Göttinger Predigten im Internet
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15. Sonntag nach Trinitatis, 24. September 2006
Predigt zu Galater 5, 25-26; 6,1-3.7-10, verfaßt von Hansjörg Biener
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Beerdigungsgespräch mit einem Mann, der nach längerer Pflege seine Frau zu Grabe trägt. Alzheimer lautet das Stichwort. Im Trauergespräch erzählt er davon. Besonders eindrücklich ist mir, wie er überall Geld findet, das seine Frau in ihrer Verwirrung versteckt hat. In Sofaritzen, in Dosen und hinter Schränken. Und dann macht er eine Pause. Er schaut er mich an und sagt: „Einer trage des anderen Last - das haben wir getan.“ Von diesem Moment bin ich bis heute beeindruckt. „Einer trage des anderen Last - so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen.“ Dieser früher häufig gegebene Trauspruch gehört zu Mahnungen am Ende des Galaterbriefs und ist ein Vers aus dem heutigen Predigttext. Doch habe ich auch Menschen begleitet, die ihren Partner ins Pflegeheim geben mussten, weil die häusliche Pflege zur Überlast wurde. Vielfältig ist das Leben, und die Frage, wie wir das „Gesetz Christi“ erfüllen können, wird Thema der Predigt werden.

Einen Vers des heutigen Predigttextes habe ich schon vorweggenommen. Er ist in den Luther-Bibeln fett gedruckt. Als Kernvers zum Auswendiglernen, der dann auch seine Wirkungsgeschichte entfaltet hat. Als Trauspruch zum Beispiel, den der erwähnte Ehemann mit seiner „Pflege bis zuletzt“ auf beeindruckende Weise ausgelegt hat. „Einer trage des anderen Last“. Wie eine christliche Grundregel steht das in einer ganzen Sammlung von Ratschlägen und Ermahnungen, mit denen Paulus seine Briefe üblicherweise beendete:

„ Wenn wir im Geist leben, so laßt uns auch im Geist wandeln. Laßt uns nicht nach eitler Ehre trachten, einander nicht herausfordern und beneiden.
Liebe Brüder, wenn ein Mensch etwa von einer Verfehlung ereilt wird, so helft ihm wieder zurecht mit sanftmütigem Geist, ihr, die ihr geistlich seid; und sieh auf dich selbst, daß du nicht auch versucht werdest.
Einer trage des andern Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen.
Denn wenn jemand meint, er sei etwas, obwohl er doch nichts ist, der betrügt sich selbst. (...)
Irret euch nicht! Gott läßt sich nicht spotten. Denn was der Mensch sät, das wird er ernten. Wer auf sein Fleisch sät, der wird von dem Fleisch das Verderben ernten; wer aber auf den Geist sät, der wird von dem Geist das ewige Leben ernten. Laßt uns aber Gutes tun und nicht müde werden; denn zu seiner Zeit werden wir auch ernten, wenn wir nicht nachlassen. Darum, solange wir noch Zeit haben, laßt uns Gutes tun an jedermann, allermeist aber an des Glaubens Genossen .“ (Galater 5,25-26; 6,1-3.7-10)

Die Ausleger streiten, ob Paulus hier noch auf die Gemeindesituation eingeht oder ganz allgemein gute Ratschläge erteilt. Um nicht in Spekulationen zu fallen, welche Verfehlungen und welche Sünder er meint, welche Briefempfänger nun da in Galatien fleischlich leben und welche geistlich, möchte ich den Predigttext annehmen auch als Gottes-Wort an uns, nicht in Galatien, sondern in Germanien, nicht mehr nahe an der Jesus-Zeit, sondern viele Jahrhunderte später.

Vielfältig gewandelt hat sich das Leben seither, und verändert hat sich auch, was wir aus der Bibel hören und verstehen. Der Gegensatz von Fleisch und Geist beispielsweise muss erklärt werden. Es geht hier nicht einfach um einen Gegensatz von Fleischeslust einerseits und Enthaltsamkeit andererseits. Paulus denkt auch daran, aber er denkt an viel mehr. Wenige Verse vor unserem Predigttext hat er im Galaterbrief deutlich unterschieden, zwischen Früchten eines Lebens ohne Gott und Früchten eines Lebens im Kraftfeld des Heiligen Geistes. Auf der einen Seite nennt er

„ Unzucht, Unreinheit, Ausschweifung, Götzendienst, Zauberei, Feindschaft, Hader, Eifersucht, Zorn, Zank, Zwietracht, Spaltungen, Neid, Saufen, Fressen und dergleichen. (...) Die Frucht aber des Geistes ist Liebe, Freude, Friede, Geduld, Freundlichkeit, Güte, Treue, Sanftmut, Keuschheit.“ (Galater 5,25-26; 6,1-3.7-10)

Ein Echo haben wir in den Mahnungen unseres Predigttextes, nicht „fleischlich“, sondern „geistlich“ zu leben. Zwei Beispiele nennt Paulus. Die Gemeinde soll nicht mit Fingern auf Gemeinde-bekannte Sünder zeigen. Vielmehr soll man sie wieder mitnehmen auf den besseren Weg der Heiligung. Und zweitens soll man nicht geizen und neiden, sondern gerne Gutes tun und teilen. Mitten in diesen Zusammenhängen steht nun auch dieser Merksatz von dem Lasten tragen und dem Gesetz Christi erfüllen.

Ich möchte Sie mitnehmen in eine Erkundung der Herzen, angesichts dieses „Einer trage des andern Last.“ Man kann das ja ganz verschieden hören, je nach den Lebenserfahrungen, die man gemacht hat.

Als Verpflichtung beispielsweise, die man auf sich nimmt und an der man mindestens an dieser Stelle zu einem beeindruckenden Menschen wird, wie jener Mann aus dem Trauergespräch. Dieser Mann verband sein Tun ausdrücklich mit seinem Trauspruch. Andere erwerben sich in ihrer Umgebung den Respekt, ohne dass ich sofort ein Bibelzitat dazu höre. Welch eine Lebensleistung, wenn Nachbarn sagen: Donnerwetter, das hätte ich ihm gar nicht zugetraut. Ich denke hier zum Beispiel an einen Lehrer aus meiner Schulzeit. Ein harter Mann, der im Ruhestand aber seine Frau hingebungsvoll pflegte. Doch neben diesem Gelingen, wo Menschen fremde Lasten mittragen, habe ich in meinem Beruf auch die Überlastungen gesehen, die zum Beispiel Pflege mit sich bringt.

Darum höre ich in der Aufforderung zum Fremde-Lasten-Tragen nicht nur die Forderung, sondern auch die Über-Forderung. Ich höre in mir den Widerspruch: „Habe ich nicht schon selber genug zu tragen? Soll ich mir noch mehr aufhalsen an Aufgaben, und das vielleicht nicht nur von Menschen, die ich liebe oder einmal geliebt habe, sondern auch von Menschen, die mir insgesamt schon wie eine Last sind?“ Gerade Menschen, die es ernst meinen mit der christlichen Nächstenliebe, können hier in einen schweren inneren Konflikt kommen. Auf der einen Seite das Gefühl der Pflicht, auf der anderen Seite Müdigkeit vom vielen Helfen und freudlose Freundlichkeit. Manchmal spürt man noch, dass sich da ein Graben zwischen Anspruch und Wirklichkeit aufgetan hat. Manchmal spüren es nur die anderen.

Für Paulus aber war das „Gesetz Christi“ offenbar völlig klar, und die ersten Christen haben das verstanden. An anderer Stelle zitiert Paulus ein frühes Kirchenlied:

„ Seid so unter euch gesinnt, wie es auch der Gemeinschaft in Christus Jesus entspricht:
Er, der in göttlicher Gestalt war, hielt es nicht für einen Raub, Gott gleich zu sein,
sondern entäußerte sich selbst und nahm Knechtsgestalt an, ward den Menschen gleich und der Erscheinung nach als Mensch erkannt.
Er erniedrigte sich selbst und ward gehorsam bis zum Tode, ja zum Tode am Kreuz.
Darum hat ihn auch Gott erhöht und hat ihm den Namen gegeben, der über alle Namen ist.“ (Phil. 2,5-9)

Er, der in göttlicher Gestalt war, blieb nicht fernab der Welt in der seligen Ruhe olympischer Götter, sondern erschien in menschlicher Gestalt, in einem menschlichen Körper, der manchem Menschen schon selber wie eine Last erscheint, in einem Leben, das das Kreuz als allerletzte Last zu tragen hatte. Nun weiß ich, dass ich nicht Jesus bin, der nach der kirchlichen Tradition alle Lasten der Welt auf sich nahm, damit die Menschheit mit Gott ins Reine käme. Aber Paulus beansprucht, Jesus im Lastentragen nachzufolgen. Die Lutherbibel hat hier einen Querverweis: „2. Kor. 11,29.“ Und ich könnte noch andere anfügen, wie Paulus schreibt, dass er sich aller und jeder annimmt.

Wo bleibt mir die Gute Nachricht angesichts dieser Herausforderung des „Gesetzes Christi“? An drei Einsichten will ich mich orientieren.

Das „Einer trage des anderen Last“ ist nicht einfach ein Wort an einzelne oder an Ehepaare. Es ist ein Wort an die christliche Gemeinde. Im Kraftfeld des Geistes soll sie gemeinsam Lasten tragen, damit Lebensnöte gemeinsam besser ertragen werden können. So bin ich dankbar, dass es immer noch Nachbarn gibt, die ganz selbstverständlich mit auf einen Senior achten und den einen oder anderen Dienst übernehmen. Ich freue mich, dass es auch in unseren volkskirchlichen Gemeinden trotz aller Größe und Anonymität gewachsene Gemeinschaften gibt, die sich beim Lastentragen helfen, aus Mutter-Kind-Kreisen heraus, aber auch dann, wenn ein Frauenkreis längst zum Seniorinnenkreis geworden ist. Und ich kann mich erinnern an die zahlreichen Dienste, die die Institution Kirche trägt: Essen auf Rädern und die Diakonie insgesamt. Hier sind Menschen am Werk, die durch gemeinsames Tragen anderer Lasten „Christi Gesetz“ erfüllen.

Da hinein kann ich dann mit meiner Kraft üben gute Ritterschaft, und tun, was dem Menschenleben nützt. So kann ich die Verpflichtung als Richtungsangabe dann doch annehmen, sich nicht herauszuziehen aus der nächstenliebenden Verpflichtung, sich nicht heraus zu halten aus den Lasten der anderen.

Zuerst und zuletzt muss ich mir sagen lassen: Vor allem eigenen Handeln stand Gottes Handeln an mir. Und dann kann ich sagen: Auch die Lasten der anbefohlenen christlichen Nächstenliebe lassen sich Gott anheim stellen.

Wo also stehe ich nach dieser Erkundung des Herzens? Wo also stehen wir, wenn Sie mitgegangen sind? Ich sehe Menschen, die an ihren Herausforderungen gewachsen sind. Sie sind unter den Lasten, die sie durch ihre Lieben und andere Menschen vielleicht auch tragen mussten, nicht zusammengebrochen, nicht bitter geworden, sondern beeindruckende Menschen. „Gott sei Dank“, will ich da sagen, dass sie sich bewährt haben, und hoffen, dass auch ich mich bewähre, wenn mir besondere Lasten zufallen. Ich sehe aber auch pflegende Angehörige, denen die Nächstenliebe zur Überlast wurde, und Profis der Nächstenliebe, die in sich selber hart geworden sind. Helf Gott, will ich da sagen, dass sie den Rest eigenes Leben wieder ans Tageslicht bringen und die Flamme des Herzens sie wieder wärmt. Festhalten will ich mich daran, dass all mein Tun selber getragen bleibt in Gottes Zuwendung zu mir.

Amen.

PD Dr. Hansjörg Biener
Neulichtenhofstr. 7
DE-90461 Nürnberg
www.biener-media.de


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