Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, J. Neukirch, C. Dinkel, I. Karle

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19. Sonntag nach Trinitatis, 22. Oktober 2006
Predigt zu Johannes 1,35-51, verfaßt von Niels Henrik Arendt
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Wer sind sie eigentlich, diese Jünger, die Jesus beruft? Ja, viel wissen wir nicht über sie. Halten wir uns wirklich nur an die historischen Tatsachen, so kennen wir von den meisten nur ihre Namen, und wir wissen dies, dass sie Jünger Jesu waren. Was sie waren, bevor sie Jesu Jünger wurden, darüber wissen wir noch weniger. Und die Biographie selbst derjenigen, über die wir ein wenig mehr wissen, lässt sich mit einigen wenigen Linien in einem Lexikon wiedergeben. Die Jünger sind nicht von der Art Menschen, die in die Register über bedeutende Männer aufgenommen würden, wie wir sie heute zu führen beginnen. Bei Johannes tauchen sie sozusagen aus dem Nichts auf, wie wir es eben gehört haben. Der Evangelist erzählt nicht ihre Vergangenheit, obwohl er sie sehr wohl gekannt haben kann.

Selbstverständlich hatten sie eine Vergangenheit. Selbstverständlich waren sie jemand. Ihre Eltern hätten etwas über sie berichten können, ihre Geschwister hätten auch etwas sagen können, ja, selbst ihre Feinde hätten ihren Beitrag leisten können. All das hat der Evangelist kurzerhand ausgelassen. Vielleicht war es überflüssig – vielleicht kannte man die Jünger in den Gemeinden, für die er schrieb. Aber der eigentliche Grund, warum er sie nicht vorstellt, ist der, dass ihre Identität für ihn nicht daran gebunden ist, was Freunde und Feinde über sie hätten berichten können, sondern vielmehr an ihre Begegnung mit Jesus. Wir gebrauchen das Wort Identität, wenn es um die Frage geht, wer ein Mensch ist. Und um verschiedene Identitäten geht es in der heutigen Erzählung, in der die ersten Jünger Jesus begegnen.

Zunächst geht es um die Identität Jesu selbst – wer ist er? Alle möglichen Geschichten waren über ihn im Umlauf: dass er ein Prophet war, dass er ein Magiker war, ein Besessener, ein König, dass er der wiedergekommene Prophet Elias war. Die Leute hatten alle möglichen Vorstellungen von ihm. Jetzt aber sagt Johannes der Täufer über ihn: Siehe, Gottes Lamm! Und das sagt der Täufer nicht nur einfach so dahin. Er hat soeben Jesus getauft, und Gott hat ihn bei dieser Gelegenheit sehen lassen, wer Jesus ist, was Jesus in Gottes Augen ist. Und damit ist eigentlich alles über Jesus gesagt. Auch Jesus hat eine Vergangenheit, aber keiner der Evangelisten verwendet besonders viel Platz für sie, bei einem von ihnen, nämlich Markus, taucht er ganz wie die Jünger sozusagen aus dem Nichts auf. Was seine Mutter, seine Freunde und Feinde, was die Leute ganz allgemein über ihn erzählen konnten, das zu hören und zu wissen, wäre wohl interessant gewesen – aber wir haben nur Andeutungen. Für Gott ist er derjenige, der Gottes Liebe unter den Menschen sein wird, der Sohn, der wahre Mensch – das ist Gottes Wille mit ihm, und damit ist im Grunde alles gesagt. Der Zimmermannssohn aus Nazareth, ein einfacher Galiläer, ein gefährlicher Gesetzesübertreter – der Täufer hat den Himmel über ihm offen gesehen, und das heißt, er ist in diesem Mann Gott begegnet. Als sich dieses Wissen in den Herzen des Täufers und der anderen niedergeschlagen hatte, musste das wie ein Schock sein. Niemand hatte jemals Gott gesehen – aber jetzt gibt es also jemanden, der Gott gesehen hat. Es steckt auch etwas Schockierendes in der Art und Weise, wie die ersten Jünger daraufhin umherwandern und Aufmerksamkeit für das zu schaffen suchen, was sie gesehen haben – aber mit ihnen wollen wir uns noch einen Augenblick Zeit lassen.

Der Täufer ist Gott begegnet. Damit ist ihm auch klar geworden, wer er selbst ist. Gott begegnen bedeutet für ihn, dass ein vollständig durchdringendes Licht auf sein eigenes Leben und seine eigene Aufgabe im Dasein geworfen wird. Die eigentliche Aufgabe des Täufers, über die er nach dem Evangelisten erst Klarheit erhält, als er Jesus begegnet, ist nicht die, am Jordan zu stehen und über Gericht und Untergang zu wettern, sondern auf Jesus hinzuweisen für diejenigen, die zu ihm kommen. Er entdeckt, wer Jesus ist, und er entdeckt, wer er selbst ist und was er tun soll. Die beiden Dinge gehören zusammen.

Und das gilt auch für die Jünger, von denen nun erzählt wird. Sie begegnen Gott – in Jesus. Und sie begegnen sich selbst. Sie werden sich selbst gegenübergestellt. Sie werden nicht mit ihrer eigenen Vergangenheit und ihrem eigenen Hintergrund konrontiert, so wie man sich heutzutage daran gewöhnt hat, bekannten Menschen Archivbilder von ihnen selbst vorzulegen, um zu hören, wie sie sich selbst sehen. Nein, sie werden so, wie sie sein sollen, sich selbst gegenübergestellt. Das kommt ganz buchstäblich bei Simon Petrus und Nathanel dadurch zum Ausdruck, dass Jesus, fast noch ehe sie überhaupt etwas gesagt haben, sagt, wer sie sind und was sie sein sollen. Jesus kommt all ihrem Wissen von sich selbst und den Vorstellungen all der anderen von ihnen zuvor. Jetzt wird ihnen ihre wirkliche Aufgabe im Dasein gestellt. Es wird ihnen vorgestellt, wer sie in Gottes Augen sind – und etwas Wichtigeres und Wahreres können sie nicht zu wissen bekommen. Ja, sie bekommen es nicht einmal als Ideal vorgestellt, nach dem sie zu streben hätten, sondern als etwas, was sie sind. Und als das, was zu sein nun ihre Aufgabe ist. Und da eilen sie zu ihren Kameraden. Zu ihnen sagen sie nicht: wir haben uns selbst gefunden – obwohl sie das sehr wohl hätten sagen können. Nein, denn sie haben etwas gefunden, was sie noch mehr verblüfft. Sie sagen: wir haben den Messias gefunden, d.h. wir sind Gott begegnet. Andere können es ja nicht sein, wer anders wenn nicht Gott kann ihnen sagen, wer sie wirklich sind?

Sie erhalten Identität, da sie Jesus begegnen – ungeachtet, wer sie zuvor gewesen sind. Du bist Kephas, der Fels, sagt Jesus zu Simon, und das kann uns verwundern, denn mit dem wenigen, was wir von Simon wissen, wissen wir doch immerhin: besonders felsenfest und unerschütterlich war er nicht. Aber Simon ist der Fels, weil er es in den Augen Gottes ist. Und du bist der, in dem kein Falsch ist, sagt Jesus zu Nathanael – obwohl unser bescheidenes Wissen über die Jünger doch nichts über solche einzigartige Treue erzählt. Aber was wir wissen, ist ebenso wenig Petrus wie die Kenntnis der Umgebung von ihm als einem dummen und einfältigen Fischer aus Galiläa, und es ist ebenso wenig Nathanael wie die Kenntnis der Umgebung von ihm als einem trockenen und phantasielosen Schriftgelehrten. Hier ist ihre wirkliche Identität, hier ist, was sie in Gottes Augen sind, sie sind diejenigen, die in guten wie in schlechten Zeiten, im Versagen und in der Niederlage Jesu Jünger sein werden.

Der Evangelist macht sich nicht daran, sie vorzustellen, wie es ein Geschichtenerzähler normalerweise mit seinen Personen tun würde, nein, denn obwohl sie nicht aus dem Nichts kommen, beginnt ihre Geschichte im Grunde erst in dem Augenblick, in dem sie erfahren, wer sie wirklich sind. Ja, wir erfahren, dass Andreas und der Zweite Jünger Johannes’ des Täufers sind, aber das wird ja gerade als etwas erwähnt, was definitiv vorbei ist, als etwas, was sie hinter sich lassen, um ihre eigentliche Geschichte zu beginnen. Die Aufgabe ist ihnen gestellt. Sie sollen sich nicht selbst zu irgend etwas machen, sondern sie werden berufen, das zu sein – was sie in Gottes Augen sind. Und dann kennen sie Jesus auch. Nicht so, dass sie später nicht Zweifel bekämen, sie bekommen ja auch Zweifel hinsichtlich der Identität, die ihnen selbst hier geschenkt worden ist. Einige von ihnen denken daran, was sie vorher waren, und ob es nicht dennoch das ist, woran sie sich halten sollten. Aber zum Schluss, als ihnen wirklich klar ist, dass Jesus das ist, was Gott in ihm zu sehen ihnen gegeben hatte, da wissen sie auch, wer sie selbst sind, unwiderlegbar, dass sie das, wozu Jesus sie berufen hat, dass sie es seien, auch sind und ihre Aufgabe eben darin liegt. Und so gehen sie hinaus in die Welt als seine Jünger. Und so berufen sie andere, dasselbe zu sehen, was sie selbst gesehen haben (so, wie es bereits in der heutigen Erzählung beginnt), und diese anderen berufen wiederum andere, und auf diese Weise gelangt die Kette bis hin zu uns. Für uns heißt es wiederum: Kommt und seht Gott, ihn, den niemand jemals gesehen hat! Hier könnt ihr ihm dennoch begegnen. Kommt und seht euch selbst, wie ihr in Gottes Augen seid. Auch in Bezug auf uns gilt, dass es nur Gott ist, der wirklich sagen kann, wer wir sind – und darin liegt im Grunde eine unglaubliche Befreiung, gegenüber all den Vorstellungen, die andere sich von uns machen, gegenüber der Vergangenheit, die wir mit uns bringen, gegenüber dem, was wir uns selbstsicher oder selbstverachtend über uns selbst einbilden. Alles das ist ja sehr gut so. Oder auch nicht. Aber die Begegnung mit Jesus bedeutet, dass es denn doch nicht das Entscheidende ist. Das erste Kapitel des Evangeliums mit uns beginnt anderswo – nämlich wenn wir zur Taufe getragen werden, um zu erfahren, was wir in Gottes Augen sind.

Vor vielen Jahren fand man eine Scherbe eines Fensters in einer Klosterruine irgendwo hier in Dänemark. Auf der Scheibe waren die Worte geritzt: ein Mensch ist, was er in den Augen Gottes ist. Ein Mensch des Mittelalters hat die Worte in das Glas geritzt, und das ist die gute Botschaft an uns.

Aus dem Nichts ist niemand von uns gekommen, wir sind immerhin Kinder unserer Eltern, und wir sind beeinflusst von unserer Umgebung, wir werden versagen und fehlen und Böses tun, und wenn das alles geschehen ist, dann dürfen wir trotzdem daran festhalten, dass wir das sind, was wir in Gottes Augen sind. Wir sind von ihm gesehen. Er hat uns gesehen, bevor wir ihn gesehen haben. Er hat den Blick der Liebe auf uns gerichtet, bevor wir noch Gelegenheit bekamen zu zeigen, wer wir waren. In dem Blick der Liebe ist alles enthalten.

Amen!

Bischof Niels Henrik Arendt
Ribe Landevej 37
DK-6100 Haderslev
Tel.: +45 74 52 20 25
E-mail: nha@km.dk

Übersetzung aus dem Dänischen: Dietrich Harbsmeier


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