Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, J. Neukirch, C. Dinkel, I. Karle

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16. Sonntag nach Trinitatis / Erntedankfest, 1. Oktober 2006
Predigt zu Johannes 11, 19-45, verfaßt von Erik Bredmose Simonsen (Dänemark)
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


(Erntedankfest, Text der dänischen Perikopenordnung)

So ist denn die Ernte für dieses Jahr geborgen – trotz allem, kann man fast sagen, denn das Wetter war bestimmt nicht besonders erntefreundlich.

Allerdings, heutzutage besitzen wir im Großen und Ganzen auf allen Gebieten in unserem Verhältnis zur Natur so zahlreiche Hilfsmittel, dass wir uns jedenfalls in einem gewissen Ausmaß von den Launen der Natur unabhängig gemacht haben. Mähdrescher und Getreidetrockner sind nur einige wenige der Maschinen, die uns in die Hände gegeben sind und die die Ernte zu etwas ganz anderem machen, als sie es noch vor nur einer Generation war. Und vermutlich ist das auch der Grund dafür, dass man nicht in die große Panik geriet, obwohl Regen und Schauer in der Erntezeit ununterbrochen unser Land heimgesucht haben.

Vielleicht ist diese scheinbare Befreiung von der Natur auch Teil des Hintergrundes dafür, dass heutzutage auch die Gottesfurcht mehr oder weniger in Vergessenheit geraten ist. Wir fürchten anscheinend weder die Natur noch Gott mehr.

Gott wird nicht mehr als der Garant von überhaupt irgendetwas erlebt, allerhöchstens als eine mehr oder weniger gute Idee oder ein Prinzip, zu dem man sich verhalten kann, wie man sich zu allen möglichen anderen Ideen und Prinzipien verhält. Man kann dafür oder dagegen sein, wie man für oder gegen so viel Anderes sein kann.

Es ist nicht ungewöhnlich, wenn man hört, dass die Leute Gott ablehnen und sagen, nein, ich meine nun eher, dass wir selbst bestimmen sollen o.ä.

Im Grunde ist es ja recht grotesk, sich auf diese Weise zu Gott zu verhalten, als wäre er einer, für den man mehr oder weniger sein könnte, oder als wäre es eine Frage, inwieweit Gott oder wir selbst bestimmen sollen. Es steckt etwas unglaublich Naives, ja Kindliches in einer derartigen Vorstellung. Aber so ist es nun einmal heutzutage, weil Gott nicht mehr als allmächtig aufgefasst wird, als einer, den man fürchten muss. Gott ist stattdessen ein gleichwertiger Partner im Dasein geworden, vielleicht rangiert er ein kleines Bisschen höher, als wir uns selbst auffassen, vielleicht auf derselben Ebene wie Königin Margrethe, aber dann ganz bestimmt auch nicht höher.

Es kann da nicht verwundern, dass immer mehr Leute anscheinend fühlen, ihr Dasein sei oberflächlich und ohne Spannung. Wenn man sich nichts mehr sagen lassen will, ja, dann gibt es folgerichtig auch nichts mehr, was einem etwas zu sagen hätte. Was wollen wir mit unserem Leben? Wozu sind wir überhaupt auf der Welt?

Insofern gibt es nichts mehr, was uns hindern könnte, genau das zu tun, wozu wir Lust haben. Der Mensch hat – jedenfalls hier in der abendländischen Welt – die Freiheit erhalten, nach der er in mehr als 200 Jahren gestrebt hat, und alles sollte damit auf die beste Art und Weise eingerichtet sein. Wir sollten froh und zufrieden sein.

Das aber scheint denn doch nicht der Fall zu sein. Gewiss, wir erleben natürlich auch Augenblicke, in denen wir uns glücklich fühlen; aber das ist nun einmal nicht die Stimmung des Lebens, der man im Allgemeinen begegnet. Es ist vielmehr die Stimmung, dass die meisten Menschen zunehmend das Gefühl haben, dass das Leben anderwo ist – an einem anderen Ort als dort, wo sie selbst sind. Viele Menschen träumen von einem anderen Dasin als dem, das sie tatsächlich haben.

Aber warum tun sie das, wenn unser Dasein doch anscheinend so eingerichtet ist, wie wir es gern haben möchten? Wir haben ja nicht nur unsere Freiheit erhalten, wir bekommen auch in unserem Teil der Welt alle unsere Bedürfnisse erfüllt, was Nahrung und andere notwendige Dinge betrifft, ja, mehr noch, sehr viel mehr noch bekommen wir, wir können uns täglich Konsumgüter erwerben, die weit über das hinausgehen, was notwendig genannt werden kann, weit über das hinaus, was unser Bedarf ist.

Es müsste uns also eigentlich ausgezeichnet gehen. Es sieht doch so aus, als hätten wir uns unser eigenes Paradies auf Erden geschaffen. – Und doch empfinden wir es nicht so.

Vielleicht hat es seinen Grund darin, dass alles zu leicht geworden ist. Es gibt nichts mehr, worum wir kämpfen müssten. Es gibt keine Perspektive. Das Dasein bricht für uns zusammen, weil es in all seiner Leichtigkeit unerträglich geworden ist.

Und vielleicht hat das alles etwas damit zu tun, dass wir ganz und gar nicht so frei geworden sind, wie wir uns einbilden. Wir sind jedenfalls mehr an uns selbst gebunden, als Menschen es jemals zuvor in der Geschichte gewesen sind. Wir können wohl mit Recht sagen, dass wir uns die Macht über das Dasein erkämpft haben, so wie wir davon geträumt haben; aber anstatt den Gewinn davon einzuheimsen, stehen wir immer häufiger vor der Kehrseite unserer Träume: die brutale Wirklichkeit ist nämlich die, dass wir mit der Abschaffung des Glaubens daran, dass wir auf etwas außerhalb unserer selbst ruhen, auf etwas anderem als uns selbst, in eine Lage geraten sind, in der wir nun auch alles selbst tragen müssen. Wenn wir selbst wollen, ja dann steht und fällt unser Leben auch mit uns selbst. Alles beruht auf uns selbst.

Wenn wir Erolg haben im Leben, wenn es uns gut geht, dann haben wir überhaupt nichts dagegen, uns selbst dafür zu danken; und doch kann man Menschen begegnen, die plötzlich eine so große Freude erleben, dass es ihnen schwer fällt, sie überhaupt zu fassen. Viele Menschen erleben z.B. die Geburt eines eigenen Kindes als so überwältigend, dass es ihnen ungeheuer fern liegt, auch nur zu erwägen, ob sie es sich selbst zu verdanken haben. Aber wo sollen sie dann hingehen, wenn alles nur darauf herabgesetzt ist, dass es etwas ist, was auf ihnen selbst beruht? Woher sollen sie die Worte nehmen, die groß genug sind, ihre Freude und Dankbarkeit zu formulieren? An wen sollen sie sich wenden? So viel über den große Freude!

Man ist nicht besser gestellt, wenn Unglück eintritt, wenn man einer Krankheit, Trauer und Tod gegenübersteht, wenn man der Einsamkeit gegenübersteht, dem Selbsthass und der Verzweiflung: zu wem sollen wir dann gehen?

Ja, wir können selbstverständlich versuchen Trost zu finden, indem wir das alles auf andere schieben, der Gesellschaft die Schuld geben u.ä. Aber derlei ist ja, wenn es darauf ankommt, nur ein schlechter Vorwand, mit dem wir vor uns selbst entschuldigen, dass wir kaum dazu imstande sind, wenn wir alles selbst tragen müssen.

Niederlagen, Unglück, Krankheit und Tod passen nicht recht in das Dasein und das Selbstbild, das wir aufgebaut haben, weil wir hier an unsere eigenen Grenzen stoßen. Genau an diesem Punkt sind wir unfähig.

Es ist nicht so verwunderlich, dass so viele Menschen heute Lebensüberdruss zu erkennen geben, weil ihnen der Sinn des Ganzen verloren gegangen ist. Denn den Sinn des Ganzen, den können wir ja nicht so einfach erfinden. Wir können natürlich Vorstellungen haben, warum wir hier sind, und gute Ideen, was wir hier sollen. Aber eben weil es nur Vorstellungen und Ideen sind, sind sie keineswegs überzeugend und reichen nicht aus, um die Angst der Menschen vor der Sinnlosigkeit zu vertreiben. Wir wissen sicher alle, wie wenig Gewicht unsere Ideen und Vorstellungen haben, wenn es darauf ankommt.

Dem allen gegenüber können wir hier in der Kirche daran festhalten, dass es einen Sinn des Daseins und einen Sinn in deinem und in meinem Leben gibt. Einen Sinn, der sich überhaupt nicht von den Einbildungen, in denen wir leben, beeindrucken lässt. Einen Sinn, in den wir hineingestellt sind, ob uns das so gefällt oder nicht. Es mag wohl sein, dass der Sinn hin und wieder vor den Augen beliebiger Menschen verborgen scheint, aber es gibt ihn.

Der Sinngeber ist nämlich Gott selbst. Wie sehr wir auch versuchen, Gott schlicht und einfach zu einer mehr oder weniger guten Idee zu machen, wie sehr wir auch uns selbst davon zu überzeugen versuchen, dass Gott tot und weg und bloßer Ausdruck alten Aberglaubens ist, so ist er doch da, und er hat seinen Sinn in allem, was geschieht – auch wenn sich das in unseren Augen nicht so ausnimmt.

Wir können jedenfalls nicht ausschließen, dass Gott auch seinen Sinn darin hat, dass wir Menschen, in einer kurzen Zeit unter seiner unendlichen Perspektive, versuchen, uns von ihm frei zu machen. Wir können nicht ausschließen, dass wir mitten in unserem aufgeblasenen „Selbst-Wollen“, völlig nach den Wünschen Gottes auftreten. Ich behaupte nicht, dass es notwendigerweise so ist, sondern nur, dass es bestimmt nicht auszuschließen ist.

Denn so ist Gott: souverän und unendlich hoch erhaben, als dass er von uns herabgezogen werden könnte; und zugleich ist er uns unendlich nahe, ja, er ist uns näher, als wir uns selbst sind, sowohl wenn wir uns freuen als auch wenn wir trauern und wenn wir verzweifelt sind. Er verließ seinen Himmel und wird zu Fleisch und blut in Jesus Christus, um uns ganz nahe zu sein. Und als er selbst gen Himmel fuhr, sandte er seinen Geist, damit er uns allen auf ewig nahe sein kann, wo immer wir sein mögen. Er leiht uns sein Ohr, wenn wir die große Freude erleben und wenn wir an Unglück, Trauer und Verzweiflung leiden. Er sieht uns – sogar wenn wir unserer selbst überdrüssig sind und uns kaum selbst in die Augen zu sehen wagen. Er ist Herr über Leben und Tod, und er kann in der tiefsten Finsternis zu uns sprechen und uns ins Leben zurückrufen, so wie er heute im heutigen Text Lazarus aus dem Grab zurückruft.

Es ist eine phantastische Geschichte. Und der Ruf, der an Lazarus ergeht, ist zugleich ein Ruf an einen jeden von uns, aus der Finsternis herauszukommen, die unser Leben bedrohen und es niederdrücken kann, es ist ein Ruf an uns, aus der Kälte herauszukommen, die wir um uns verbreiten können, und ein Ruf an uns, unsere Mitmenschen zu sehen und unserer Gleichgültigkeit zu Leibe zu rücken. Ein Ruf an uns, aus dem Glauben an die eigene Macht und die eigenen Möglichkeiten herauszukommen, der letzten Endes zu Selbstaufgabe und Resignation führt. In ihm ist die Freiheit, die wir suchen, denn er macht uns nicht nur frei gegenüber all dem, was sich uns von außen aufdrängt, er macht uns vor allem frei von der Bindung an uns selbst. Und da es der Geber des Lebens ist, der so zu uns spricht, wer wollte da noch an der Sinnlosigkeit festhalten?

Amen!

Pastor Erik Bredmose Simonsen
Præstebakken 11
DK-8680 Ry
Tel.: +45 86 89 14 17
E.mail: ebs@km.dk

Übersetzung aus dem Dänischen: Dietrich Harbsmeier


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