Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, J. Neukirch, C. Dinkel, I. Karle

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Drittletzter Sonntag des Kirchenjahres, 12. November 2006
Predigt zu Hiob 14, 1-6, verfaßt von Katharina Roos
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Liebe Gemeinde,

Hiob - sein Name steht für den unschuldig leidenden Menschen. Unvermutet getroffen von bitteren Schlägen des Schicksals. Die Hiobsbotschaften sind sprichwörtlich geworden. So schnell und drastisch kann einem sein bisheriges Lebensglück genommen werden!
Denn Hiob war einst glücklich: Reich und fromm und dankbar.
Bis zum Eintreffen der Hiobsbotschaften.
Erst heißt es: Rinder und Esel weg, dann Schafe und Ziegen, dann die Kamele, und dann, was wohl am schlimmsten ist: Auch die Kinder. Auf tragische Weise alle 10 einer Naturkatastrophe zum Opfer gefallen.
Ob einer einen solchen Schlag überhaupt überleben kann?
Hiob nimmt ihn hin – in unvorstellbarer Gefaßtheit.
Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen: der Name des Herrn sei gelobt!
Und die nächste Attacke folgt. Hiob wird geschlagen mit bösen Geschwüren von der Fußsohle an bis auf seinen Scheitel. Auch jetzt noch lässt er seine Frömmigkeit nicht fahren.
Haben wir Gutes empfangen von Gott und sollten das Böse nicht auch annehmen?
So sagt er tatsächlich – zunächst.
Drei Freunde kommen zu Besuch. Die sehen, wie groß sein Schmerz ist und setzen sich neben ihn auf die Erde. Halten wortlos mit aus. Sieben Tage lang.
Dann ist die Kraft aller erschöpft. Dann bricht die Fassade.
Dann bricht die Verzweiflung aus Hiob heraus. Seine Wut. Sein Verlassensein. Seine Wehklage. Und sein Zorn gegen einen Gott, der ihm solches zufügt.
Jetzt senkt er nicht mehr fromm ergeben sein Haupt, jetzt begehrt er auf gegen einen Herrn im Himmel, der so mit den Menschenkindern umspringt.
Der fromme Hiob nimmt kein Blatt mehr vor den Mund.
Als ich als Studentin zum ersten Mal seine Reden vor den Freunden las, stockte mir immer wieder der Atem. Ich konnte es nicht recht fassen, dass solche Verse in der Bibel stehen. Dass man so offen und heftig gegen seinen Gott wüten darf! Ein bisschen verstand ich die Freunde, die nun ihrerseits scharf werden; offenkundig bestrebt, Gott zu verteidigen und in Schutz zu nehmen vor Hiobs Angriffen.

Heute, mit einigen Jahren mehr Lebenserfahrung, bin ich nur mehr dankbar, dass Hiobs Worte tatsächlich in der Bibel stehen. Eine eindrucksvolle Erlaubnis, ja, Einladung an alle Leidenden und Angefochtenen, ihren Schmerz, ihren Zorn, ihr Unverständnis nicht fromm ergeben zu schlucken, sondern laut werden zu lassen, Gott in die Ohren zu schreien.
Warum sollten wir frommer sein müssen als der fromme Hiob!?

In diesem Sinn verstehe ich auch den Predigttext. Eine Einladung, vor Gott laut werden zu lassen, was uns beschwert. Die Vergänglichkeit unseres Lebens etwa.
Der Mensch, vom Weibe geboren, lebt kurze Zeit und ist voll Unruhe, geht auf wie eine Blume und fällt ab, flieht wie ein Schatten und bleibt nicht. (Hiob 14, 1f)
So sagt es Hiob.
Und wir wissen schon, wovon er spricht. Im Krankenhaus vielleicht mehr denn sonst wo.
Aber es müssen gar nicht immer die großen Krisen sein. Es kann einen mitten im Gewohnten anfallen und dem Herzen einen Stich versetzen: Mensch, wie die Zeit vergeht! Schon wieder November. Kaum noch Laub an den Bäumen. Bald wird der Winter hereinbrechen. Wo ist nur der Sommer geblieben? Wo ist nur mein Leben geblieben? Es zerrinnt mir zwischen den Fingern. Und irgendwann ist es einfach rum. Vorbei. Aus.
Ach, wie flüchtig, ach wie nichtig ist der Menschen Leben! Wie ein Nebel bald entstehet und auch wieder bald vergehet, so ist unser Leben, sehet!

Ach wie nichtig, ach wie flüchtig sind der Menschen Tage! Wie ein Strom beginnt zu rinnen und mit Laufen nicht hält innen, so fährt unsre Zeit von hinnen.

So hat es Michael Franck im 17. Jahrhundert gedichtet. (EG 528, 1f) Wir würden heute vielleicht andere Formulierungen wählen. Aber die Klage der Vergänglichkeit ist genauso aktuell wie der Stoßseufzer Hiobs.

Vielleicht erstaunt es Sie auch, dass ausgerechnet Hiob die Vergänglichkeit zu schaffen macht. Für Leute, die leiden ist ja manchmal wenigstens das ein Trost: dass die Zeit vergeht. Dass damit auch die Tage des Leidens gezählt sind.
Aber nicht so bei Hiob.
Vielleicht, weil seine Empörung größer ist als seine Erschöpfung. Vielleicht, weil für ihn noch zu viel offen ist, zu laut nach einer Antwort schreit. Vielleicht, weil sein Glaube von Gott mehr und anderes erwartet.
Denn das ist sein nächster Schritt. Er geht Gott direkt an.
Doch du tust deine Augen über einen Sterblichen auf, dass du mich vor dir ins Gericht ziehst. Kann wohl ein Reiner kommen von Unreinen? Auch nicht einer!
Sind seine Tage bestimmt, steht die Zahl seiner Monde bei dir und hast du ein Ziel gesetzt, das er nicht überschreiten kann: so blicke doch weg von ihm, damit er Ruhe hat, bis sein Tag kommt, auf den er sich wie ein Tagelöhner freut. (Hiob 14, 3-6)
Dass Gott unser Leben vergänglich geschaffen hat, langt ja eigentlich schon als nie versiegende Quelle von Traurigkeit und Melancholie. Aber nun gehört es zur Natur unseres Lebens, dass man sich nicht einmal dieser begrenzten Frist von 70, 80 Jahren sicher sein kann. Es kann ja weiß Gott viel schlimmer kommen. Siehe Hiob. Die Kinder verloren. Mit Krankheit geschlagen. Und die Freunde verweigern ihre Solidarität. „Das wirst du dir schon irgendwie selber zuschreiben müssen. Gott wird Gründe haben...“
Hat er sie?
An dieser Stelle beißt sich Hiob fest. ‚Was kannst du, Gott, wirklich gegen mich vorbringen? Dass ich als Mensch meine problematischen Seiten habe, dass ich immer wieder Fehler mache?? Das kann nicht dein Ernst sein! Wer unter den Menschenkindern macht das nicht? Das haftet unserer geschöpflichen Natur einfach an. Dass uns manchmal zweifelhafte Motive leiten. Dass wir unsere Konflikte nicht immer angemessen und aufrecht lösen. Dass wir das Böse oft nicht hellsichtiger erkennen und konsequenter meiden. Dass unsere Suchbewegungen uns bisweilen in die Sucht führen. Du, Gott, musst doch am besten wissen, wie fehlerhaft und schwach wir Menschen sind! Warum willst du nicht mehr zu dem stehen, was du unvollkommen gemacht hast? Warum wachst du mit Argusaugen über jeden unserer Schritte? Warum mißt du uns mit einem Maß, dem wir niemals entsprechen können? Und warum schüchterst du uns ein durch Leid und Unheil? Doch nicht etwa, damit wir den nötigen Respekt vor dir lernen!?‘

Was Hiob aus seiner finsteren Gotteskrise heraushelfen könnte?
Ich würde ihm jedenfalls gern helfen können. Nicht der märchenhaften Gestalt aus dem Buch der Bibel. Nein, dann, wenn Hiob mir heute begegnet, etwa in der Mutter auf der onkologischen Kinderstation: ‚Quäl meinen Jungen nicht mehr‘, sagt sie, auch heute noch und meint Gott. ‚Ich weiß nicht, was wir falsch gemacht haben. Wir haben es doch nur recht machen wollen. Aber du packst uns immer noch eins drauf. Du peinigst unseren Jungen. Und dann nimmst du ihn uns. Und er hat nicht einmal ein Schulkind werden dürfen. Das ist nicht recht.‘
Ich würde ihr gern helfen können.
Aber ich kann ihr ja nicht sagen: „Gott ist nicht so, wie du denkst. Ein mißgünstiger, menschenverachtender Despot. Das sind deine Bilder und Vorstellungen. Geboren aus deiner Angst, vielleicht auch aus den Untergrund deiner Seele, in den all das einging, was Menschen an schlechten Erfahrungen machen können, von frühester Jugend an. Diese Fratze eines Gottes zeigt, was in der finsteren Tiefe menschlicher Seelen rumort. Aber sie zeigt nicht Gott“
Nein, das kann ich jemand, der an Gott leidet, nicht sagen. Es mag vielleicht sogar im manchem stimmen, aber es nützt nichts. Es macht ja die harte Wirklichkeit kein Deut besser. Und klärt nicht, wohin wir uns wenden können, wenn uns diese Wirklichkeit so zu schaffen macht. Hat Gott denn etwa gar nichts damit zu tun?
Hiob selber hat da vielleicht einen besseren Weg gefunden. Indem er sich den Mund nicht theologisch verbieten oder korrigieren ließ. Indem er seine Verzweiflung vor Gott Wort werden ließ. Und seine Wut.
Und auch seine Sehnsucht.
Ich glaube, das habe ich lange übersehen. In all dem, was Hiob sagt, schwingt ja auch so viel Sehnsucht mit. Brennende Sehnsucht, dass Gott ihm anders gegenübertreten möge. Und es schwingt so viel „Du“ mit. ‚Du, Gott, von dem ich immer noch viel erwarte, du, Gott, sollst dich mir erklären. Ach, dass du dein Angesicht wieder liebevoll leuchten ließest über mir!‘
Womöglich hört Gott besser als wir in unserer Not denken auf solch verzweifeltes Werben.
Schließlich kommt er Hiob nahe. Neuer Glaube an Gott seinen Retter wird ihm geboren.
„Ich weiß, dass mein Erlöser lebt. Und ganz am Ende wird er sich über dem Staub für mich erheben. Und meine Augen werden ihn sehen.“ Das sagt Hiob auch.

Ich weiß, dieser neue Glaube Hiobs ändert nicht mit Zauberhand die bittere Realität für ihn.
Aber er rückt sie in einen größeren Zusammenhang. Was wir hier sehen, mit unseren Augen auf dieser Erde, ist nur ein Bruchteil der Wirklichkeit.
Aber dann, nach dem Durchgang durch den Tod, ganz am Ende, wird die Liebe das letzte Wort haben. Und alles sein. Und alles lösen.
Vorher, auf dem Weg zur Vollendung, werden Gott liebende Menschen bisweilen heftig mit ihm ringen und streiten müssen. Wie das halt so ist in Liebesbeziehungen. Amen.


Katharina Roos
Krankenhauspfarrerin im Olgahospital Stuttgart
katharina.roos@t-online.de


 


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