Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, J. Neukirch, C. Dinkel, I. Karle

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16. Sonntag nach Trinitatis, 1. Oktober 2006
Predigt zu Apostelgeschichte 12, 1-11, verfaßt von Sven Keppler
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


I. Dreimal klopft es am Tor. Es ist tiefe Nacht. Drinnen reagieren sie wie immer, wenn jemand anklopft. Hoffnung und Angst mischen sich, das Herz pocht und im Magen wird es flau. Wieder drei leise Schläge. Das ist ihr verabredetes Zeichen. Aber es sind schon alle da. Bis auf den Anführer ihrer Gruppe, und der ist inhaftiert. Hat er der Militärpolizei ihr Versteck verraten? Steht sie nun vor der Tür, um die ganze Gruppe auszuheben? Vor kurzem ist eines ihrer Mitglieder hingerichtet worden, seitdem leben sie in Angst. Momente der Hoffnung sind selten geworden.

Als es erneut klopft, öffnen sie. Was bleibt ihnen auch übrig? Ein Mann dringt ein, drückt die Tür hinter sich zu, lehnt sich zurück. Es ist ihr Anführer, erschöpft, außer Atem. Sie drängen sich um ihn, einer holt einen Stuhl, der Angekommene setzt sich, die anderen auch. Ihre Knie sind weich, zwei müssen weinen. Als sie sich wieder im Griff haben, beginnt der Ankömmling zu erzählen.

Er sei nicht verfolgt worden. Jedenfalls habe er niemanden gesehen. Vielleicht sei noch gar nicht bemerkt worden, dass er entkommen ist. Vier Aufseher hat er gehabt: Zwei in der Zelle, zwei vor der Tür. An Händen und Füßen war er mit Ketten gefesselt. Dennoch war er immer wieder kurz eingeschlafen, ebenso wie seine Bewacher.

In einem seiner hektischen Träume waren ihm die Ketten abgefallen. Ein unbekannter Mann stand in der Zelle und drängte ihn zur Flucht. Ganz hell war es in diesem Traum. Er nahm seine Kleidung, folgte dem Mann. Sie passierten die Wachen, die sie nicht zu bemerken schienen. Das Gefängnistor ließ sich öffnen. Der Fremde begleitete ihn eine Straße weit und verließ ihn dann.

Erst da wurde ihm klar: Er hatte nicht geträumt. Das Gefängnis lag hinter ihm, die Flucht war geglückt. Er eilte quer durch die Stadt zum geheimen Treffpunkt.

 

II. Während des Weges durch die Stadt arbeitete sein Verstand mit großer Klarheit. Seit er nicht mehr zu träumen meinte, war er hellwach. Liebe Gemeinde – was geht einem Menschen in solch einer Situation durch den Kopf? Die Szene seiner Rettung? Wie es dazu kommen konnte? Ich glaube, das ist erst viel später dran. In einem ruhigeren Moment der Rückschau. Wenn das Geschehene verarbeitet wird.

Könnte es nicht sein, dass dem Flüchtling plötzlich Zweifel an seinem Handeln kamen? War es klug gewesen, zu fliehen? Lag darin nicht ein Eingeständnis seiner Schuld? Er gehörte einer verfolgten religiösen Minderheit an. Deren Angehörige hatten sich entschieden, dem Staat keinerlei Anstoß geben zu wollen. Vorbildliche Staatsbürger wollten sie sein und ihren Verfolgern damit signalisieren: Vor uns muss sich niemand fürchten. Es gibt keinen Grund, uns zu verfolgen. Wer es dennoch tut, entlarvt damit seine unlauteren Motive.

Mit seiner Flucht hatte er gegen diese Grundsätze verstoßen. Wäre es nicht natürlich, wenn ihn jetzt sein Gewissen biss? Bei der Flucht war er seinem Gefühl gefolgt. Mit einer Sicherheit wie im Traum. Konnte er darin einen Hinweis sehen, dass er richtig gehandelt hatte?

Ein klassischer ethischer Konflikt ist das, liebe Gemeinde: Darf man in einer Grenzsituation die normalen Verhaltensregeln außer Kraft setzen oder nicht? Die einen sagen: Gerade wenn es hart ist, muss man sich an die Regeln halten. Solange man kein Vermögen hat, ist es leicht, bei der Steuer nicht zu betrügen. Wenn man einmal sehr viel verdient hat, dann kommt es darauf an, ehrlich zu sein. Oder auch: Solange man nur von den immer gleichen Gesichtern umgeben ist, fällt es leicht, seinem Partner treu zu sein. Aber wenn plötzlich der Märchenprinz oder die Traumfrau auftaucht, dann muss sich die Treue bewähren.

Die anderen sagen: Natürlich darf man sich nicht über alle Regeln hinwegsetzen, wenn es gerade besonders angenehm ist. Aber es gibt Situationen, in denen es um Höheres geht. Um Leben und Tod. Oder um das, woran man glaubt.

Das Verzwickte ist: Wann man sich über die Regeln hinwegsetzen darf, dafür gibt es keine Regel. Aber es gibt Anzeichen dafür. Das Gefühl, das Richtige zu tun, kann ein solches Anzeichen sein. So wie es für unseren Helden im Moment der Flucht außer Frage stand, dass er sich aufmachen musste. Dieses Gefühl schützt jedoch nicht davor, dass man sich nachträglich mit der Frage herumplagt, ob man denn richtig gehandelt hat.

 

III. Die Geschichte von der Flucht aus dem Gefängnis ist eine Befreiungsgeschichte. Kann man das Wort gefangen überhaupt steigern? Gefangen – gefangener – am gefangensten. Jedenfalls kann man sich kaum einen gefangeneren Menschen vorstellen als unseren Helden.

In Einzelhaft, gefesselt, mit zwei persönlichen Bewachern. Als Angehörigem einer verfolgten Minderheit galten für ihn die bürgerlichen Schutzrechte nur eingeschränkt. Und innerlich war er gefangen durch die Regel, sich nicht gegen den Staat stellen zu dürfen. Äußerlich und innerlich unfrei, konnte ihn nur noch ein Wunder retten.

Liebe Gemeinde, in ihrer Lückenlosigkeit gewinnt diese Gefangenschaft etwas Urbildliches. Das Gefängnis ist dann nicht bloß ein Gefängnis. Sondern es steht für alles, was einen Menschen unfrei macht. Für all die Mächte, die einen Menschen beherrschen können: Armut, fehlende Lebenschancen. Aber auch für seelische Mächte wie die Sehnsucht nach Sicherheit, den neidischen Blick auf den Nachbarn oder den Glauben an die eigene Vortrefflichkeit.

Vielleicht kommen Ihnen noch ganz andere Mächte vor Augen. Je nachdem, womit Sie gerade ganz besonders zu kämpfen haben. Vielleicht ist es das Gefühl, dass der Tag oft einfach nicht herumgehen will. Dass jede Stunde mindestens einhundertzwanzig Minuten dauert und die Zeit besonders am Mittag einfach nicht voranschreiten will. Lähmung, Überdruss, Traurigkeit stellen sich ein. An den Gliedern zieht es wie von Gewichten, die Seele wird schwer. Ein echtes Gefängnisgefühl. Auch in der eigenen Wohnung kann es entstehen, wenn der Alltag einsam ist.

Aber nicht von der Gefangenschaft erzählt unsere Geschichte, sondern von der Befreiung. Auch die Befreiung hat etwas Urbildliches. Unser Held war in seinem Gefängnis völlig passiv geworden. Der Schlaf, in den er fiel, war der Ausdruck seiner Hilflosigkeit. Anfangs mag er gegen die Aussichtslosigkeit angekämpft haben. Aber zum Schluss war er eingeschlafen. Nervös und unruhig.

Und gerade hier wendet sich sein Schicksal. Als er zu keiner Handlung mehr fähig ist, wird für ihn gehandelt. Er selbst kann sich nicht mehr helfen, aber gerade da wird ihm geholfen. So passiv ist er dabei, dass er alles für einen Traum hält. Erst außerhalb des Gefängnisses kommt er zu sich. Sieht, was ihm geschehen ist.

Die Befreiungsgeschichte wird so zu einer Hoffnungsgeschichte. Tröstlich für alle, die im Kampf mit den Mächten an ihre Grenze gekommen sind. Die am Ende ihrer Kräfte sind. Die spüren, dass die Belastungen in ihrem Leben zu stark geworden sind.

Eine Hoffnungsgeschichte ist sie auch deshalb, weil sie nicht irgendeine Geschichte ist. Sie steht im Neuen Testament. Die verfolgte religiöse Minderheit sind die Christen der ersten Jahre. Und der befreite Gefangene ist Simon Petrus. Hören Sie selbst, ich lese aus dem 12. Kapitel der Apostelgeschichte [Apg 12,1-17].

 

IV. Liebe Gemeinde, in der Alten Kirche war man überzeugt, dass die Wahrheit der biblischen Texte nicht nur eine Dimension hat. Man las die Texte unter mehreren, unter vier Gesichtspunkten. Alle vier Dimensionen gehörten zusammen und bildeten ein kunstvolles Ganzes.

Drei davon sind eben schon angeklungen. In erster Hinsicht geht es darum, was ganz wörtlich erzählt wird. So wie es Petrus den Seinen erzählte. In zweiter Hinsicht kann man den Text daraufhin befragen, was er für unser Handeln austrägt. So wie bei der Frage, ob man als Christ unter bestimmten Umständen gegen die Forderungen des Staates verstoßen darf.

Am ausführlichsten bin ich der dritten Hinsicht nachgegangen: Kommt in der Geschichte etwas Typisches zur Sprache? Eine Wahrheit, die im übertragenen Sinn auch unser Leben bestimmt? Das Gefängnis wurde dabei zu einem Urbild der Mächte, die einen Menschen gefangen nehmen können. Die Freiheit, die Petrus geschenkt wurde, wurde dadurch zu einer Hoffnung für jeden Menschen.

Das Vierte ist jedoch noch offen. Aber gerade das ist das Wichtigste. Von diesem Vierten her erhält alles andere erst seinen Sinn. Bei diesem Vierten geht es darum zu entdecken, was die Geschichte mit Jesus Christus zu tun hat.

Wenn Petrus zu den Seinen ins Haus kommt und sie ihn erst für einen Engel halten, weil sie kaum glauben können, dass er aus dem Gefängnis freigekommen ist – wenn Petrus so ins Haus tritt, dann erinnert das an eine viel bekanntere Geschichte. Ebenso war Jesus am Ostertag zu den Seinen gekommen. Auch sie hatten ihn für einen Geist gehalten. Weil sie nicht für möglich gehalten hätten, dass er aus dem Gefängnis des Todes noch einmal zurück ins Leben kehren würde.

Auch Petrus ist aus dem nahen Tod noch einmal ins Leben zurückgekehrt. Nicht aus eigener Kraft, sondern wie im Schlaf hat Gott ihn errettet. Befreit zu sein hieß für ihn, ein neues Leben zu beginnen. Die Befreiung aus dem Gefängnis war sein persönliches Ostern.

Das gilt auch heute, liebe Gemeinde. Immer, wenn wir von einer Macht befreit werden, die uns beherrschte, dann leben wir neu auf. Wenn zum Beispiel die lähmende Schwere der Seele von uns abfällt, dann ist das ein kleines Osterfest im Alltag.

Auch auf das ethische Problem fällt von dort her ein neues Licht. Ist ein Christ in jedem Fall an staatliche Regeln gebunden? Gewiss, aber es gibt einen Grenzfall: Wenn Gott einen Menschen befreit, dann hat keine andere Autorität dagegen etwas zu sagen.

Gottes Ruf in die Freiheit ist unwiderstehlich. Von einer mächtigen Bedrohung befreit zu werden, ist wie Ostern: der Beginn eines neuen Lebens. Das ist die Botschaft dieser Hoffnungsgeschichte. Amen.

Dr. Sven Keppler
Pfarrer
Ev. Kirchengemeinde/KIEZ:
St.-Georg-Kirchplatz 2
D-44532 Lünen
Telefon: 02306/9284-62
Fax: 02306/9284-64
 
Mail: sven.keppler@kirchengemeinde-luenen.de

 


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