Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, J. Neukirch, C. Dinkel, I. Karle

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Vorletzter Sonntag des Kirchenjahres (Volkstrauertag), 19. November 2006
Predigt zur Offenbarung des Johannes 2, 8-11, verfaßt von Friedrich Seven
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Das sagt der Erste und der Letzte, der tot war und ist lebendig geworden.
Ich weiß deine Trübsal und deine Armut.
Sei getreu bis an den Tod, so will ich dir die Krone des Lebens geben.
Wer Ohren hat, der höre, was der Geist den Gemeinden sagt: Wer überwindet, dem soll kein Leid geschehen von dem andern Tod.

Liebe Gemeinde!
Das ist ein sehr schwieriges Wort, dieser Text aus der Offenbarung des Johannes, und ich habe auch nur Auszüge daraus vorgelesen.
Am meisten hat mich der letzte Satz beeindruckt, wo von dem anderen Tod die Rede ist und damit offenbar von einem Tod, vor dem wir uns neben dem einen, der uns genug ängstigt, auch fürchten müssen.
So sind meine Gedanken den Erinnerungen gefolgt, die sich für mich mit dem Volkstrauertag und den letzten Tagen des Kirchenjahres verbinden. Dabei kam mir das Wort der Offenbarung, insbesondere das vom zweiten Tod, so nahe, daß ich ihnen von meiner niederrheinischen Heimat erzählen möchte:

Onkel und Tanten wohnten weit weg, aber nicht so weit, daß nicht jedes Jahr mit dem Volkstrauertag für unsere Familie die Zeit begonnen hätte, die immer erst mit dem Kaffeetrinken am Totensonntag ihr Ende finden würde.
Am Volkstrauertag ging ich nicht in den Kindergottesdienst, sondern wurde von den Eltern in den großen Gottesdienst mitgenommen, wo ich im Gesangbuch immer viel zu langsam nach den Liedern blätterte und froh war, wenn ich eine Melodie kannte und mitsingen konnte.
Nach dem Gottesdienst begrüßte ich draußen noch die wartenden Kindergottesdienstkinder, die nun gleich mit unseren Helfern in die Kirche gehen würden, dann folgte ich meinen Eltern, die bereits im Auto ungeduldig auf mich warteten.

Die Fahrt ging durch den Novemberregen am Friedhof vorbei zur Rheinstraße, und wenn wir an der Ampel länger warten mußten, war die Stimme des Redners zu hören, der immer gerade noch zur Versammlung am Ehrenmal sprach.
Bei der Fahrt am Fluß entlang hörte ich dann, wenn ich das Fenster offenhalten durfte, die Bergmannskapelle mit dem Lied vom Guten Kameraden.
Die Fähre brachte uns schließlich über den Rhein, der in unserer Gegend hier so breit werden konnte, daß er regelmäßig im September die Wiesen und Felder überflutete und noch bis in den Winter hinein einzelne Seen zurückblieben
Die andere, die linke Rheinseite, war die Seite der Verwandten meines Vaters, die hier in einem Dorf nahe bei Xanten auf ihren Bauernhöfen lebten.
Meine Mutter und mein sehr viel älterer Bruder waren seinerzeit hierhin von meinem Vater vor dem drohenden Bombenangriff auf das rechtsrheinische Gebiet in Sicherheit gebracht worden, und haben so, anders als viele Freunde meiner Eltern und deren Kinder, überlebt.
Nachdem mein großer Bruder begonnen hatte, auch am Volkstrauertag seine eigenen Wege zu gehen, besuchte ich allein mit den Eltern die Verwandten und saß nach dem Gang zum Friedhof und dem Kaffeetrinken auf einem Hocker für den Kleinen mitten unter den Erwachsenen und mußte ihren Geschichten zuhören.
Die meisten dieser Geschichten kannte ich schon. Doch hörte ich, auch weil noch jedesmal neue und schrecklichere hinzukamen, lange gespannt zu. Immer wieder stellte ich mir und tat es danach noch für Tage die brennende Scheune vor, in die man Mütter und Kinder zuvor getrieben hatte, und sah den Bomberpiloten vor mir, der zwar den Absturz überlebt hatte, aber nicht die Schläge der Männer und Frauen, in deren Arme er vor dem brennenden Flugzeugwrack geflohen war.
Nach und nach hatte ich zu unterscheiden gelernt zwischen dem, was an Schrecklichem vor langer Zeit geschehen war und dem, was noch nicht lang zurückliegen konnte.
Immer wurde auch etwas erzählt, was gerade vor kurzem, Anfang November, passiert war: Etwa von der Flüchtlingsfrau, die mit ihren beiden Jungen nicht mehr leben wollte und deren jüngster Sohn noch aus dem Rhein gerettet werden konnte. Jetzt lebte er bei seinem Vater und dessen Freundin.
Wieder war gerade wer gestorben und lag jetzt noch aufgebahrt. Mein Vater meinte noch bei jedem, daß er den wohl noch kennen würde.
Die Todeskurve vor Rheinberg hatte wieder ihr Opfer gefordert und wieder war es ein ein junger Motorradfahrer aus dem Nachbardorf.
Von Familien wurde erzählt, wo inzwischen Großvater, Vater und gar schon der Sohn an der gleichen Krankheit gestorben waren.
Auch erregte man sich über die, die es bei ihrer Sauferei nicht anders verdient hätten, und immer ging es auch um einen, der wohl nicht mehr gewollt hätte.
Wenn es dann schon ganz dunkel geworden war, aber keiner ein Licht einschaltete, kam das Gespräch auf die Politik, und ich kann mich noch gut an das erinnern, was über den Mauerbau, die Kubakrise und über das Bergwerksunglück gesagt wurde.
Allen schien unterdessen klar, daß es so kaum weiterginge, auch nicht in der Landwirtschaft und auf den Höfen, bis dann einer sagte: „Wenn die Kinder nicht wären, könnte man nur den Strick nehmen!“
Lange konnte ich zuhören, aber länger noch konnten die Erwachsenen erzählen und hielten nur kurz inne, wenn die alte Tante Katharina dazwischen fragte: „Wat sollt werden, wat sollt werden!?
So wurde ich zuletzt immer müde, mich zu langweilen und unruhig zu werden, wagte ich nie.
Raus zu gehen zu den Tieren wäre mir nicht in den Sinn gekommen und wohl auch kaum erlaubt worden. Mein Vater schien mich zu brauchen, gerade wenn er mir Mal um Mal die Hand auf den Kopf legte.
Mir blieb nichts anderes übrig, als betrübt und ängstlich an die noch anstehende Rückfahrt über den Rhein zu denken. Manchmal versuchte ich auch mir vorzustellen, wie es wäre, wenn ich denn schon auf dem Friedhof läge.
Nur einmal, wohl im Jahr der Flutkatastrophe, geschah etwas anderes. Tante Katharina sah auf mich und redete zu den anderen: „Der arme Frieder langweilt sich sicher!“
„Wir wollen ohnehin gleich fahren!“ erwiderte mein Vater. „Die Fähre fährt bei dem Nebel aber nicht mehr!“, sagte der Onkel noch, und ich war froh, daß wir über die weiter entfernte Rheinbrücke wieder nach Hause führen.
Noch einige Male sah mein Volkstrauertag so aus und ging es bei den Besuchen am Buß und Bettag und am Totensonntag so weiter. Immer hatte ich meinen Platz, bis ich dafür zu groß und für eigene Unternehmungen groß genug war. Jedesmal freute ich mich am Totensonntag nach dem Posaunenchor auf dem Friedhof darüber, daß am nächsten Sonntag im Kindergottesdienst wieder „Macht hoch die Tür“ gesungen würde.
Auch jetzt zieht es mich in der Zeit vom Vorletzten zum Letzten Sonntag inzwischen nun zum Grab meiner Eltern. Besonders auf dem langen Rückweg vom Niederrhein in den Harz freue ich mich dann auf den Advent und auf den Ersten und den Letzten, der tot war und ist lebendig geworden.

Dr. Friedrich Seven
Im Winkel 6
37412 Scharzfeld
friedrichseven@compuserve.de

 

 

 


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