Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, J. Neukirch, C. Dinkel, I. Karle

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17. Sonntag nach Trinitatis, 8. Oktober 2006
Predigt zu Jesaja 49, 1-6, verfaßt von Hans-Hermann Jantzen
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


1 Hört mir zu, ihr Inseln, und ihr Völker in der Ferne, merket auf! Der HERR hat mich berufen von Mutterleib an; er hat meines Namens gedacht, als ich noch im Schoß der Mutter war
2 Er hat meinen Mund wie ein scharfes Schwert gemacht, mit dem Schatten seiner Hand hat er mich bedeckt. Er hat mich zum spitzen Pfeil gemacht und mich in seinem Köcher verwahrt.
3 Und er sprach zu mir: Du bist mein Knecht, (Israel,) durch den ich mich verherrlichen will.
4 Ich aber dachte, ich arbeitete vergeblich und verzehrte meine Kraft umsonst und unnütz, wiewohl mein Recht bei dem HERRN und mein Lohn bei meinem Gott ist.
5 Und nun spricht der HERR, der mich von Mutterleib an zu seinem Knecht bereitet hat, dass ich Jakob zu ihm zurückbringen soll und Israel zu ihm gesammelt werde, - darum bin ich vor dem HERRN wertgeachtet, und mein Gott ist mein Stärke -.
6 Er spricht: Es ist zu wenig, dass du mein Knecht bist, die Stämme Jakobs aufzurichten und die Zerstreuten Israels wiederzubringen; sondern ich habe dich auch zum Licht der Heiden gemacht, dass du seist mein Heil bis an die Enden der Erde.

Liebe Gemeinde,

kennen Sie dieses lähmende Gefühl: „Es ist alles vergeblich, was ich tue!“? Die ganze Anstrengung, alle Mühe, die ich aufwende; der hohe Einsatz an Zeit und Kraft: alles umsonst. Es bringt nichts. Der Erfolg ist gleich Null.

So mancher Kirchenvorstand mag so empfinden, wenn jetzt Gemeinden zusammengelegt werden müssen: „Alles umsonst, dass wir so für die Selbständigkeit unserer Gemeinde gekämpft haben!“ Und mancher Mitarbeiter, manche Pastorin fragen sich: „Wozu das alles? Warum lege ich mich so ins Zeug, wenn der Arbeitsbereich, der mir wichtig ist, doch nicht weitergeführt werden kann?“

Vergeblichkeitserfahrungen, die lähmen, die wütend machen, die krank machen können. Außerhalb von Kirche ist das oft noch krasser. So geht bei den rd. 3000 Mitarbeitenden der Handy-Firma BenQ (früher Siemens) nackte Angst und Wut um: „Wozu haben wir Opfer gebracht, mehr gearbeitet, auf Lohn verzichtet, wenn wir jetzt doch ’entsorgt’ werden wie unbrauchbar gewordenes Material?“

Haben wir Christen dem etwas entgegenzusetzen, wenigstens bei uns in der Kirche? Gibt es so etwas wie einen „archimedischen Punkt“, einen Standort außerhalb von uns selber, der uns Halt gibt? Oder versinken wir im Strudel der Depression: „Hat doch alles keinen Zweck, alles umsonst“?

„Ich aber dachte, ich arbeitete vergeblich und verzehrte meine Kraft umsonst...“ „Und nun spricht der Herr...“ Unserer Erfahrung, unserm Empfinden wird Gottes Wort gegenüber gestellt. Unserer Klage und Enttäuschung begegnet Gott mit einem erweiterten Auftrag: V. 6.

Aber wieso wir? Wieso unsere Erfahrungen? Wer spricht da überhaupt, und was ist das für ein Auftrag? Können wir diese 2500 Jahre alten Sätze so einfach auf unsere Situation beziehen? Dazu ein paar Anmerkungen zum Text.

Der Abschnitt bildet das sog. zweite Gottesknechtslied im Buch des Propheten Jesaja. Ein uns nicht näher bekannter Prophet (die Bibelwissenschaftler nennen ihn „Deuterojesaja“, den zweiten Jesaja, weil er eine andere Sprache und in eine andere Zeit hineinspricht als der „erste“ Jesaja in Kap. 1-39) reflektiert seinen Auftrag und seine Erfahrungen mitten in der deprimierenden Zeit des Babylonischen Exils (um 550 vor Christus). Das Volk Israel: geschlagen, zerstreut, verschleppt ins heidnische Babel, fernab von Jerusalem, vom Tempel auf dem Zion. Und was noch viel schlimmer ist: der Gott Israels: scheinbar besiegt von den babylonischen Göttern; zum Gespött der Heiden geworden! Wie kann man da Prophet sein, Prophet eines so saft- und kraftlosen Gottes? Der Prophet leidet unter der offensichtlichen Vergeblichkeit seines Tuns. Am liebsten möchte er alles hinschmeißen: „Ich aber dachte, ich arbeitete vergeblich und verzehrte meine Kraft umsonst...“

Die Figur des Gottesknechts: das ist in diesem Abschnitt wohl der Prophet selber. In anderen Liedern kann es auch das ganze Volk sein. Aber hier bekommt er einen Auftrag am Volk Israel: „...dass ich Jakob zu ihm zurückbringen soll und Israel zu ihm gesammelt werde.“ Insofern trifft hier wohl die individuelle Deutung zu.

Drei Besonderheiten des Auftrags fallen mir auf, die aus dem Klagelied des enttäuschten Propheten ein Lied der Vergewisserung und Zuversicht machen:

1. Der weltweite Horizont. „Hört mir zu ihr Inseln, und ihr Völker in der Ferne, merkt auf!“ Die Inseln, das sind nach damaliger Vorstellung die Ränder der bekannten Welt; da, wo die Erdscheibe auszufransen beginnt und in die geheimnisvolle Weite der Schöpfung übergeht. Nachdem das Nationalheiligtum, der Tempel in Jerusalem, zerstört ist, ist der Glaube an den einen Gott in die Krise geraten. Waren die babylonischen Götter nicht doch stärker? So war es eine überlebensnotwendige Konsequenz aus der Exilserfahrung. Den Jahweglauben zu entgrenzen, ihn nicht länger auf das Volk Israel beschränkt zu denken, sondern auf alle Völker, auf die ganze Welt zu beziehen. Der Gott Israels – kein Provinzgott mehr, sondern Schöpfer und Herr der Welt.

2. Der Prophet erhält seinen Auftrag nicht, um selber groß rauszukommen; auch nicht in erster Linie, um das verstörte Volk aufzurichten oder gar in seinen nationalen Grenzen wiederherzustellen. Ziel des Auftrags ist einzig und allein Gottes Ehre und Herrlichkeit: „Du bist mein Knecht, durch den ich mich verherrlichen will.“ Und diese Herrlichkeit soll bis an die Enden der Erde strahlen.

Was für eine Last fällt da von den Schultern des Propheten! Er muss Israel und die Welt nicht allein retten. Gott steht für ihn ein und stärkt ihm den Rücken. Gott bleibt handelndes Subjekt. Er behält die Fäden in der Hand. Der Prophet soll tun, was seines Amtes ist. Aber er muss auch nicht mehr tun, als in seinen Kräften steht. Er muss nichts zwingen. Gewalt ist nicht seine Sache. Sein Mund, das Wort, das sind die „Waffen“, die Mittel, die ihm zur Verfügung stehen. Das genügt. Gott selber sorgt dafür, dass sein Wort nicht leer zurückkehrt. So wird er sich durch seinen Propheten verherrlichen.

3. Auf diesem Hintergrund klingt das „Ich aber dachte...“ eher wie ein Selbstvorwurf. „Wie hatte ich das vergessen können, dass es gar nicht um meinen Erfolg geht, sondern um Gottes Herrlichkeit! Wie kann ich die Vergeblichkeit meines Tuns beklagen, wo doch Gott selber am Werk ist!“ Gott hört sich die Klage des Propheten an, aber er reagiert ganz anders, als man erwartet. Weder bemitleidet er den Propheten („Du hast es aber auch wirklich schwer!“) noch weist er ihn zurecht („Nun jammer nicht so rum, reiß dich zusammen!“). Nein, er erneuert und erweitert seinen Auftrag: „Es ist zu wenig...“ (V. 6).

Nicht nur Licht und Heil verkündigen, sondern selber Licht und Heil sein: das übersteigt menschliche Möglichkeiten. Aber nicht weniger wird dem Propheten zugemutet und zugesagt: „Ich habe dich zum Licht der Heiden gemacht, dass du seist mein Heil bis an die Enden der Erde.“ Der Gottesknecht: ein Werkzeug Gottes zur Rettung aller Menschen, zum Heil der Welt. -

Noch einmal: Wo stecken wir in dem alten Text? Ist es überhaupt erlaubt, unsere aktuellen Fragen und Probleme, unseren Auftrag da einzuzeichnen? Müssten wir den Text nicht einfach so stehen lassen?

Sicherlich ist das eine Grundschwierigkeit jeder christlichen Predigt über alttestamentliche Texte. Zunächst einmal haben wir ihnen ihr eigens Recht zuzugestehen, sie in ihrem Kontext und ihrer besonderen Aussage ernst zu nehmen. Aber als Christen dürfen wir sie dann auch auf der Folie des NT lesen. Das bietet sich heute geradezu an, hat sich doch Jesus selber vermutlich in dem Gottesknecht wiedererkannt. Auf jeden Fall hat die junge christliche Gemeinde ihn so gesehen. Sein Schrei am Kreuz: „Mein Gott, mein Gott...“ – durchaus eine Parallele zur Klage des Propheten: „Ich aber dachte...“

„Du bist mein Knecht, durch den ich mich verherrlichen will.“ Das glauben wir in besonderen Maße von Jesus Christus. Sein Name – Jesus – Jeschua – Rettung – steht dafür, dass Gott sich nicht gegen uns, sondern für uns, zu unserer Rettung, verherrlicht. Gottes Ehre und unser Heil, erfülltes, sinnerfülltes menschliches Leben, gehören untrennbar zusammen. Wo Gott in seinem Gottsein anerkannt wird, können auch wir Menschen wahrhaft menschlich leben. Und umgekehrt: wo Gottes Ehre mit Füßen getreten wird, da kommt auch die Menschlichkeit unter die Räder; da leidet die menschliche Gemeinschaft Schaden.

Viele Geschichten des NT erzählen davon. Diesen Gott, der will, dass allen Menschen geholfen werde, hat Jesus verkündet. So hat er mit den Menschen gelebt. Dafür ist er gestorben. In den Augen der Welt ohnmächtig, gescheitert. Und ausgerechnet diesen Jesus hat Gott durch die Auferweckung zum Zeichen seiner Herrlichkeit gemacht, zum Bürgen des wahren Lebens für uns Menschen.

Genau an dieser Stelle kommen wir ins Spiel. In der Nachfolge des gekreuzigten und auferstandenen Christus haben wir nämlich teil an dem Auftrag des Propheten und Gottesknechts: Das eröffnet uns ermutigende Perspektiven:

Alle, die darüber klagen, dass wir immer weniger werden in der Kirche; dass so viel gespart und gekürzt werden muss; alle, die den Mut verlieren, weil sie das Gefühl haben, der ganze Einsatz lohnt sich nicht, alles vergeblich...; auch mich selber, wenn wenn mich solche Gedanken anfliegen; uns alle möchte ich daran erinnern: wir arbeiten nicht für uns selber, sondern im Auftrag Gottes. Wir mühen uns nicht um der eigenen Ehre willen ab, sondern zur Ehre Gottes. Und Gott begegnet unserer Mutlosigkeit, unserer Klage mit seinem zukunftsweisenden Wort „Und nun spricht der Herr: Durch dich will ich mich verherrlichen! Es ist zu wenig, sich nur um die Kerngemeinde zu kümmern, um die Treuen, die ohnehin kommen. Ich will dich auch zu denen an den ausfransenden Rändern senden, zu den sog. Kirchenfernen. Sie sollst du sammeln und zu mir zurückbringen. Ihnen sollst du Licht und Heil sein.“

In einer etwas anderen, mehr aus der Unternehmensberatung kommenden Sprache hat das Impulspapier der EKD „Kirche der Freiheit“ dasselbe so ausgedrückt: „Wachsen gegen den Trend“; verloren gegangene Mitglieder zurückgewinnen; die Zahl der Gottesdienstbesucher, die Tauf- und Trauquote erhöhen... Unmöglich? Realitätsfern? Eine Zumutung? Mag sein; aber mindestens eine ebenso starke Zusage. Vergessen wir nicht, es ist Gottes Auftrag an uns. Er traut uns zu, „Licht und Heil für die Heiden“ zu sein. Er stärkt uns den Rücken. Er will sich durch uns, durch seine weltweite Kirche, verherrlichen.

Das bedeutet: nur eine Kirche, die ihrem Auftrag treu bleibt, hat Zukunft. Und das kann nur eine missionarische Kirche sein. Das Evangelium, die gute Nachricht vom menschenfreundlichen Gott bis zu den Inseln und den Völkern in der Ferne tragen und die Menschen vor der eigenen Haustür gewinnen. Wir dürfen Mission nicht länger diskreditieren wegen des geschehenen Missbrauchs in Kolonialzeiten, sondern ernst nehmen, was uns Christen aus Äthiopien oder Indien sagen: „Es ist ein Segen, dass ihr uns das Evangelium gebracht habt! Seitdem ist es hell geworden in unserm Leben. Wir sind befreit aus einer bedrohlichen, menschenverachtenden Tradition.“ Und auch im eigenen Lande brauchen wir nicht schamhaft zu verschweigen, was uns im Leben und Sterben hält und trägt. Wo evangelisch drauf steht (z.B. auf unsern Kindergärten und Diakoniestationen), soll auch evangelisch drin sein, soll das Evangelium erlebbar sein. Das Evangelium, die Herrlichkeit Gottes, leuchtet da auf, wo wir seine Liebe, seine Gerechtigkeit und Barmherzigkeit leben; wo wir, wie der Gottesknecht Jeschua, die Menschen annehmen und ernst nehmen. Hell wird es dort, wo Menschen frei werden von Angst und Gier und miteinander das Leben teilen. -

Vor zwei Wochen habe ich im Rahmen der Visitation ausgiebig den Kirchenkreis Soltau besucht und bin, was die Zukunft unserer Kirche angeht, auf viele ermutigende Zeichen gestoßen. Im evangelischen Kindergarten z.B. gibt es einmal in der Woche einen Mittagstisch für Senioren. Eine Stunde lang können Kinder und Alte vor dem Essen gemeinsam singen, spielen und Geschichten erzählen. Es war bewegend mitzuerleben, wie hier Vertrauen wächst über die Generationen hinweg. In der langen Nacht der Kirchen präsentierten die Kinder selbstgemalte Engelbilder und trugen einen „Engel-Rap“ vor mit dem Kehrvers: „Einen Engel, einen Engel, Gott, den brauch ich jetzt; einen Engel, einen Engel, der so richtig fetzt.“ Ihre Augen strahlten, und das Glück spiegelte sich auf den Gesichtern der Eltern wieder. Auch ein Abglanz des Lichtes, in das Gott uns berufen hat und das wir für andere sein dürfen. Amen.

Hans-Hermann Jantzen
Landessuperintendent im Sprengel Lüneburg
Ev.-luth. Landeskirche Hannovers
Hasenburger Weg 67
21335 Lüneburg
Tel. 04131-401025
Email: hans-hermann.jantzen@evlka.de

 


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