Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, J. Neukirch, C. Dinkel, I. Karle

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Tag der Deutschen Einheit, 3. Oktober 2006
Predigt zu Johannes 15, 1-7, verfaßt von Matthias Rein
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


(Ökumenischer Gottesdienst am Tag der Deutschen Einheit, Röm.-Kathol. Max-Kirche Augsburg)

Liebe Gemeinde,

wie steht es um das Land, in dem wir seit 16 Jahren gemeinsam leben? Was bewegt die Menschen in Ostdeutschland und Westdeutschland? Wie betrifft uns dies als Christen?
Machen wir es konkret:

Zwischen Tür und Angel erzählt mir vor einigen Tagen eine Mutter die Geschichte ihres Sohnes.
Er wächst im Erzgebirge auf, macht Abitur, fängt an in Dresden zu studieren. Das Studium überfordert ihn, ein Freund vermittelt ihm eine Lehre zum Bankkaufmann im Münchener Umland. Er zieht an den Stadtrand von München, Ausbildung und Arbeit machen ihm Spaß, aber er findet schwer Kontakt. Das Geld reicht nur für das Nötigste, abends in die Kneipe mit den Kollegen, das ist nicht drin. So pendelt er zwischen der alten Heimat, die nicht mehr seine ist und der neuen, in der er nicht heimisch wird.
Ein halbes Jahr vor Abschluß der Lehre ruft ihn der Abteilungsleiter zu sich. Seine Arbeit sei in Ordnung, aber er brauche sich keine Hoffnung auf unbefristete Anstellung machen. Er, sein Chef, könne ihn nicht leiden. Das trifft ihn wie ein Hammer. Seine Hoffnung auf ein bisschen mehr Sicherheit und Einkommen zerplatzen.
Sein Körper reagiert auf die Katastrophe. Er isst nicht mehr, magert ab, bricht zusammen. Die Mutter holt ihn nach Hause. Zwölf Wochen verbringt er in einer Klink zur Behandlung psychosomatischer Krankheiten zusammen mit vielen jungen Leuten zwischen 20 und 25 Jahren. Dort findet er wieder Kraft. Die Bank hat ihm inzwischen mitgeteilt, dass sie ihn nicht übernehmen werde, er sei zu lange krank.

Zwischen Tür und Angel hängt dieser Junge. Zwischen Baum und Borke. Abgehauen der Ast, irgendwo reingesteckt und bisher nicht angewachsen.
Was bin ich wert, so fragt dieser junge Mann. Ich versage, ich bin nicht in der Lage, mich selbst zu versorgen, mein Leben selbst zu gestaltenleben. Und dazu kommt der Makel, Ostdeutscher zu sein.

„Ich bin ostdeutsch,
das zieht sich hin wie der Rauch an erloschenen Dochten“
schreibt die Lyrikerin Helga M. Novak.
„Ich bin deutsch und nicht nur der Sprache nach
Ich bin ostdeutsch
Ich sitze an der kahlen Seite des Tisches.
Ich bin ostdeutsch und ziehe einen Klumpen Hoffnung hinter mir her.“

50 000 Menschen verlassen Jahr für Jahr die ostdeutschen Bundesländer. Jedes Jahr wird in Ostdeutschland eine mittlere Kleinstadt ausradiert. Sie gehen in die Fremde mit Hoffungen, aber fast immer unfreiwillig, ohne Reserven, die ein Scheitern abfedern.
Nicht nur ihnen ergeht es so. Schrumpfende Regionen gibt es auch in Bayern, Niedersachsen, Hessen, im Rheinland, Baden-Württemberg. Menschen verlieren über Nacht ihre Arbeit. Alles gerät ins Wanken. Jüngstes Besipel: das ehemalige Siemens-Mobilfunk-Unternehmen. Wenn sie Glück haben, findet sich ein neuer Job, aber 200km entfernt. Und dann das heißt: Trennung von der Familie, Trennung von den Freunden, Neuanfang, Sich durchbeißen.
Und wenn man Pech hat, ist man dabei abhängig von den Launen eines Vorgesetzten.
Alltag in Deutschland im Jahr 2006.

Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben, so hören wir aus dem Johannes-Evangelium.
Wer in mir bleibt und ich in ihm, der bringt viel Frucht.

Was hat das mit der Geschichte von Sven, dem Banklehrling aus dem Erzgebirge, zu tun?

Zunächst:
Bleibt in mir und ich in Euch – diese Forderung aus dem Johannes-Evangelium richtet sich an die Gemeindeglieder damals. Sie schwanken. Sollen wir gehen, sollen wir bei der Gemeinde bleiben? Sie sind unter Druck in der jüdischen Umwelt.
Bleibt, so fordert das Evangelium. Aus euch selbst könnt ihr keine Frucht bringen. Wie die Rebe. Wenn sie abgeschnitten wird, vertrocknet sie.
Ohne mich könnt ihr nichts tun, sagt der johanneische Jesus den Christen seiner Zeit.

Bleiben oder gehen?
Für uns, die wir hier sind in diesem Gottesdienst , die wir gekommen sind, stellt sich diese Frage heute so:
Was hält mich an der Person Jesu Christi? Was bedeutet mir seine Geschichte?
Was stärkt mich an dieser Person, was tröstet mich, was gibt mir Kraft?
Aber auch: Was irritiert mich, fordert mich heraus, konfrontiert mich?

Welche Bedeutung hat diese Person und seine Geschichte für mein Leben, für mein Selbstverständnis, für mein Zusammenleben mit anderen Menschen?

Ich merke, wenn ich mir diese Fragen vorlege:
Ich bin verwurzelt in der Geschichte Jesus, in seiner Botschaft, in seiner Person.
Bleiben in Christus heute heißt deshalb: An dieser Verwurzelung festhalten.

Eine zweite Botschaft steckt im Bild vom Weinstock und den Reben für uns und für andere Menschen heute:

Wer in mir bleibt, der bringt viel Frucht. Wer nicht in mir bleibt, vertrocknet, verdorrt, stirbt.
Das ist eine bedrohliche Aussicht und doch steckt darin eine bedenkenswerte Wahrheit:
Mein Wert als Mensch misst sich nicht an meinen eigenen Leistungen, meinem Einkommen, meinen Erfolgen in der Berufskarriere. Das sind wackelige Maßstäbe. Über Nacht können sie sich auflösen in Nichts. Ich stehe da mit leeren Händen.

Wertvoll bin ich als Mensch, weil Gott mich liebt.
Wertvoll bin ich als Mensch, weil ich Teil seines Weinstocks bin, fest mit ihm verbunden, durchströmt von Lebenssaft, angeschlossen an die Kraftquelle des Lebens.

Bleiben in Christus heißt deshalb:
Ich brauche mir meinen Wert als Menschen nicht erarbeiten. Ich habe diesen Wert von Gott. Er macht mich zum Teil seines fruchtbaren Weinstocks, das macht mich wertvoll.

Wie erreicht diese Botschaft aber Sven? Und hilft ihm diese Botschaft?
Damit sind wir bei der Frage, wie uns als Christen die Situation vieler Menschen in diesem Land betrifft, die unterwegs sind, die allein sind, die drohen unterzugehen im Getriebe des Lebens, das einfach immer weitergeht, egal ob du mitkommst oder nicht.

In dem Ort Pullach, in dem ich seit fünf Jahren lebe, gibt es eine menschenfreundliche Einrichtung. Jeder Mensch, der dorthin zieht, bekommt Besuch. Ein Mensch aus der katholischen Pfarrgemeinde und ein Mensch aus der evangelischen Kirchengemeinde melden sich bei den Neuzugezogenen, vereinbaren einen Termin für einen Besuch. Lange Gespräche werden da geführt, so berichten die Besuchenden. Die Besuchten freuen sich, man ist auf sie aufmerksam geworden, jemand erkundigt sich nach ihnen, man wird persönlich willkommen geheißen.
Es geht dabei nicht um Missionsstrategien. Es geht um einen Dienst für den Nächsten. Wir zeigen jedem Menschen: Du bist willkommen, egal woher Du kommst, egal wohin es dich wieder verschlagen wird. Du bist willkommen. Wenn Du Hilfe brauchst, wenn Du Gemeinschaft suchst – hier sind wir, wir bieten die Hilfe und Gemeinschaft an, wir heißen dich willkommen.

Ich weiß nicht, ob Sven dieses Angebot annehmen könnte. Ich weiß auch nicht, ob dieses Angebot hilft, den Verlust des Arbeitsplatzes tragen zu helfen.

Aber dieses Angebot lässt konkret werden, was Jesus selbst uns und allen anderen Menschen sagt:
Kommt her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken.

Es lässt konkret werden, was er von uns erwartet:
Ich bin fremd gewesen, und ihr habt mich aufgenommen.
Haben wir dies getan oder nicht, danach werden wir gefragt. Ein klarer Maßstab. Und eine leistbare Erwartung an uns.

Wir können als Kirche keine Arbeitsplätze in Schrumpfungsregionen aus dem Boden stampfen. Wir können als Kirche keine Sozialpläne umsetzen und Menschen in Lohn und Brot bringen.
Aber wir können wahrnehmen, was mit den Menschen passiert, was mit dem Nachbarn ist, der neu in das Haus nebenan eingezogen ist.
Wir können ihm zeigen, was er wert ist, weil er von Gott geliebt wird.

Damit tun wir etwas in dieser Gesellschaft, was Staat, Wirtschaft, Parteien und sonstige Institutionen nicht tun können:
Wir machen die Gesellschaft menschlich in Gottes Namen und um der Menschen willen.

Amen


Dr. Matthias Rein
Studienleiter am Theologischen Studienseminar der VELKD
Bischof-Meiser-Str. 6
82049 Pullach
Tel. 089/74442428
Email: Matthias.Rein@t-online.de



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