Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, J. Neukirch, C. Dinkel, I. Karle

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Drittletzter Sonntag des Kirchenjahres, 12. November 2006
Predigt zu Matthäus 18,1-14, verfaßt von Elisabeth Birgitte Siemen (Dänemark)
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Es geschieht recht oft, wenn man mit jungen Menschen im Pubertätsalter spricht, etwa mit Konfirmanden, dass sie dann davon reden, wie herrlich es sein muss, erwachsen zu werden.
Denn dann kann man alles selbst entscheiden.
Da gibt es dann keine irritierende Eltern, die sich in die unglaublichsten Dinge einmischen wollen, wann man schlafen gehen soll, wann man von einem Fest nach Hause kommen soll, welche Sachen man zum Anziehen kaufen soll usw. usw.
Und als Erwachsener kann man ihnen – wenn man denn ehrlich ist – wohl insoweit Recht geben, dass man sich jedenfalls daran erinnert, wie das in der eigenen Jugend war. Eine andere Sache ist dann aber, dass wir Erwachsenen wissen, dass es sich in Wirklichkeit mit der Möglichkeit, alles zu bestimmen, gar nicht so eindeutig verhält.
Aber uns daran erinnern können wir sehr gut.
Oh, welch ein herrlicher Tag wird das sein, wenn man selbst bestimmen kann.

Ich habe diese Diskussion immer mal wieder mit Konfirmanden geführt – ich habe sie gebeten zu sagen, auf welchen Gebieten ihnen dieser Freiheitsdrang am wichtigsten sei – und auf diese Weise eine Liste von Dingen bekommen – viel Geld verdienen, eine Familie gründen – und schließlich: alles in seinem Leben selbst bestimmen können. Aber das Bemerkenswerte ist nun, dass die jungen Menschen hier, an diesem letztgenannten Punkt nicht mehr mitmachen – es sei einfach zu viel, alles in seinem eigenen Leben bestimmen zu sollen. Das sei zu langweilig oder vielleicht geradezu zu abschreckend, eine zu schwere Last. In gewisser Weise meinen die jungen Menschen, es reiche nicht aus, Direktor des eigenen Lebens zu sein, es sei wichtig, dass das Leben etwas sei, das wir geschenkt bekämen, ein Schicksal, oder wie man es sonst ausdrücken mag.
Und das ist nun interessant, wenn man daran denkt, dass wir in einer Zeit und in einem Erdteil leben, wo man doch gerade dem Prinzip huldigt, dass wir alles selbst können sollen – wir schulden überhaupt niemandem irgendetwas.
Aber die Konfirmanden sind doch immer noch so klug, dass sie diesen Gedanken nicht einfach akzeptieren. Und vielleicht handelt es sich darum, dass sie der Kindheit so viel näher stehen, als wir es tun. Sie können sich noch daran erinnern, wie das ist.

Das heutige Evangelium handelt davon, am größten zu sein, die bestmögliche Ausgangslage für eine sichere Position im Himmelreich zu haben. Und auf die Frage, wie wir diese Position erreichen, hören wir die bekannten Worte: wenn wir nicht umkehren und wie werden die Kinder, ja, dann kommen wir nicht in das Himmelreich. Und das sind bekannte und geliebte Worte, denn wir hören sie jedes Mal, wenn wir uns um die Taufe versammeln.
Und wir können es einfach nicht lassen zu meinen, dass es schön und richtig ist, denn diese Taufkinder, sie sind doch schlicht und einfach wunderbar allesamt.
Und wir können uns alle leicht dabei ertappen, dass wir mitsummen, wenn es im Lied heißt, Jesus sei ein großer Freund der Kinder.
Fromm und schön.
Ja, aber leider ist es so, dass die Aussage, dass wir wie die Kinder werden sollen, eben nicht von den süßen Kleinen handelt. Es geht nicht darum, dass Kinder die süßesten und besten Geschöpfe der Welt sind.
Das ist ganz und gar nicht das, worauf die Aussage zielt.
Man muss sich auch ins Gedächtnis rufen, dass Kinder damals nicht den hohen Rang hatten, den sie heute haben.
In der Mischna – das ist der jüdische Gesetzeskommentar, um 400 nach Christi Geburt niedergeschrieben, dessen Inhalt aber auf die Zeit Jesu zurückgeht – kann man z.B. lesen, dass man sich als ernster und begabter Rabbi – und als solchen betrachtete man Jesus – nicht mit Frauen und Kindern zu befassen, sondern sich den gelehrten Diskussionen unter Gleichgesinnten zu widmen habe.
Und obwohl wir wissen, dass Jesus auf vielerlei Weise von der Norm seiner Zeit abwich – er verkehrte u.a. oft mit Frauen, – ja, so fehlt uns jeglicher Beleg für die Auffassung, er habe in besonderem Maße die Partei von Kindern ergriffen, weil sie so lieblich seien.
Nein, die Aussage bezieht sich eher auf das Ausgeliefertsein des Kindes und auf seine Abhängigkeit. Also darauf, dass das Leben des Kindes in außerordenlichem Maße und ganz offensichtlich in den Händen anderer ruht.
Ein Kind kann man nicht sich selbst überlassen, man muss sich seiner annehmen, es ist seinen Eltern oder anderen Erwachsenen auf Gnade und Ungnade ausgeliefert.
Und wir wissen auch, wie hart es sein kann, sein Leben in der Hand eines anderen zu wissen, und wir wissen auch, wie hart es sein kann, Kind zu sein.
Aber es gilt, zu werden wie die Kinder, sagt Jesus.
Ausgeliefert, abhängig, verletzbar – so sollen wir unser Verhältnis zu Gott widergespiegelt sehen – und nicht, wie die heutige Zeit es nahelegt, als Direktoren in unserem eigenen Leben.
Wir sollen nicht unser eigenes Leben schaffen, nein, wir bekommen das Leben geschenkt.
Das Leben ist für uns geschaffen, wir sind Gottes Kinder.

Kind sein handelt also davon, ausgeliefert und verletzbar zu sein, aber mit diesem Ausgeliefertsein ist Vertrauen verbunden, das wissen wir. Das Vertrauen des Kindes ist so groß, dass wir Erwachsenen das Kind warnen müssen – wenn du im Park einem Mann begegnest, dann darfst du nicht mit ihm gehen usw. usw.
Und das Vertrauen des Kindes und sein Glaube an die Eltern sind auch kolossal, manchmal katastrophal groß, aber zugleich sind es dieses Vertrauen und dieser Glaube, die dem Kind den Mut zum Leben geben, ihm Lebensmut geben.
Kind sein handelt also davon, Vertrauen, Glauben und Lebensmut zu haben, es handelt zutiefst davon, Hoffnung für das Dasein zu haben.

Ja, ist das nicht, so könnte man fragen, naiv, diese Hoffnung, die das Kind auf das Leben, auf das Dasein hat?
Oft geht es doch sowohl dem Kind als auch dem Erwachsenen schlecht. Unser Leben scheitert, und viele Kinder brauchen nicht sehr alt zu sein, um die Hoffnung für das Dasein, die Hoffnung des Kindes aufzugeben, um all zu früh erwachsen zu werden.
Und doch müssen wir dem Kind Recht geben in seiner Hoffnung.
Das zeigt sich u.a. daran, dass kein Erwachsener, wie hoffnungslos ihm das Leben auch vorkommt, wenn er denn noch alle Tassen im Schrank hat, jemals dem Kind seine Hoffnungslosigkeit einimpfen wird, das würde nur ein Schurke oder ein Kranker tun.
Wir Erwachsenen scheuen uns nicht, aus unserem Mangel an Hoffnung und Vertrauen auf das Dasein alle möglichen Konsequenzen zu ziehen, aber wir wagen nicht, dem Kind unsere Hoffnungslosigkeit einzuimpfen, denn die Hoffnung des Kindes hat in gewisser Weise gegenüber unserer Hoffnungslosigkeit Recht.
Die Hoffnung und das Vertrauen und der Glaube des Kindes sind
nämlich fundamental. Und genau darauf macht Jesus uns aufmerksam, wenn er sagt: Ihr sollt wie die Kinder werden, um ins Himmelreich kommen zu können. Und wenn ihr einem Kind die Hoffnung nehmt, dann bringt ihr einen meiner Kleinsten zu Fall – ja, es wäre besser, wenn ein Mühlstein an euren Hals gehängt und ihr im Meer ersäuft würdet.
Nein, ihr sollt euren Missmut nicht auf das Kind übertragen, ihr sollt vielmehr werden wie das Kind und seine Hoffnung, seinen Lebensmut und seinen Glauben annehmen. Und kann dein Auge nur Finsternis und Hoffnungslosigkeit sehen, dann reiß es aus und höre auf Gottes Wort und seine Hoffnung.
Und wenn deine Hand die Hoffnung nicht annehmen kann, dann hau sie ab und lass dich wie das Kind in das Himmelreich tragen.
Denn du sollst umkehren und werden wie ein Kind.

Ja, aber können wir das denn? Gehört es nicht einfach zum Erwachsensein dazu, dass wir all das Verkehrte, den falschen Weg gesehen und unterwegs das Kind in uns vergessen haben? – wenn wir denn einmal auf diese vulgäre Art psychologisierend reden wollen.
Im Grunde brauchen wir nur das zu sein, was wir sind – ein Kind Gottes, wie wir einmal bei unserer Taufe genannt worden sind.
Wir sollen den abschreckenden und unangehmen Gedanken aufgeben, Direktoren des eigenen Lebens sein zu wollen. Lass die Idee fahren, du könntest der Schöpfer deines eigenen Lebens sein, lass von dem Glauben, du könntest oder solltest alles in deinem Leben selbst bestimmen.
Glaube stattdessen daran, dass du ausgeliefert, abhängig und verletzbar bist wie ein Kind.

Ja, und hier geben wir fast schon auf, nicht wahr? Denn im Grunde ist es wohl eine erschreckende Vorstellung, dieses Ausgeliefertsein und diese Verletzbarkeit. Denn ist es nicht gerade das, wogegen wir unser ganzes Leben lang kämpfen müssen, so hart wie das Leben und das Schicksal gegen uns sind?
Ja, natürlich, wenn wir denn dem Schicksal und seinen Launen ausgeliefert wären, dann wären wohl nur die Stärksten im Stande, es auszuhalten.
Aber wir sind nicht dem Schicksal ausgeliefert – denn Gott steht über dem Schicksal, wie die norwegische Dichterin Sigrid Undset einmal geschrieben hat.
Und wir sind nicht Kinder des Schicksals, wir sind Kinder Gottes. Und wir wissen, wie Gott ist, er ist wie der liebevolle Vater, der getreu hin und hereilt, um nach einem Kind zu suchen, das sich verirrt hat, das vergessen hat, wann es wieder zu Hause sein sollte.
Er ist wie der gute Hirte, der nach dem verlorenen Schaf sucht und nicht aufgibt, ehe er es wieder in seine Hürde bringen kann.
Und deshalb können wir auch getrost glauben, dass es angeht, wie geborgene und geliebte Kinder zu leben, in dem Vertrauen, dass wir eben nicht selbst mit allem fertig werden oder alles bestimmen sollen.
Wir sind nicht allein, Gott begegnet uns und findet uns, mitten im unaufhörlichen Wechsel des Daseins, und er trägt uns und folgt uns in den Fügungen des Schicksals alle Tage – bis an der Welt Ende, wie wir gleich hören werden, wenn wir die Taufe feiern.
„Vergisst eine Frau ihr Kind? Vergisst eine Mutter das Kind, das sie geboren hat?“ hieß es bei dem alttestamentlichen Propheten Jesaja, wie wir in der Lesung zu Beginn des Gottesdienstes gehört haben – und er gibt selbst die Antwort: „Und ob sie seiner vergäße, so will ich doch deiner nicht vergessen.“
Oder wie wir vorhin mit Grundtvig gesungen haben:

Wir wissen doch: Was uns auch kränkt,
wie es die Welt auch treibet,
Gott hat uns Kindesrecht geschenkt
und unser Vater bleibet;...
Du hörst doch, in des Himmels Ruh
wird dir ein Platz versprochen.
Dein Heiland sagt: Es ist gezählt
des Hauptes Haar, dass keines fehlt
im Reiche meines Vaters.

Amen!

Pastor Elisabeth Birgitte Siemen
Kirsebærbakken 1
DK- 2830 Virum
Tel.: +45 45 85 63 30
e-mail: ebsi@km.dk

Übersetzung aus dem Dänischen: Dietrich Harbsmeier

 


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