Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, J. Neukirch, C. Dinkel, I. Karle

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Drittletzter Sonntag des Kirchenjahres, 12. November 2006
Predigt zu Hiob 14, 1-6, verfaßt von Jennifer Wasmuth
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Liebe Gemeinde,

von der Bibel heißt es, sie sei das »Buch der Bücher«. Gemeint ist damit zunächst, dass die Bibel ein Buch ist, das aus vielen verschiedenen Büchern besteht. Dann spricht sich darin aber auch die besondere Anerkennung aus, dass die Bibel das Buch unter allen Büchern ist.
Für mich ist die Bibel noch in einem anderen Sinn »Buch der Bücher«. Denn je nach Bedarf lese ich völlig unterschiedlich darin: So kann ich die Bibel in die Hand nehmen, weil ich etwas über die Geschichte der frühen Christenheit erfahren möchte, etwa über ihr Gemeindeleben oder ihre Art, den Gottesdienst zu feiern. Eine andere Bedeutung gewinnt die Bibel hingegen, wenn ich über ausgewählte biblische Texte zu predigen habe. Hier interessiert mich dann vor allem, was die Texte uns heute zu sagen haben, und am liebsten sind mir dann Texte, die sämtliche Gefühle von Ohnmacht und Verzweiflung hinter sich lassen und etwas von dem Trost aufscheinen lassen, der in unserem christlichen Glauben steckt. Schließlich ist die Bibel für mich aber nicht nur ein Geschichts- und Predigtbuch. Es gibt vielmehr Situationen, da schlage ich die Bibel auf, weil ich etwas unmittelbar für mich selbst wissen will, weil ich mir von den Glaubenszeugen der damaligen Zeit Hilfe für meinen Glauben jetzt verspreche. In solchen Situationen bin ich immer sehr dankbar, dass es in der Bibel Texte wie die Psalmen oder auch Texte wie den folgenden gibt, der im Buch Hiob steht und der für heute als Predigttext vorgeschlagen ist. Dort heißt es (Hiob 14,1-6):

Der Mensch, vom Weibe geboren, lebt kurze Zeit und ist voll Unruhe, geht auf wie eine Blume und fällt ab, flieht wie ein Schatten und bleibt nicht.
Doch du tust deine Augen über einen solchen auf, dass du mich vor dir ins Gericht ziehst.
Kann wohl ein Reiner kommen von Unreinen? Auch nicht einer!
Sind seine Tage bestimmt, steht die Zahl seiner Monde bei dir und hast du ein Ziel gesetzt, das er nicht überschreiten kann: so blicke doch weg von ihm, damit er Ruhe hat, bis sein Tag kommt, auf den er sich wie ein Tagelöhner freut.

Hiob formuliert hier eine Klage, die nicht erst bei den offensichtlichen Katastrophen des Lebens ansetzt, bei schwerer Krankheit, Folter, Krieg und dergleichen mehr, sondern bei dem Leben, so wie es ist: bei dem unaufhebbaren Gesetz von Werden und Vergehen, bei der Bedeutungslosigkeit des Einzelschicksals in der schier unüberblickbaren Folge des menschlichen Geschlechts. Spätere sollten an diesem Gesetz nichts Bedrohliches finden, wie etwa Johann Wolfgang Goethe. Sein Gedicht »Grenzen der Menschheit« (1781) beschließt er, indem er schlicht feststellt, dass es ein kleiner Ring sei, der unser Leben begrenze; viele Geschlechter reihten sich dauernd an ihres Daseins unendliche Kette. Ganz anders Hiob: Er betont mit der Kürze zugleich auch die Unruhe des Lebens.
E ine richtige Klage, ja Anklage, wird bei Hiob daraus, weil er sich selbst wie überhaupt den Menschen – denn kann wohl ein Reiner kommen von Unreinen? – auch noch zur Rechenschaft gezogen und von Schuldgefühlen geplagt sieht. Der Mensch geht auf wie eine Blume und verwelkt; er ist einem fliehenden Schatten gleich. Und dennoch muss er sich verantworten, sich Gott gegenüber erklären.
Wenn das Leben aber schon begrenzt ist, ja wenn Gott selbst diese Grenzen festgesetzt und die Tage und die Zahl der Monde bereits bestimmt hat, dann will sich Hiob nicht auch noch rechtfertigen müssen, dann möchte er am liebsten fern von der Gegenwart Gottes sein. Kühn fordert er deshalb: Blicke doch weg!
Kühn ist Hiob hier – und überbietet damit so mancherlei Religionskritik, die meint, Gott habe seine Bedeutung darin, dem Leben schließlich doch noch einen Sinn zu verleihen, den Gläubigen eine Perspektive zu geben im scheinbar chaotischen Lauf der Zeit.
Hiob zeigt demgegenüber, dass der Glaube sich gerade nicht als Mittel eignet, das angesichts der Härten des Lebens zu betäuben vermag. Denn schwierig wird es für Hiob, gerade weil er sich in Gottes Hand weiß und sich für ihn das unsichere menschliche Dasein nur schwer mit den Ansprüchen Gottes vermitteln lässt. Gott selbst ist es, der die Unruhe erst unerträglich macht, und deshalb Hiobs Aufforderung: Blicke doch weg!
Der Predigttext endet hier und lässt uns mit der Klage Hiobs allein. Nichts Tröstliches scheint auf, nicht auch nur eine Andeutung findet sich, dass am Ende doch noch alles gut werden wird. Vorgeführt wird absolute Ausweglosigkeit.

Diese Ausweglosigkeit, liebe Gemeinde, scheint mir tatsächlich die Stärke des Predigttextes zu sein. Denn hier sind Angst, Verzweiflung und Sinnlosigkeit in Worte gefasst, hier begegnet uns eine Radikalität, die es uns erlaubt, uns auch mit extremen Erfahrungen in der Welt der Glaubenszeugen wiederzufinden.
Es gibt einfach Situationen, wie Hiob sie beschreibt, vielleicht nur momenthaft, vielleicht über eine längere Zeit – Situationen, in denen niemand trostreiche Worte brauchen kann, auch keine Erklärung für dieses oder jenes; Situationen, in denen eine solche Ausweglosigkeit herrscht und eine solche Abgründigkeit sich auftut, dass die Behauptung des Gegenteils, die Beteuerung, dass alles gut wird und Gott nur unser Bestes will, verhallt, ja geradezu zynisch klingen kann.
Die Bibel verschweigt solche Situationen nicht, solche Glaubenserfahrungen, wie sie uns in der Gestalt Hiobs begegnen; sie übergeht nicht die existentielle Not, nur ein fliehender Schatten zu sein, das Gefühl, sich vor aller Welt verstecken zu wollen, vor allem vor Gott, der Herz und Nieren prüft.

Die Bibel kennt natürlich auch andere Texte. Psalm 8 beispielsweise ist ein einziger Lobpreis des Schöpfers und ganz im Gegensatz zu Hiob wird es hier als besondere Auszeichnung verstanden, dass sich Gott dem Menschen zuwendet (V. 4f.):

Wenn ich sehe die Himmel, deiner Finger Werk,
den Mond und die Sterne, die du bereitet hast,
was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst,
und des Menschen Kind, dass du dich seiner annimmst?

Die Bibel bietet uns also ganz unterschiedliche Erfahrungen und zeigt uns auf diese Weise, wie vielfältig die Wege Gottes mit den Menschen sind. Eben darin zeigt sie uns aber auch, dass wir mit unseren Erfahrungen, wie tief wir auch fallen, wie hoch wir auch steigen, nicht allein sind.
Die Bibel ist gewissermaßen wie ein guter Zuhörer: Stellen Sie sich einmal jemanden vor, einen sehr guten Freund, eine sehr gute Freundin, den Partner, die Partnerin, jemand, der Sie wirklich versteht; jemand, dem Sie anvertrauen können, was Sie zutiefst bewegt; jemand, der Sie nicht vertröstet, sondern Ihnen Raum gibt für Ihre Gedanken und Gefühle, der Ihnen ermöglicht Worte zu finden für das, was in Ihnen vorgeht. In einem Gespräch mit einem solchen guten Zuhörer kann Erstaunliches geschehen – äußerlich hat sich eigentlich nichts verändert, aber allein dadurch, dass jemand da ist, der sich einzulassen vermag, der versteht, worum es geht, tritt eine spürbare Veränderung, eine Wendung zum Besseren ein.
Die Bibel mit ihrem unerschöpflichen Reichtum an Glaubenserfahrungen ermöglicht uns auf ihre Weise, ein solches Verständnis zu finden, Worte für das, was unser Leben und unseren Glauben ausmacht – selbst wenn unsere Klage soweit wie bei Hiob reicht.

Und der Friede Gottes, welcher höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

Dr. Jennifer Wasmuth
jennifer.wasmuth@theologie.hu-berlin.de


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