Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, J. Neukirch, C. Dinkel, I. Karle

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19. Sonntag nach Trinitatis, 22. Oktober 2006
Predigt zu Jakobus 5, 13-16, verfaßt von Doris Gräb
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Liebe Gemeinde!

Wie gehen wir miteinander um in der christlichen Gemeinde? Wie leben wir miteinander, nicht nur im sonntäglichen Gottesdienst, sondern im Alltag der Welt? Sind wir anders als die anderen? Sollen wir nicht anders sein, barmherziger, liebevoller, versöhnlicher? Das sind die Fragen, die die christliche Gemeinden damals bewegten, als Jakobus sein Schreiben versandt hat. – Ich denke, uns bewegen sie nicht weniger.

Die zweite Generation von Christenmenschen inzwischen heran gewachsen. Aus einem verängstigten, versprengten kleinen Häuflein inmitten einer von vielerlei Göttern und Religionen geprägten Welt ist eine ansehnliche Zahl von Christen geworden. Und es werden immer noch mehr. Neue kommen zu den Gottesdiensten und Versammlungen hinzu. Sie hören die Botschaft von Jesus Christus – werden auf wunderbare Weise in ihrer Seele berührt – und lassen sich taufen. Aus allen Schichten gewinnt die Gemeinde neue Mitglieder. Waren es zunächst eher die Armen, die Bedürftigen, die von der Predigt der Apostel angesprochen wurden, dann sind es jetzt mehr und mehr auch Wohlhabende, die dazu stoßen. Wollen wir die denn überhaupt dabei haben? Hat Jesus nicht gerade die Armen selig gepriesen? – So wird gefragt. Mit dem Wachsen der Gemeinde wachsen also auch die Probleme. Wie gehen wir miteinander um? Wie können wir im Geist Jesu miteinander leben, gerade auch im Alltag der Welt? So fragten sie sich damals.

Neu geworden sind wir durch die Taufe; wieder geboren sind wir durch Wasser und Geist – und dennoch: die Lebensverhältnisse sind die alten geblieben. Der Alltag des Lebens, den es zu bestehen gilt, um existieren zu können, hat sich ja gar nicht geändert.

Wie halten wir’s von jetzt an mit der Nächstenliebe? Wie halten wir`s mit der Wahrhaftigkeit – und mit der Barmherzigkeit, wo der Kampf ums Überleben alle gleichermaßen fordert? Wie gehen wir um mit den Kranken, den Leidenden, den Schwächsten der Gesellschaft? – Und mit unserem eigenen Glück und Wohlergehen?

Der Briefschreiber Jakobus, der sich den Namen des Herrenbruders geliehen hat, versucht auf diese Fülle von Fragen eine Antwort zu geben. – Hilfen für den Alltag der Christen in der Welt sind es. Alltagsethik. Keine hohe Theologie im Stil des Apostels Paulus. Aber deswegen sind sie doch nicht unwichtig, seine weisen, vernünftigen Überlegungen und Ermahnungen.

„Leidet jemand unter euch, der bete; ist jemand guten Muts, der singe Psalmen.“ – Glück – und Leid: wie geht ihr damit um? Findet ihr in eurem Glück zum Gotteslob – und in eurem Leid zum Klagegebet? – Vergesst nicht, wo ihr eure Freude, euren Dank – aber auch eure Klage ablegen könnt: Auf dem Altar. Im Gottesdienst. Im persönlichen Gebet. Von Gott her sollt ihr euer Leben verstehen, an guten und an weniger guten Tagen. Im Glück – und im Leid. Im Gelingen – und im Versagen. Hilfen zur Lebensdeutung gibt der Schreiber Jakobus, und keineswegs ohne religiösen Bezug. Einfach sind sie, aber noch lange nicht oberflächlich. Wie gut wären die Menschen dran, bis zu diesem Tag, wenn sie die Empfehlungen des Jakobus wirklich beherzigen würden.

Und weiter empfiehlt er dann: wenn einer krank ist, der rufe die Ältesten der Gemeinde, dass sie über ihm beten und ihn salben mit Öl.

Verständlich, dass der Einzelne in der Gemeinde nicht allein bleiben soll, wenn er krank ist und leidet. Dazu ist die Gemeinschaft der Jesusnachfolger doch da. Krankenhäuser hat es damals nicht gegeben. Und Ärzte, die flächendeckend die Kranken versorgen, erst recht nicht. Wen mag’s wundern, dass man sich gerade in Zeiten der Krankheit Hilfe von den Geschwistern im Glauben versprach: Beistand und Pflege. Besuche. Gebete. Gespräche.

Bis jetzt, Sie werden es bemerkt haben, konnten wir den weisen Ratschlägen und Empfehlungen des Briefschreibers Jakobus durchaus folgen. Ja, so möchten doch auch wir unser Leben ausrichten. Und verstehen. Und deuten, in guten und in bösen Tagen.

Doch wenn wir krank sind, brauchen wir dann nicht doch noch mehr? - Hier tut sich mir der Graben der Geschichte nun doch auf: zwischen der Christengemeinde der zweiten Generation – und uns, im Jahr 2006. Gewiss, an jedem Sonntag gedenken wir im Fürbittgebet der Kranken, der Schwachen, der Sterbenden – und nehmen sie mit hinein in unsere Bitten an Gott. Aber wir wissen sie im Krankenhaus andererseits doch auch gut versorgt. Wir trauen der modernen Medizin viel zu – mit guten Gründen. Und wir wissen auch, dass es – hoffentlich – in den Kliniken Seelsorger gibt, die das Ihre tun auf den Intensivstationen und in den Krankenzimmern.

Ich weiß, wovon ich rede. Sechs Jahre lang habe ich in einer Universitätsklinik gearbeitet, war täglich auf den Stationen der Tumorkranken, der frisch Operierten, der Sterbenden.

Mit geweint habe ich. Mit geklagt. Stumm und ratlos vor Entsetzen habe ich am Bett gesessen, wenn eine junge Frau mit noch kleinen Kindern gerade von ihrer hoffnungslosen Diagnose erfahren hatte. Manches Mal blieben mir nur noch die fest gefügten Verse der Psalmen oder unseres Gesangbuches. Täglich habe ich Hiobs Schrei gehört, hinter den vielen Türen unserer High-Tech-Klinik, und habe mich eingelassen auf das Verhandeln, das Anklagen, das Gott-Zur-Rechenschaft-Ziehen. Bin sozusagen auch mit dem Kopf gegen die Wand gerannt aus lauter Verzweiflung. - Manchmal habe ich auch gesungen.

Unvergessen, wie ich mit einigen sangeskundigen Pfarrer-Kollegen am Sterbebett eines Pfarrers unseres Kirchenkreises gesungen habe, weil uns die Worte fehlten: alle die Lieder haben wir mehrstimmig gesungen, die er sich für seine Beerdigung schon ausgesucht hatte: „In dir ist Freude, in allem Leide, o du süßer Herre Christ.“ – Und: „Freuet euch der schönen Erde, denn sie ist wohl wert der Freud…“ Und weiter heißt es dann in Philipp Spittas Lied: „Wenn am Schemel seiner Füße und am Thron schon solcher Schein, o was muss an seinem Herzen erst für Glanz und Wonne sein…“ Ich weiß noch gut, wie sich uns damals, gerade bei diesem Vers, für einen Augenblick der Himmel einen Spalt breit zu öffnen schien, trotz unserer Verzweiflung, unserer Tränen. Dort, im anderen Leben: Glanz und Wonne. Keine Tränen. Keine Schmerzen. Kein Leid.

„Und das Gebet des Glaubens wird dem Kranken helfen, und der Herr wird ihn aufrichten…“Anders hat unser Gebet, unser Gesang dem Kranken geholfen, als es der Briefschreiber Jakobus vermutlich gemeint hat. Unser Kollege ist nach wenigen Tagen gestorben und hat neben seiner Frau fünf Kinder zurück gelassen. Aber wir sind in tiefem Frieden – daran erinnere ich mich noch gut – von ihm gegangen. Wir hatten mit ihm einen Augenblick lang hinüber geschaut, und das hat uns auf wunderbare Weise stark gemacht, ihn gehen zu lassen und ins Leben zurückzukehren.

„Des Gerechten Gebet vermag viel, wenn es ernstlich ist“ – das, so möchte ich Jakobus entgegen halten, klingt mir auf dem Hintergrund meiner Klinikserfahrungen nun doch ein wenig zu selbstsicher, zu glaubensgewiss, zu hochmütig. Zumindest dann, wenn es auf die Erfüllung unserer Gebetswünsche ausgerichtet ist, gerade an einem Krankenbett.

Was aber vermag das Gebet? Ich möchte ihm – und ihnen - jetzt viel lieber von jenem Schüler in einer Gebetsschule erzählen, der seinen Lehrer bat: „Zeig mir, wie ich beten kann.“ Der antwortet: „Wie kann ich es dir zeigen? Ich kann es nicht.“ Der Schüler antwortet erstaunt: „bist du nicht ein Lehrer der Religion?“ „Eben deswegen“, antwortet der Lehrer. „Beten lernt niemand durch Wissen und Können. Sondern nur durch Erfahren und Leben. Selbst musst du in den Brunnen springen, die Tiefe wagen, den inneren Raum und die innere Zeit entdecken.“ „Und wie rufst du Gott“ – fragt der Schüler den Lehrer weiter. Welchen Namen gibst du ihm?“

„Ach, werde ich ihn rufen“, antwortet der Lehrer. „Nicht Gott. Ach! Überleg dir selbst: wann sagst du Ach?: Ach, wenn du leidest. - Ach, wenn du staunst. - Ach, wenn du betroffen bist. - Ach, wenn du dich freust.“ Wenn du in solcher Weise Ach sagst, dann ahnst du etwas vom tiefen Brunnengrund deiner Seele. – Dann spürst du auf einmal, wo der Grund deines Seins ist. - Wo Gott ist. Und ist das nicht mehr, unendlich viel mehr als die Erfüllung deiner Gebetswünsche?“

Ach, wenn ich leide. Ach, wenn mein Leben zutiefst in Frage gestellt ist.- Ach, wenn ich Hilfe brauche, weil ich mir selbst nicht mehr helfen kann.

Wie aber erfahre ich dann Hilfe? – Ich weiß es aus vielen Gesprächen im Krankenhaus, wie oft die Kunst und die Hilfe der Ärzte nicht ausreichte. Als wir damals auf dem Weg zu unserem sterbenden Kollegen waren, war gleichzeitig Chefvisite auf der Station. – „Singen sie,“ sagte der ob seiner Tumorforschungen hoch gerühmte Kliniksdirektor, „singen Sie, wir können nichts mehr tun.“

Singen – und beten – klagen und schreien, um zu sich selber zu finden. Um im tiefen Brunnengrund der Seele Gott zu finden.

Ich habe es selbst erlebt, wie ruhig und gefasst wir damals wurden. Weil wir gespürt haben, dass auch dieses sterbende, vergehende Leben in einem umfassenden Sinn aufgehoben ist in einer ganz anderen Wirklichkeit. Dass dieser vom Krebs zerschundene Körper nicht das Ganze des Lebens ausmacht.

Insofern hat das Gebet – es war, so glaube ich, ein ernstliches Gebet im Sinne des Jakobus – tatsächlich viel bewirkt. Zu uns selber haben wir gefunden in unserem Klagen und Beten – und so zu Gott. Und, so gesehen, kann ich Jakobus nun doch beipflichten.

„Das Gebet des Glaubens wird dem Kranken helfen, und der Herr wird ihn aufrichten.“ – Ja, so ist es. So kann es sein.

Gott möge uns helfen, wenn wir nicht wissen, was wir beten sollen. Amen

Pfarrerin Doris Gräb
Burgfrauenstraße 79a
13465 Berlin
E-mail: dorisgraeb@gmx.de

 


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