Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, J. Neukirch, C. Dinkel, I. Karle

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Vorletzter Sonntag des Kirchenjahres (Volkstrauertag), 19. November 2006
Predigt zur Offenbarung 2, 8-11, verfaßt von Christian-Erdmann Schott
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Predigttext ist das zweite von sieben Sendschreiben des Sehers Johannes, gerichtet an die Gemeinde in Smyrna. Smyrna war eine große reiche Stadt, 56 km südlich von Ephesus, die zur Römerzeit zur Provinz Asia gehörte, darum auch von den Christenverfolgungen betroffen war, die unter dem Kaiser Domitian (81-96) durchgeführt wurden. Man nimmt an, dass die Verfolgung, von der hier die Rede ist, um das Jahr 95 stattgefunden hat. Ich lese Offb. 2,8-11:

Dem Engel der Gemeinde in Smyrna schreibe:
Das sagt der Erste und der Letzte, der tot war und ist lebendig geworden:
Ich kenne deine Bedrängnis und deine Armut – du bist aber reich –
Und die Lästerung von denen, die sagen, sie seien Juden, und sind`s nicht, sondern sind die Synagoge des Satans.
Fürchte dich nicht vor dem, was du leiden wirst! Siehe, der Teufel wird einige von euch ins Gefängnis werfen, damit ihr versucht werdet, und ihr werdet in Bedrängnis sein zehn Tage.
Sei getreu bis in den Tod, so will ich dir die Krone des Lebens geben.
Wer Ohren hat, der höre, was der Geist den Gemeinden sagt!
Wer überwindet, dem soll kein Leid geschehen von dem zweiten Tod.

Liebe Gemeinde, das Interesse am Volkstrauertag nimmt erkennbar ab. In den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg war die Beteiligung der Bevölkerung an den Feiern zu diesem Tag größer und die Trauer über erlittene Verluste, etwa durch den Tod von Angehörigen, durch Vertreibungen oder unmittelbare Kriegsfolgen, insgesamt intensiver und spürbarer. Trotzdem bleibt der Volkstrauertag wichtig – für die Erhaltung der Menschlichkeit in unserem Volk.

Wir neigen alle dazu, die Nachrichten über die gegenwärtig laufenden Kriege, das täglich stattfindende Unrecht, die Brutalität gegenüber Kindern, wehrlosen Frauen, gegenüber der Zivilbevölkerung in den Krisengebieten oder die blutigen Attentate mit Hunderten von Toten und Verletzten nicht an uns herankommen zu lassen, zu verdrängen, abzuspalten. Dahinter steckt nicht unbedingt böser Wille, sondern häufig das Empfinden, dass uns die Wahrnehmung von Leid und Unrecht überfordert. Es ist eine Art Selbstschutz, der uns zu dieser Gleichgültigkeit veranlasst.

So verständlich und verbreitet diese Einstellung auch ist, so gefährlich ist sie auch; nicht nur im Blick auf das Mitgefühl mit den Opfern, sondern fast mehr noch im Blick auf uns selbst. Wir werden hart, unempfindlich gegen das Leid und die Schmerzen anderer, mitleidlos. Wir verlieren ein wichtiges Stück unserer Menschlichkeit.

Damit das nicht geschieht, ist es wichtig, dass wenigstens einmal im Jahr, eben am Volkstrauertag, das benannt wird, was wir so gern verdrängen. Damit zeigen wir, dass wir uns mit dieser unnormalen Normalität nicht abfinden, dass wir uns nicht in ihr einrichten und zur Tagesordnung übergehen, sondern die Leiden der Opfer für nicht hinnehmbar, nicht in Ordnung, auf keinen Fall als gerecht ansehen.

In diesem Sinn hat die Trauer am Volkstrauertag nicht in erster Linie den Charakter des Abschiedes von den Toten wie der Totensonntag, sondern des (wenn auch ohnmächtigen) Protestes gegen Unrecht und Gewalt und das dadurch verursachte Leid.

Der Maßstab, an den wir uns dabei halten, ist die gute Absicht, mit der Gott diese Welt geschaffen hat. Er wollte und will, dass wir untereinander und mit Gott in Frieden und Freude leben und nicht in gegenseitiger Angst. Jesus Christus hat diese Absicht und diesen Anspruch Gottes bekräftigt. Seine Gegner konnten ihm darin nicht folgen und haben ihn in Verteidigung der Anormalität, die sie für Gottgewollt hielten, gekreuzigt. Aber er hat an der guten Absicht und am Recht des Anspruches Gottes nie gezweifelt, ihn sterbend noch hochgehalten und uns die Hoffnung auf den Sieg Gottes am Ende der Zeit hinterlassen.

Diesen Glauben durch Worte und Taten zu bezeugen, ist sein Vermächtnis an die christliche Gemeinde in dieser Welt, gegen diese Welt, für diese Welt. Es gilt zu allen Zeiten und an allen Orten bis zur Wiederkunft des Herrn.

Mit dieser Ausrichtung steht die Christenheit an der Schnittstelle, wo die Absicht und der Anspruch Gottes und die Selbstgenügsamkeit der Welt aufeinanderprallen. Es ist ein Platz, der in der geraden Verlängerung des Kreuzes liegt, ein zu allen Zeiten gefährlicher Platz; ein Platz, der seinem Wesen nach durch „Trübsal“ gekennzeichnet ist.

Es hat immer Menschen gegeben, die die Absicht und den Anspruch Gottes im Glauben anerkannt und angenommen haben. Aber es gab und gibt immer auch den Widerstand dagegen - in der harten, grausamen Art durch Christenverfolger von Herodes über die römischen Kaiser vom Schlage eines Caligula, Nero, Domitian bis zu den großen Diktatoren des 20. Jahrhunderts Hitler, Stalin, Mao. Es gibt diesen Widerstand aber auch in der eher weichen Art durch die Verbreitung von Gedankenlosigkeit, einschläfernder Gleichgültigkeit, Ausgrenzung, Lächerlichmachen der Christen und ihrer Botschaft.

Die Reaktionen in den Gemeinden, die Geschichte zeigt es, waren unterschiedlich. Es hat treues Zusammenstehen und tapferes Festhalten am Bekenntnis gegeben. Es hat aber auch Unsicherheit, Angst, Resignation, Anpassung, Verrat gegeben. Das Sendschreiben an die Christen in Smyrna will der Gemeinde Mut machen zur Treue im Bekenntnis. Die Art, wie das geschieht, ist grundlegend und stärkend auch für andere Gemeinden, auch für unsere Zeit. Entscheidend sind diese drei Punkte:

1. „Ich kenne deine Bedrängnis…“ Dieses Wort des erhöhten Christus ist ein großer Trost. Wir sind nicht einsam auf einen vergessenen Posten gestellt. Der Herr weiß um uns. Und wenn wir Verdächtigungen oder übler Nachrede ausgesetzt sind, so weiß er, dass es gelogen ist. Darum gilt für uns: Kümmert euch nicht darum. Stellt die falschen Behauptungen richtig. Verteidigt euch. Aber grämt euch nicht. Bei Gott seid Ihr im Recht. Er weiß es und das allein zählt.

2. „Fürchte dich nicht“. Ausgrenzung, Spott oder gar Verfolgung bis zum Martyrium sollten eure Seelen nicht erreichen und euern Glauben nicht zersetzen. Nicht Ihr müsst euch fürchten – sie fürchten sich vor euch. Ihr seid frei und in Gott geborgen. Darum fürchtet sie nicht. Sie haben schon verloren, auch wenn sie sich noch so großartig aufspielen. Letztlich haben sie keine Zukunft. Denn die Zukunft gehört Gott.

3. „Sei getreu bis in den Tod…“ Die Macht Jesu Christi reicht über dieses Leben hinaus. Er will uns bei sich haben und mit uns das ewige Leben teilen. Darum habt Hoffnung! Haltet durch! Gebt nicht auf! Ihr steht auf der Seite, der die Zukunft gehört. Wer die Angst überwindet, hat die Welt überwunden. Die Mittel der Welt greifen dann nicht mehr. Denn der Kern aller Angst ist die Angst vor dem Tod. Wer diese Angst (im Glauben) überwindet, ist gerettet. Der Tod kann ihm nichts mehr anhaben.

Es ist eine gute Tradition, den Volkstrauertag zu einem Gang auf den Friedhof zu nutzen. Dort können Sie in den Kränzen, die an den Gräbern, aber auch an Gedenkstätten bei solchen öffentlichen Gedenktagen niedergelegt werden, eine späte Nachwirkung der Stärkung des Glaubens durch den Herrn der Kirche sehen. Denn damals, in den Zeiten der Verfolgungen der frühen Kirche, haben die Christen ihren Gestorbenen, ob sie nun Märtyrer waren oder nicht, ob sie Männer waren oder Frauen, Freie oder Sklaven, Lorbeerkränze auf das Haupt gelegt. Diese Auszeichnung haben sie von den Olympischen Spielen übernommen. Sie ehrten ihre Verstorbenen in Liebe und Achtung als Menschen, die den Lauf durch die Welt als Sieger beendet haben.

Weil der Lorbeer in Deutschland nicht sehr häufig vorkommt, haben unsere christlichen Vorfahren diesen Brauch abgewandelt und den Toten Kränze aus Fichte oder Tanne beigelegt. Diese Sitte hat sich bis heute gehalten, auch wenn die meisten Menschen nicht mehr wissen, woher sie eigentlich kommt. Sie legt auf ihre Weise Zeugnis ab von der Kraft des Glaubens, der dem Herrn vertraut, am Bekenntnis festhält, die Toten ehrt, der Opfer von Hass und Gewalt in Würde gedenkt und - vor den Feinden nicht kapituliert. Amen.

Pfarrer em. Dr. Christian-Erdmann Schott
Elsa-Braendstroem-Str. 21
D-55124 Mainz-Gonsenheim
E-Mail: ce.schott@surfeu.de

 

 

 

 

 


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