Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, J. Neukirch, C. Dinkel, I. Karle

Spenden Sie dem Förderverein Göttinger Predigten im Internet e.V.
für die Fortführung seiner Arbeit!

Gedenktag der Reformation, 31. Oktober 2006
Predigt zu Galater 5, 1-6, verfaßt von Christoph Ernst
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Liebe Gemeinde,

Freiheit kann beängstigend und unheimlich daherkommen. Knechtschaft, als ein Gegenpol zur Freiheit, kann dagegen geradezu etwas Beruhigendes ausstrahlen. In Freiheit zu leben erfordert Kreativität, Kraft und Anstrengung; ein Leben in Knechtschaft verlangt allein Routine, Unterordnung und Gehorsam. Freiheit bedarf der Gestaltung, Knechtschaft lässt dafür kaum einen Raum. So kommt es, dass Freiheit, obwohl wir sie doch als edles Menschenrecht verehren, nicht von selbst auch jedermanns Sache ist. Denn Freiheit ist anstrengend, voller Mühen, sie braucht Geduld, den langen Atem.

So haben es die Menschen erlebt, die Mose seinerzeit aus der ägyptischen Sklaverei geführt hat. Vielen wurde der Weg in die Freiheit zur Zumutung. Nach den ersten Strapazen wollten sie lieber geknechtet aus den Fleischtöpfen Ägyptens essen als die lange Reise in die Freiheit fortzusetzen.

Freiheit ist anstrengend, sie braucht Geduld, den langen Atem. Das ist die Erfahrung, die auch die Reformatoren gemacht haben, die wortgewaltig für eine christliche Freiheit stritten, die sich allein aus der Autorität der Bibel ableiten lässt. Freiheit gewinnen hieß damals, die Knechtschaft einer übermächtig gewordenen Tradition auf die hinteren Plätze zu verweisen. Es galt, verschüttete Wahrheiten des christlichen Glaubens freizulegen und wieder in die Kirche zu holen – die frohe Kunde von der Rechtfertigung des Sünders allein aus Gnade und nicht aus guten Werken – so nötig diese auch sein mögen.

Wir als lutherische Gemeinde hier in Ottawa gedenken am heutigen Sonntag der Reformation, 489 Jahre nach dem Thesenanschlag Martin Luthers in Wittenberg. Damit gesellen wir uns denen zu, die sich stets aufs Neue auf den Weg in die Freiheit des Glaubens begeben haben. Freiheit – das ist eben nicht ein irgendwann abgeschlossener und glückseliger Zustand, sondern die Begegnung mit der Freiheit bleibt aufrüttelnd und fordernd, eine spannende, lebenslange Reise.

Freiheit ist anstrengend, sie braucht Geduld, den langen Atem. So haben es Menschen erlebt, die 1989 in der DDR auf den Straßen demonstriert haben – für die Freiheit, gegen die Knechtschaft. Als die Freiheit, die sie suchten, dann buchstäblich über Nacht über sie hereingebrochen war, folgten auf den ersten Rausch der Begeisterung ernüchternde Tage. Viele Menschen hatten nicht gelernt, eigenverantwortliche Entscheidungen zu treffen. In der Knechtschaft der DDR gab es diese Pflicht zur Entscheidung, diesen Zwang zur Wahl nicht. Das meiste war immer schon geklärt. Freiheit kam für manche deshalb geradezu beängstigend und unheimlich daher.

Für den Apostel Paulus war seinerzeit beängstigend, was er über die Christenmenschen in Galatien hörte, die er seinerzeit auf den Weg christlicher Freiheit geführt hatte. Paulus erfuhr, dass einige seiner Galater schwach geworden waren, dass sie mit der von ihm verkündeten Freiheit nicht umzugehen wussten, dass sie sich in die Knechtschaft der eingefahrenen religiösen Tradition fallen ließen. Und so klagt ein frustrierter Paulus in seinem Brief an die Galater: „Ich fürchte für euch, dass ich vielleicht vergeblich an euch gearbeitet habe…“ (Gal 4, 11).

Es ging um den Streit verschiedener Gruppierungen in den christlichen Gemeinden Galatiens: die einen, die aus dem Judentum kamen, standen in der Tradition des alten Bundes – die Männer unter ihnen waren zum Zeichen der Zugehörigkeit zum Volk Israel beschnitten. Doch die wachsende Zahl der anderen, die nicht in der Tradition der jüdischen Religion standen, waren unbeschnitten. Alle versammelten sich im Glauben an Christus in derselben Gemeinde. Streit konnte da gar nicht ausbleiben. Denn die einen sagten: „Ich kann allein durch die Taufe und meinen Glauben zu Christus gehören!“ Die anderen, zu Christus bekehrte Juden, hielten dagegen: „Zuerst einmal musst du dich beschneiden lassen!“ Der Weg über die jüdischen Tradition war für sie die Voraussetzung für die Gemeinschaft mit Christus.

Paulus findet zu diesem Streit klare Worte (Gal 5, 1-6)

Zur Freiheit hat uns Christus befreit! So steht nun fest und lasst euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auferlegen!

Siehe, ich, Paulus, sage euch: Wenn ihr euch beschneiden lasst, so wird euch Christus nichts nützen. Ich bezeuge abermals einem jeden, der sich beschneiden lässt, dass er das ganze Gesetz zu tun schuldig ist.

Ihr habt Christus verloren, die ihr durch das Gesetz gerecht werden wollt, und seid aus der Gnade gefallen. Denn wir warten im Geist durch den Glauben auf die Gerechtigkeit, auf die man hoffen muss. Denn in Christus Jesus gilt weder Beschneidung noch Unbeschnittensein etwas, sondern der Glaube, der durch die Liebe tätig ist.

Liebe Gemeinde, die Frage, ob eine rituelle Beschneidung für Christen nötig ist oder nicht, ist unser Problem nicht mehr. Auch in Galatien stellte sich diese Frage schon wenige Jahre, nachdem Paulus den Galaterbrief geschrieben hatte, nicht mehr. Sie hatte sich dadurch gelöst, dass sich die christlichen Gemeinden immer weiter von ihren jüdischen Wurzeln entfernt hatten und keine Beziehung zur jüdischen Synagoge, also keine Gottesdienstgemeinschaft mehr bestand. Das Christentum verbreitete sich als neue Religion zusehends unter Menschen, die aus anderen Kulturen kamen. So spielte auch die Frage der Beschneidung keine Rolle mehr.

Damit hat sich jedoch das Problem der christlichen Freiheit und die Frage nach unserem heutigen Zugang zu ihr nicht schon erübrigt.

Unsere Gemeinde besteht ja wahrlich nicht aus einem Guss, sondern aus sehr vielfältigen Traditionslinien: es sind Leute unter uns, die haben ihre Jugend auf dem Balkan verbracht, sind dann vertrieben worden und irgendwann hier in Kanada gelandet. Andere haben 1945 in Ostpreußen alles verloren. Wieder andere sind erst vor 20 Jahren aus Deutschland ausgewandert, weil sich ihre Landwirtschaft dort nicht mehr rentierte. Noch andere kommen in unsere Gemeinde, weil sie befristet in Ottawa arbeiten und sich in einer deutschsprachigen Gemeinde wohler fühlen als in einer der nordamerikanischen Kirchen. Andere haben Jahrzehntelang in Afrika und Südamerika gelebt und verbringen hier ihren Ruhestand. Wieder andere kommen, weil sie ihre deutschen Sprachkenntnisse oder die ihrer Kinder bewahren und verbessern wollen. Für all diese unterschiedlichen Interessen öffnet unsere Kirche ihre Pforten. Wir sind so frei, diese Vielfalt der Lebensgeschichten hier unter einem Dach zu vereinen.

Hinter aller offensichtlichen Verschiedenheit zwischen uns stehen aber wesentliche Gemeinsamkeiten, die uns verbinden und Gemeinde sein lassen: Es ist niemandem von uns gleichgültig, in welcher Tradition wir unsere Religiosität leben, in welcher Sprache wir beten und die biblischen Texte lesen. Es ist uns vielmehr wichtig, durch die deutsche Sprache – und damit über ein wesentliches Merkmal unserer kulturellen Identität – Gemeinschaft mit Gott und untereinander zu erleben. Vor diesem Hintergrund versammeln wir uns unter Gottes Wort und um seinen Tisch, und wir wollen, bei aller Verschiedenheit, auch füreinander einstehen. Dafür kommen wir von nah und fern, dafür nehmen wir auch lange Wege in Kauf.

Für uns gewinnt darum der letzte Satz des Predigttextes große Bedeutung, denn uns geht es nicht mehr um die Frage, auf welchem Wege wir zu Christen werden können. Für uns geht es um die Frage, wie wir in unserer bunten Verschiedenheit Gemeinde, also gemeinsam Christen sein können. Paulus sagt: In Christus Jesus gilt weder Beschneidung noch Unbeschnittensein etwas, sondern der Glaube, der durch die Liebe tätig ist.

Wir können das für uns ganz ähnlich sagen: In Christus Jesus gilt unsere Herkunft nichts. Es ist gleichgültig, ob ich als vorübergehend in Ottawa lebender Student oder als Gemeindegründungsmitglied zu dieser Gemeinde gehöre. Ob ich ein Kind bin oder ein alter Mensch. Ob ich eine in der Gemeinde angesehene Persönlichkeit bin oder ein Gelegenheitskirchgänger. Ob ich Flüchtling bin oder Pfarrer. All das spielt keine Rolle. Vielmehr gilt unsere christliche Freiheit, in der wir diese Buntheit unter uns als eine große Bereicherung erleben. Es gilt vor Christus – wie Paulus es sagt – unser Glaube, der durch die Liebe tätig ist. Also: nicht die Herkunft, nicht die Tradition ist entscheidend, sondern wie wir miteinander umgehen.

Liebe Gemeinde, auch die Freiheit, eine Gemeinde so zu betrachten, kann für manch einen beängstigend und unheimlich daher kommen. Wenn wir uns der Freiheit bewusst werden, Eingefahrenes anders zu sehen, als wir immer glaubten. Wenn wir uns die Freiheit nehmen, etwas, was wir schon immer so gemacht haben, einmal auf andere Weise auszuprobieren, neu zu versuchen.

Zu diesen verunsichernden christlichen Freiheiten gehört auch die reformatorische Erkenntnis, dass wir uns unseren Platz bei Gott nicht erst wie pflichterfüllende Knechte oder Mägde erarbeiten müssen. Dass wir keine Leistungen für unseren Frieden mit Gott erbringen müssen, sondern dass Gott uns so nimmt, wie wir sind. Im Glauben an den Gekreuzigten und Auferstandenen wird uns dieser Seelenfriede geschenkt.

Unheimlich ist uns gleichwohl, wenn wir etwas uns Wertvolles unentgeltlich bekommen, ganz ohne dass eine angemessene Gegenleistung erwartet wird. Aber genau dieses unheimlich Irrationale verbindet sich mit christlicher Freiheit, verbindet sich auch mit dem Gedenken an die Reformation vor fünf Jahrhunderten: wir sollen frei sein von der Knechtschaft, uns einen gnädigen Gott erarbeiten zu müssen. Wir sollen frei sein von dieser demütigenden Last, für alles im Leben immer bezahlen zu müssen. Christliche Freiheit heißt lernen, Geschenke anzunehmen.

Wenn diese Vergeltungslast von unseren Schultern genommen ist, können wir aufrecht gehen, den Kopf heben und den Nächsten neben uns wahrnehmen. Den, der es nötig hat.

Liebe Gemeinde, es gibt viele Variationen über das Thema der christlichen Freiheit und wie wir sie erlangen können. Eine der eindrucksvollsten Deutungen stammt von Dietrich Bonhoeffer, der – selbst gefangen – in einem Gedicht über „Stationen auf dem Weg zur Freiheit“ nachdenkt. Vier solcher Stationen macht er aus: Zucht, Tat, Leiden und Tod.

Wenn Bonhoeffer über Zucht oder Selbstbeherrschung schreibt, dann ist dies wie ein erstes Sich-Öffnen für die Freiheit:

Zucht
Ziehst du aus, die Freiheit zu suchen, so lerne vor allem
Zucht der Sinne und deiner Seele, dass die Begierden
und deine Glieder dich nicht bald hierhin, bald dorthin führen.
Keusch sei dein Geist und dein Leib, gänzlich dir selbst unterworfen.
und gehorsam, das Ziel zu suchen, das ihm gesetzt ist.
Niemand erfährt das Geheimnis der Freiheit, es sei denn
durch Zucht.

So selbstbeherrscht für die Freiheit sensibilisiert, leitet uns Bonhoeffer sodann auf einen anderen Pfad – den der verantwortungsvollen Tat:

Tat
Nicht das Beliebige, sondern das Rechte tun und wagen,
nicht im Möglichen schweben, das Wirkliche tapfer ergreifen,
nicht in der Flucht der Gedanken, allein in der Tat ist die Freiheit.
Tritt aus ängstlichem Zögern heraus in den Sturm des Geschehens,
nur von Gottes Gebot und deinem Glauben getragen,
und die Freiheit wird deinen Geist jauchzend empfangen.

Hier würde Paulus zustimmen – die rechte Tat ist gefragt, denn im Tun des Gerechten, in der Tat der Liebe ist Freiheit.

Für Bonhoeffer geht es noch weiter – der verantwortlichen Tat kann das Leiden folgen, wie er es selbst in der Zeit seiner Haft erlebt:

Leiden
Wunderbare Verwandlung. Die starken, tätigen Hände
sind dir gebunden. Ohnmächtig, einsam siehst du das Ende
deiner Tat. Doch atmest du auf und legst das Rechte
still und getrost in stärkere Hand und gibst dich zufrieden.
Nur einen Augenblick berührtest du selig die Freiheit,
dann übergabst du sie Gott, damit er sie herrlich vollende.

Die letzte Station auf dem Weg zur Freiheit ist unabwendbar – der Tod. Erst in seinem Angesicht glaubt Bonhoeffer zu erkennen, was Freiheit letztlich meint, wo der Weg zur Freiheit sein letztes Ziel haben wird:

Tod
Komm nun, höchstes Fest auf dem Wege zur ewigen Freiheit,
Tod, leg nieder beschwerliche Ketten und Mauern
unsres vergänglichen Leibes und unsrer verblendeten Seele,
dass wir endlich erblicken, was hier uns zu sehen missgönnt ist.
Freiheit, dich suchten wir lange in Zucht und in Tat und in Leiden.
Sterbend erkennen wir nun im Angesicht Gottes dich selbst.

Liebe Gemeinde, wer so zuversichtlich glauben kann, braucht sich auch schon zu Lebzeiten vor der Freiheit nicht mehr zu fürchten. Amen

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus, unserem Herrn. Amen

Das in der Predigt verwendete Gedicht „Stationen auf dem Weg zur Freiheit“ wird dem Sonntagsbulletin beigefügt, das alle Gottesdienstbesucher am Beginn des Gottesdienstes erhalten.

 

Christoph Ernst
2035 Beaverhill Dr
Ottawa, ON K1J 6N9
Kanada
pfarrer.ernst@sympatico.ca

 


(zurück zum Seitenanfang)