Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, J. Neukirch, C. Dinkel, I. Karle

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18. Sonntag nach Trinitatis, 15. Oktober 2006
Predigt zu Jakobus 2, 1-13, verfaßt von Hans Theodor Goebel
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


  1. Meine Brüder, habt den Glauben an Jesus Christus, unsern Herrn der Herrlichkeit, nicht so, dass ihr nach dem Ansehen der Person handelt.
  2. Denn wenn in eure Versammlung ein Mann herein käme mit goldenen Ringen an den Fingern und in prächtigem Gewand, es käme aber auch ein Armer in schmutzigen Gewand herein,
  3. und ihr sähet auf den, der das prächtige Gewand trägt, und sprächet zu ihm: „Setze du dich hierher, hier sitzt du gut“ – und sprächet zu dem Armen:
    “Du, stell dich dorthin!“ oder „Setze dich unten an meine Fußbank!“,
  4. würdet ihr da bei euch selbst nicht Unterschiede aufrichten und wäret von bösen Gedanken geleitete Richter?
  5. Hört, meine geliebten Brüder! Hat nicht Gott auserwählt die Armen in der Welt als die im Glauben reich sind und als Erben des Reichs, das er verheißen hat denen, die ihn lieben?
  6. Ihr aber seid mit dem Armen ohne Achtung umgegangen. Tun euch nicht die Reichen Gewalt an und sind sie es nicht, die euch vor Gericht ziehen?
  7. Verlästern nicht sie den guten Namen, der über euch genannt ist?
  8. Wenn ihr wirklich das königliche Gesetz erfüllt nach der Schrift: „Lieben wirst du deinen Nächsten wie dich selbst!“, handelt ihr gut.
  9. Wenn ihr aber nach dem Ansehen der Person handelt, tut ihr Sünde, überführt vom Gesetz als Übertreter.
  10. Wer nämlich das ganze Gesetz hält, verfehlt sich aber an einem einzigen Gebot, der hat sich an allen schuldig gemacht.
  11. Denn der gesagt hat: „Du wirst nicht ehebrechen!“, der hat auch gesagt: „Du wirst nicht töten!“ Wenn du nun nicht die Ehe brichst, tötest aber, bist du ein Übertreter des Gesetzes geworden.
  12. So redet und so handelt als solche, die durchs Gesetz der Freiheit gerichtet werden (sollen).
  13. Denn ein Gericht ohne Erbarmen wird über den ergehen, der nicht Erbarmen geübt hat. Erbarmen aber triumphiert über das Gericht.

1.
Es geht hier darum, wie wir es mit den Armen halten, liebe Gemeinde. Eine Gretchenfrage für den Glauben an unseren Herrn der Herrlichkeit Jesus Christus. Der passt nämlich einfach nicht zusammen mit einer Lebenspraxis, die sich an dem Ansehen der Person orientiert und verweigert dabei dem Armen die Achtung und nimmt ihm die Würde.
Jakobus erzählt ein anschauliches Fallbeispiel: Wie im Gottesdienst dem Ansehnlichen und prächtig Gekleideten ein bevorzugter Platz angedienert wird. Den Armen im schmutzigen Mantel aber verweist man auf einen der unteren Plätze.
Das Fallbeispiel ist konstruiert, mögen wir sagen. Zu krass und vordergründig. So geht es doch in unseren Gottesdiensten nicht zu. - Kann sein.
Obwohl es mich und andere bis heute irritiert, wenn während der Predigt, sagen wir mal: in der Antoniterkirche der Kölner Innenstadt, ein Armer hereinkommt und um Geld bettelt.
Womöglich trifft das Fallbeispiel eine innere Haltung von uns. Eine Art Blockiersystem. Ein Distanzverhalten: Nur nicht zu nah ran lassen diesen Armen. Und nicht auf gleiche Augenhöhe. Besser etwas weiter weg. Ist doch auch natürlich? Oder?

Lassen wir dieses Beispiel aus dem Gottesdienst. Da kommen von den Armen wahrscheinlich eh nicht viele hin.
Wer Augen hat, zu sehen, wird die Armut heute in unsrer Gesellschaft sehen. Armut weltweit. Sie hat riesige Ausmaße angenommen. Die Schere zwischen arm und reich ist weit auseinander gegangen.
Da gibt es Kinder und Jugendliche in unseren Städten. Die sind vielleicht befähigt, gebildet und ausgebildet zu werden und sich selbst weiter zu bilden. Nur herrscht zu Hause materielle Armut. Und man weiß heute: Die Bildungsarmut hängt zusammen mit der materiellen Armut. Eltern in Armutsverhältnissen, manchmal schon in der zweiten oder dritten Generation, können ihren Kindern von sich aus oft bei Schulaufgaben nicht helfen. Und die Erziehung überfordert sie. Nicht immer ist das so, aber die Gefahr droht. Die Kinder und Jugendlichen bekommen zu Hause keine Angebote. Keiner gibt sich mit ihnen Mühe. Sie sitzen dafür viele Stunden am Tag vor Fernseher und Computer. Oder sie erhalten ihre ‚Bildung’ auf der Straße – und was da abgeht, davon haben wir und haben wahrscheinlich auch die Eltern oft keine Ahnung. Kostenfreie, verbindliche Kindergartenjahre fehlen noch. Und nötig sind gut ausgestattete Ganztagsschulen mit qualifiziertem Personal gerade in sozialen Brennpunkten. Damit Kinder und Jugendliche aus ihrer Armut zu Hause herauskommen und sich selbst entwickeln können. Damit sie Perspektiven für ihr Leben finden. Und nicht selbst hoffnungslos oder auch kriminell werden. Damit nicht eine Unterschicht auf Dauer heranwächst.

In Deutschland werden zweieinhalb Millionen Jugendliche unter 18 Jahren „in materiellen Verhältnissen groß, die nach offizieller Lesart als >Armut< bezeichnet werden“ (DIE ZEIT). – Wie viele sind es in Lateinamerika, Asien, Afrika? Bei den Flüchtlingen, die mit ihren Booten Europas Küsten anlaufen? Wenn sie nicht vorher im Meer ertrunken sind.
Da, wo sie herkommen, können viele nicht leben von dem, was sie auf ihren Feldern anbauen, oder von einem Kleinbetrieb, überhaupt von ihrer Hände Arbeit. Die Strukturen des Welthandels knebeln die Armen. Und es droht Gefahr, dass sich weiter die Interessen der Industrieländer durchsetzen gegen die Interessen der Entwicklungsländer.
Unter der Überschrift „Gerechtigkeit jetzt!“ findet in diesen Tagen, vom 13.-15. Oktober, ein erstes bundesweites Aktionswochenende von Gruppen und einzelnen statt, die sich im Vorfeld des Weltwirtschaftsgipfels 2007 für gerechten Welthandel engagieren.

Wie beziehen die Kirchen Stellung im weltweiten Konkurrenzkampf zwischen den Reichen und den Armen?
Was tun unsre Gemeinden für Jugendliche, die keine Perspektive haben?
Wo engagieren wir uns als Christen?
Und was können wir da tun?

Hinhören auf die Lebens-Interessen der Armen, auf ihre Bedürfnisse. Hinsehen, wie sie dran sind. Versuchen, aus ihrer Lage heraus zu denken und zu urteilen.

Es ist schon ein Zeichen, den fair gehandelten Kaffee zu kaufen und nicht den anderen.

Es ist auch schon der Vorschlag gemacht worden, dass ältere Menschen sich mit ihrer „Zeit, Autorität, Erfahrung“ für Kinder oder Jugendliche zur Verfügung stellen als Ansprechpartner, als Vertrauensperson neben den Eltern, als Schulaufgaben- oder sonst wie Helfer. Sie übernehmen dann gleichsam als Paten für einzelne Verantwortung. Nicht alle Älteren können und wollen das. Müssen sie auch nicht. Vielleicht könnten sich aber hier und da mal Christenmenschen darüber zusammensetzen und sich Gedanken machen, und dann bei Erzieherinnen oder Lehrerinnen oder Sozialarbeitern oder beim Pfarrer nachfragen: Was wird hier gebraucht? Und können wir hier was einbringen?
Immer wird es darum gehen, mit den Augen der Armen zu sehen. Und nicht – wie der Jakobusbrief sagt – sich am Ansehen der Reichen zu orientieren, sich ihnen anzudienen und den Armen die Würde nehmen.
Das ist eine Gretchenfrage des Glaubens an unsern Herrn der Herrlichkeit Jesus Christus.


2.
Warum aber gehört die Kirche auf die Seite der Armen?
Ist es denn heute noch so, ist es in unserem Land so, dass die Reichen der Kirche Gewalt antun - wie Jakobus es zu seiner Zeit schrieb? Kann es nicht ganz nützlich sein für die Kirche, sich mit den Einflussreichen und Geld-Reichen gut zu stellen, auf deren Anliegen zu hören?
Kann unsre Kirche nicht vom Ansehen der Angesehenen profitieren? Dann hätte sie für ihre Arbeit doch bessere Möglichkeiten. Und auch mehr Mittel, mit denen sie dann ja wieder den Armen helfen könnte.
So oder so ähnlich praktizieren wir es doch auch.

Wir müssen dabei nur bedenken: Die Kirche ist nicht dazu da, sich selbst zu erhalten. Und nicht dazu, ihren eigenen Einfluss zu vermehren. Auch nicht unter der Überschrift einer guten Sache.
Die Kirche ist da um Gottes willen. Um seiner Optionen willen.
Und Gott selbst, der Eine und Einzige und Lebendige, hat – so schreibt Jakobus – die Armen dieser Welt auserwählt: als Reiche im Glauben, als Erben seines Reichs, das er verheißen hat denen, die ihn lieben. Indem Gott so die Armen auserwählt, verkörpern die Armen schon jetzt das Grundgesetz des Reiches Gottes.
Wenn das stimmt, ist Gott parteiisch. Dann hat er höchst parteiisch die Armen vorgezogen.

So hat es auch Jesus auf den Feldern Galiläas gepredigt – wie Lukas berichtet:
„Selig seid ihr, Armen. Denn das Reich Gottes ist euer.“
Aber dagegen: Weh euch Reichen! Denn ihr habt euren Trost schon gehabt.“

Wenn ihr nun dem Armen die Ehre nehmt, ihn verächtlich behandelt, nicht von ihm her denkt und handelt – was macht ihr denn dann? Ihr stellt euch dann ja gegen Gottes Wahl. Eure Lebenspraxis läuft dann der Praxis des lebendigen Gottes zuwider.

Jakobus berichtet in seinem Brief an späterer Stelle von Ausbeutung, Ungerechtigkeit und Unrecht der Reichen an den Armen. Ist das heute vorbei?
Die Schere zwischen Reichen und Armen geht immer weiter auseinander und das eine bedingt das andere.
Die Einen, auch die öffentlichen Haushalte, werden immer ärmer, weil auf der Gegenseite andere immer reicher werden. Oder umgekehrt: Weil die Armen ärmer werden, werden die Reichen reicher. – Ist es so? Und verstehen wir, warum den Armen das „Selig seid ihr“ gesagt wird und den Reichen das „Wehe euch!“
Übrigens: Damit es nicht bei diesem „Wehe euch!“ bleibe, wird es gesagt.

Meint nur ja nicht, sagt Jakobus, ihr könntet die Armen verächtlich behandeln und euch drauf berufen, ihr würdet doch sonst Gottes ganzes Gesetz samt dem Liebesgebot erfüllen. Wer sich bei einem Gebot verfehlt, der hat sich an allen Geboten schuldig gemacht.
3.
Es steckt in der Frage, wie wir es mit den Armen halten, noch mehr drin. Das rührt bis an den tiefsten Grund unseres Glaubens und unsres Heils. Und hat wieder zu tun mit Gottes eigenem Wollen und Tun.
Ziemlich am Schluss unseres Predigttextes schreibt Jakobus:
„Redet und handelt als solche, die durchs Gesetz der Freiheit gerichtet werden sollen.“
Was heißt das? Wie passen „Freiheit“ und „Gesetz“ zusammen?
Vielleicht hilft uns ein drittes Wort weiter, das Jakobus im selben Zusammenhang gebraucht. Das Wort „Erbarmen“.
Es wird ein Gericht ohne Erbarmen über den ergehen, der nicht Erbarmen geübt hat. Erbarmen aber triumphiert über das Gericht.

Das Gesetz, nach dem wir gerichtet werden sollen, besteht im Erbarmen. Und das Gesetz, nach dem wir uns richten sollen, besteht es nicht ebenfalls im Erbarmen?
Gott will uns richten nach seinem Erbarmen. Er ist uns das nicht schuldig. Er erbarmt sich über uns in seiner göttlichen Freiheit. Ganz allein aus der Freiheit seiner Liebe heraus. Alles, was Jesus Christus uns von Gott gebracht hat, lässt sich begreifen in diesem Wort „Erbarmen“.
Erbarmen ist das „Gesetz der Freiheit“, nach dem wir gerichtet werden sollen. Eben nach diesem Gesetz sollen wir uns richten.
Redet und handelt als solche, die nach dem Gesetz der Freiheit gerichtet werden sollen.
Menschen sollen wir sein, die selbst Erbarmen üben.

Martin Luther hat in seiner Schrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ gesagt: „Ei so will ich … gegen meinen Nächsten auch werden ein Christ, wie Christus mir geworden ist, und nichts mehr tun, denn was ich nur sehe, das ihm not, nützlich und selig sei ….

Fragen wir noch einmal zurück: An wem sollen wir Erbarmen üben?
An dem, der vor uns auf der Straße liegt, Hilfe braucht, unter die Räuber gefallen ist – und ist dabei, zu verbluten.

Und in anderer Weise sollen wir Erbarmen üben auch an den Räubern! An den Agenten des „Raubtierkapitalismus“, von dem Helmut Schmidt spricht. Denn die können wir doch nicht dabei belassen wollen, dass sie mit all ihrem Reichtum ihren „Trost“ schon dahin haben. Ihr Reichtum ist doch kein Trost zum Leben und zum Sterben. Unser Erbarmen soll sie weiter sehen und das Leben weiter planen lassen. Über den Reichtum hinaus, dem sie so ergeben dienen und den doch die Motten und der Rost zerfressen. Auch die „Räuber“ und die, die ihnen sich andienen, sollen doch teilhaben an der Freiheit der Kinder Gottes.

Das freie Erbarmen Gottes mit uns möge uns selbst barmherzig machen. Es möge uns in unserem Erbarmen erkennbar machen. Damit wir andere einladen und locken zu dem Erbarmen, das Hoffnung ist für unsre Welt. Amen.


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Vorschlag für die Lesung des Evangeliums: Luk 10, 25-37


Glaubensbekenntnis:

Ich glaube an Gott,
der mich geschaffen hat,
wie alle meine Menschenbrüder und -schwestern,
der treuer zu uns steht,
als Vater und Mutter es vermögen;
der das Leben liebt und erhält
durch die Kreisläufe der Schöpfung
und durch das Recht seines Bundes.

Ich glaube an Jesus Christus,
gottgesandt, eins mit ihm,
unser Bruder und Befreier
aus Schuld und Zukunftsangst;
Befreier aus Taubheit und Blindheit
für die Zeichen der Zeit.
Liebe, Barmherzigkeit und Gerechtigkeit
sind eins in ihm.
Er lässt uns streben
nach der Gerechtigkeit des Reiches Gottes
vor allem anderen.
Auch an diesem Tag
ist er uns einen Schritt voraus
auf diesem Weg.

Ich glaube an den Heiligen Geist
der unsere Kirche mitnimmt
auf den Weg der Gerechtigkeit,
auf den Weg Jesu;
der ihr eine Stimme verleiht
vor den Machthabern der Welt;
der die Kirchen der geteilten Welt
einander verstehen lehrt;
der uns befreit aus der Gefangenschaft alter Schuld
und uns mit Vorfreude erfüllt
auf Gottes neue Schöpfung .


Dieses Glaubensbekenntnis ist neben anderen „Bausteinen“ zu finden in einer
Gottesdienstvorlage zur Aktion des Bündnisses „Gerechtigkeit jetzt!“



Hans Theodor Goebel, Köln
HTheo_Goebel@web.de


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