Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, J. Neukirch, C. Dinkel, I. Karle

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16. Sonntag nach Trinitatis, 1. Oktober 2006
Predigt zu Apostelgeschichte 12, 1-11, verfaßt von Jochen Arnold
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


(Ohne Anrede oder Erklärung. Die Stimme des Petrus sollte über Mikrofon aus dem Altarbereich und die des Engels von der Empore kommen. )

Engel: Petrus! Steh auf und zieh dich an! Du bist frei!
Petrus: Wie bitte? Was? Wer bist du überhaupt?
E: Petrus, steh auf! Du bist frei! Komm zu dir!
P: Das kann gar nicht sein, ich liege hier wie ein Schwerverbrecher angekettet zwischen zwei Soldaten. Von Freiheit keine Spur!
E: Petrus, steh auf, die Ketten sind weg, Du kannst gehen. In die Freiheit! Du bist begnadigt von höchster Stelle!

Liebe Gemeinde,
haben Sie sie schon erkannt, die kleine Episode aus unserem heutigen Predigttext?
Eine faszinierende Geschichte. Göttliches Licht in menschlichem Dunkel. Doch hören Sie selbst:

Text Act. 12,1-11 (evtl. mit drei Stimmen: Erzählerin, Petrus, Engel)

I
Liebe Schwestern und Brüder!
Licht und Schatten gibt es zuhauf in dieser Geschichte, einer Glaubensgeschichte, ja einer Wundergeschichte. Die Niederungen und das Dunkel kennen wir ja nur zu gut. Selbst wenn die wenigsten von uns bisher ein Gefängnis von innen gesehen haben mögen, so kennen wir doch einschlägige Bilder von Gefangenen und Gefolterten aus dem Fernsehen oder aus der Zeitung.
Da liegt also einer in Ketten, unschuldig. Ein politischer Häftling. Einer, der um seines exotischen Glaubens, um seines Bekenntnisses zu einem auferstandenen Wanderprediger willen „einsitzt“, und das ohne Haftbefehl und ohne Verhandlung.
Wer steckt dahinter?
Der politische Opportunist König Herodes Agrippa I., ein persönlicher Freund des Kaisers Claudius in Rom, hat Petrus rechtzeitig zum jüdischen Passafest „einbuchten“ lassen.
Und damit hat es ihn noch nicht einmal am schlimmsten erwischt. Seinen Freund Jakobus, den Bruder des Johannes und Sohn des Zebedäus, kostete es sogar den Kopf. Bei Nacht und Nebel wird er abgeführt und sein Haupt den Honoratioren von Jerusalem als eine Art „Morgengabe zum Fest“ vor die Füße gelegt. Ohne Prozess, einfach so. Schaurige Zeiten für die Jünger des Auferstandenen, die ersten Pogrome sind voll im Gange. Christen geraten zwischen die Mühlsteine der Politik [und das bis heute immer wieder.]

Manches – nicht nur das Datum das Passafestes – mag uns dabei an das Leiden und Sterben Jesu erinnern. Zu Recht, liebe Gemeinde, denn diese Geschichte ist eine Passions- und Ostererzählung, wie sie auch unter uns passieren könnte.

Doch stimmt das? Ist dieses Wunder nicht unendlich weit weg von uns und unserer Wirklichkeit? Hören wir einmal weiter!

E: Auf geht’s jetzt Petrus! Zieh deine Schuhe an und dein Hemd, sonst erkennen dich draußen die Schergen des Herodes! Und vergiss deinen Mantel nicht!
P: Wer bist du? Wer hat dir erlaubt, zu mir herein zu kommen? Lass mich doch weiterschlafen. Mein Schicksal ist hart genug.
E: Ich habe von deiner Gefangenschaft gehört und bin beauftragt, Dich zu befreien.
P: Woher kommst du? Arbeitest du hier? Gehörst du zum Personal? Hast du überhaupt einen Schlüssel für das äußere Tor?
E: Das Tor wird offen sein. Ich handle auf Anweisung von höchster Stelle.
P: Willst Du mich verführen, etwas Unrechtes zu tun? Es ist mir nicht erlaubt, hier auszubrechen! Mein Platz ist hier im Kerker!
E: Dein Platz ist draußen in der Freiheit. Menschen warten auf dich. Gott braucht dich!

Das hört sich schon anders an, liebe Schwestern und Brüder. Da soll einer befreit werden und versteht gar nicht, was los ist; begreift gar nicht, wer wirklich die Fäden zieht; spürt gar nicht, dass Gott selbst es ist, der das Steuer in der Hand hat.
Ich bekenne, dass ich nur allzu oft ähnlichen Widerstand leiste. Ich frage mich deshalb:
Bin ich noch aufmerksam für das Handeln Gottes in den Niederungen unseres, meines Menschseins? Versuche ich nicht oft schnell zu erklären, zu rationalisieren, zu entmythologisieren, den aufregendsten geistlichen Erfahrungen ihren Glanz zu nehmen?
Auch hier läge das nahe. Wir könnten zum Beispiel Vermutungen über jenen Engelboten anstellen, jenen rätselhaften Befreier aus der Not: Ist es ein heimlicher Jesus-Sympathisant, eine Art Hauptmann von Kapernaum oder gar ein zelotischer Guerillero?
Wir erfahren es nicht. Aber es ist einer, der Bescheid weiß und das Richtige tut, der zum rechten Zeitpunkt einem Gefangenen zum Engel, und damit zum Handlanger Gottes wird.
Hören wir nochmals, was er sagt:

E. Komm jetzt, Petrus. Es ist Zeit. Zieh dich an.
P: Das kann doch nur ein Traum sein. Ein allzu schöner Traum.
E: Es ist kein Traum! Steh auf!
P: Aber was spricht eigentlich dagegen? Warum sollte ich es nicht wagen? Ihm folgen dem Fremden. Zu verlieren habe ich nichts. Eigentlich kann es nur besser, nur heller, nur leichter werden.

Was spricht eigentlich dagegen, liebe Mitchristen, was spricht dagegen, genau das zu tun? Das muffige Gefängnis unserer Angst, den Kerker der Hoffnungslosigkeit und des Zweifels zu verlassen? Was spricht dagegen, dass du mit Petrus die Ketten deiner Skepsis und Ängstlichkeit hinter dir lässt und durch das große Tor der österlichen Hoffnung hinaus auf freien Raum gehst? Dass du gegen all diejenigen das Wort erhebst, die sagen: „Ach was! Alles nur Träumerei. Ein persönlicher Gott? Das ist eine Phantasie von Kindern und alten Leuten! Ein Gott, der heute für mich da ist? Unsinn!“
Lass dich heute morgen ermutigen, diesen Sprung zu machen: Weg von der penetranten Skepsis hin zu einem Glauben, der österliche Freiräume eröffnet und das „Leben pur“, das Leben Gottes, in sich birgt.
„Nun weiß ich, dass Gott mir wahrhaftig seinen Engel gesandt hat“ bekennt Petrus am Ende und deutet damit seine Befreiung als Rettungstat Gottes. Vielleicht war es einen Tag später, vielleicht auch erst eine Woche oder einen Monat, nachdem das Alles passiert ist. Das ist auch nicht entscheidend. Beweisen kann er sowieso nichts. Aber er spricht es aus, für sich selbst und für Andere. Er geht nicht einfach zur Tagesordnung über, sondern behält diese Glaubenserfahrung als einen Schatz, als eine ganz persönliche Ostergeschichte, als ein Erlebnis mit Gott, das er auch mit uns heute Morgen teilen will.

Lassen Sie uns von Gott wieder etwas erwarten, liebe Gemeinde. Ihn gerade im Verborgenen unseres Alltags entdecken und – wer weiß – vielleicht selbst zum Engel für Andere werden.

(*) Vielleicht zu einem Engel benachteiligter Kinder oder einem Engel für Alte und Sterbende, ich weiß es nicht. Aber eines ist sicher: Der Tod hat seit Ostern nicht mehr das letzte Wort, auch wenn es manchmal wie bei Petrus „verdammt“ danach aussieht. Und es gibt sie, die Osterboten, auch heute mitten unter uns:

Rudolf Otto Wiemer dichtete:
Ein Engel steht abends im Tor.
Er hat gebräuchliche Namen.
Und sagt, wenn ich sterbe:
Steh auf!

[Alternativ ab *:

Ein solcher Engel war für viele Menschen die finnische Seelsorgerin Mathilda Wrede. Man hat sie immer wieder als „Engel der Gefangenen“ bezeichnet. Tief eingeprägt hat sich ihr, wie einem ungefähr gleichaltrigen Jugendlichen bei einem Schmied die Handschellen angelegt und er dann ins Gefängnis abgeführt wurde. Ergriffen von der Gewissheit, dass Gott die Menschen liebt, begann sie sich, für die Rechte und den seelischen Frieden von Häftlingen einzusetzen. Sie scheute keine politischen Grenzen und kümmerte sich sogar um gefangene Soldaten der roten Armee, die das eigene Land angegriffen hatten.
Einmal sagte ihr ein Häftling: „Wissen Sie, was das Schrecklichste für mich ist? Wenn ich auf mein Leben zurück blicke, sehe ich nur Hass und Böses.“
Was tat Mathilda Wrede? Sie bat den Gefangenen um einen Gefallen. Er sollte ihr etwas von seiner Mahlzeit und einem Glas Dünnbier abgeben (das sie gar nicht mochte). So verhalf sie dem Menschen zu einer neuen Selbstachtung und gab ihm neuen Mut zum Leben. Vielleicht konnte auch er danach sagen: „Nun weiß ich, dass Gott mir wahrhaftig seinen Engel gesandt hat.“]


Und der Friede Gottes, welcher höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus, unserem Herrn
Amen.

Dr. Jochen Arnold
Arbeitsbereich für Gottesdienst und Kirchenmusik
Michaeliskloster Hildesheim
Jochen.Arnold@michaeliskloster.de


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