl zu übermannen droht, dass wir hier nicht erwünscht sind.

In dem Glauben, den Jesus uns auf diese Weise dargeboten hat, ist dem Gefühl so stark widersprochen, wie es überhaupt möglich ist. Denn lassen wir die Zeichen, die in Jesu Leben waren – die Zeichen, die mehr als irgendwo sonst in der Taufe als ein Liebeszeichen deutlich werden – lassen wir dies in unserem Leben das Fundament der Wahrheit sein, so dass wir uns in all unserem Schicksal auf unseren Wegen gefolgt wissen von dem liebenden Herzen des Vaters, dann sind wir für das, was wir bestehen und dulden müssen, besser gerüstet, als wir es sonst wären.

Für das Liebeszeichen, das für uns den guten Willen Gottes bezeugt, der wohl in seiner Macht wanken kann, aber nie in seiner Acht, ist es gut und wahr, den Namen des Herrn zu loben. Das ist es natürlich auch für das Leben, das wir haben werden – und seine Gaben, wenn es mit dem zusammenpasst, was wir menschlich und natürlich fühlen.

Aber zerbricht es dir, darfst du weinen.

Gott wird allem Leid eines Tages ein Ende machen. Wie das geschehen wird? – das zu wissen, ist uns nicht gegeben, auch nicht, wann es geschehen wird. Bis auf Weiteres müssen wir das Leben leben, das wir kennen, die guten wie die schlechten Tage, unsere Kämpfe durchstehen, und auch diejenigen, die den anderen gelten, so tapfer und munter, wie wir es vermögen. Aber dies ist uns als eine Stärke in dem Kampf gegeben: niemals zu glauben, wir würden von dem Gott vergessen, der uns von Anfang an für ein Leben schuf, das sehr gut war, und der es immer im Sinn hat.

Amen!

Pastor Hans-Ole Jørgensen
Hyrdestræde 5
DK-6000 Kolding
Tel.: +45 75 52 06 61
E-mail: haoj@km.dk

Übersetzung aus dem Dänischen: Dietrich Harbsmeier

 


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