Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, J. Neukirch, C. Dinkel, I. Karle

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Vorletzter Sonntag des Kirchenjahres, 19. November 2006
Predigt zu Markus 12,38-44, verfaßt von Hans-Ole Jørgensen (Dänemark)
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Woran wir in der gegenwärtigen Zeit ungeheuer glauben und worauf wir ungeheuer viel Wert legen, ist: von anderen gesehen zu werden.

Sichtbarmachung ist nahezu für alle zu einem Slogan geworden. Während es früher – jedenfalls überwiegend – eine Sache war, deren man sich im Wirtschaftsleben annahm, weil man dort etwas zu verkaufen hatte, was die Leute natürlich kennen sollten, oder in der Politik, wo man gewählt werden wollte auf Grund irgendeines Programms, ist die Sichtbarmachung heute fast zu einer unausweichlichen Forderung an jeden einzelnen von uns geworden, vom einfachen Menschen da unten bis zu den öffentlichen Institutionen da oben – Schulen, Bibliotheken, Museen, Kirchen, Kränkenhäuser, alles Mögliche – wir alle sollen uns jeweils von unserem eigenen Ort aus an dem hitzigen Kampf um die Aufmerksamkeit anderer Menschen beteiligen, mehrere von denjenigen, die das natürlich tun, sollen uns bemerken und auf uns aufmerksam werden, es ist zu wenig, nur zu sein und zu wirken, wir sollen uns auch zeigen, hervortun mit dem, was wir sind, mit dem, was wir haben, mit dem, was wir können, mit dem, was wir tun und was wir wollen. Es gab einmal eine Zeit, da hatte es einen schlechten Klang, wenn man von einem Menschen sagte, er sei darauf aus, sich zu zeigen oder hervorzutun. Jetzt ist es genau dies, worum es geht.

Deshalb ist es beispielsweise immer noch gut, ins Fernsehen zu kommen, worüber ich mich jedoch gelegentlich auch wundere, denn heutzutage ist es ja keine große Sache, ins Fernsehen zu kommen. Es gibt so viele, die das tun. Aber dadurch wird man gesehen. Wie gewöhnlich und alltäglich es auch sein mag und wie wenig es vielleicht auch gewesen sein mag, womit man in dem Kasten hat aufwarten können, die Leute sehen einen, man bekommt Existenz im Bewusstsein anderer. Und das ist so unendlich wichtig. Es dauert selten lange, denn die Kamera muss schnell weiter zu anderen, aber wir sind da aufgetreten, und viele haben uns gesehen.

Der schwedische Dichter Per Olav Enquist hat einmal gesagt, ohne den Gesichtssinn könne ein Mensch wohl leben, ein Blinder sei auch ein Mensch. Aber wenn man selbst nicht gesehen werde, dann sei man nichts.

Genau darum geht es im Grunde. Existierst du nicht im Bewusstsein anderer, gibt es keine Augen, die dich sehen und es wichtig finden, dass du da bist, dann kannst du hier nicht gut sein. Als ein Übersehener zu leben, hält auf die Dauer niemand aus.

Aber es gibt da Unterschiede. Denn nicht in einem jedem Blick ist Heil. Es spielt auch eine Rolle, mit welchen Augen du gesehen wirst und was du zu tun hast, um gesehen zu werden. Die moderne Auffassung ist mit Anstrengung verbunden, sowohl für denjenigen, der überall und bei jeder Gelegenheit sich selbst vorzeigen muss, wie auch für diejenigen, die zusehen müssen. Teils entsteht dann ja dieser gewaltige Kampf um die Aufmerksamkeit – es beginnt an Menschen zu fehlen, die mich und meine Sache sehen sollen, – teils kommt uns ja auch die Lust zueinander abhanden, wenn das Anliegen zwischen uns darin zu bestehen beginnt, dass wir uns zeigen. Die moderne Auffassung ist anstrengend, jedenfalls wenn man es übertreibt. Und das wussten die Alten eigentlich auch. Wenn wir heute die Worte Jesu über die Schriftgelehrten hören, die gern in langen Gewändern gehen und sich auf dem Markt grüßen lassen und gerne obenan in den Synagogen und am Tisch beim Mahl sitzen und lange beten, all das um des Bildes willen, das sie von sich vermitteln wollen, dann haben wir es mit einem altehrwürdigen Wissen zu tun, mit einem Wissen von Mechanismen in unserem Umgang miteinander: Wir mögen sie im Grunde gar nicht, diese Leute, die sich nur zeigen wollen.

Und deshalb ist es auch eine schöne kleine Perle von Text, den wir heute über Jesus hören, der die arme Witwe sah, jene Witwe, die niemand sonst sah. Der alttestamentliche Text, den wir vom Altar hörten (Jer. 7,1-11), endete mit den Worten: Siehe, ich sehe es wohl, sagt der Herr! Genau das ist auch hier in dieser Erzählung die Pointe.

Die arme Witwe war nicht jemand, den man sah, denn sie hatte nichts zu zeigen von dem, was man sieht. In den Augen der Welt war das, was sie zu geben hatte, völlig bedeutungslos, sie hätte genauso gut einen Hosenknopf in den Gotteskasten legen können. Aber Jesus sah sie – für Gott ist es nämlich genug, zu sein – er sah die Ungesehene, ja, er sah etwas Großes in ihr, und dann war es kurz danach er, der sie für die Jünger sichtbar machte, er zeigte auf sie und sagte: hier – in dem, was die Welt nicht sieht und was für die Welt ohne Bedeutung ist – hier gibt es auch etwas zu sehen. Ja, in Wirklichkeit – sagt er – ist hier mehr zu sehen als bei so vielen von den Anderen.

In seinem Buch „Die Taten der Liebe“ spielt Sören Kierkegaard mit dieser Art und Weise des Sehens bei Jesus. Er verschärft die Pointe, und er hat Recht: er stellt sich vor, dass die arme Witwe mit ihren kleinen Münzen in ein kleines Tuch gewickelt zum Tempel gekommen ist, dass aber jemand – ohne dass sie es bemerkt hätte – zuvor das Tuch mit einem anderen ohne Geld vertauscht hatte, so dass sie also ihr Opfer in gutem Glauben im Tempel dargebracht, in Wirklichkeit aber gar nichts gegeben hatte.

Hätte Jesus – so fragt Kierkegaard – , auch wenn er dies gewusst hätte, nicht trotzdem genau das gesagt, was er über sie sagte, nämlich dass sie mehr gab als alle die Reichen?

Das hätte er natürlich getan. Denn worum es hier geht, hat nichts mit der Größe der Gabe, sondern mit dem Herzen des Gebers zu tun.

Und jetzt können wir mit all unseren vernünftigen Argumenten aufwarten. Mit all den Argumenten, die besagen: soll es einen Nutzen bringen, dann sind dazu ganz andere äußere und konkrete Dinge nötig. Wie es in Jerusalem einen Tempel gab, der instand zu halten und zu betreiben war und eine Armenfürsorge, die auch Geld kostete, so gibt es zu jeder Zeit eine endlose Reihe von guten Zwecken, die zu fördern sind, und die Leidenden – die Armen, die Flüchtlinge und die hungernden Menschen auf der ganzen Welt – sie können nicht von einer Barmherzigkeit leben, die kein Geld hat. In der wirklichen Welt reichen ein großes Herz und ein guter Wille nicht hin. Hier zählt das Geld und nur das Geld. Ob es aus meinem Überfluss gegeben ist oder ob ich wie die Witwe alles gab, spielt hier keine Rolle. Seine Steuern gern bezahlen ist vermutlich besser für einen selbst, als wenn man es mit Widerwillen tut, aber das Geld kommt gleichermaßen dem System und den Anderen zugute.

Zwei Welten stoßen hier aufeinander. Was in der einen zählt, zählt nicht in der anderen. Aber wir leben alle in beiden Welten zugleich.

In der einen Welt geht es um das Äußere, das Angemessene und Vernünftige. Hier erstreben wir durch verschiedene Regeln eine Gesellschaft, die für so viele wie möglich Lebensmöglichkeiten bereitstellt, und womit wir regulieren, das sind die Balancen. Zur Zeit Jesu sagte man meistens: „Auge um Auge und Zahn um Zahn“ und „was du säest, das wirst du ernten“. Das ist glücklicherweise nicht mehr unangefochten das Modell, jedenfalls nicht bei uns. Aber ein Gleichgewicht in den Dingen verlangen wir auch heute noch. Zwischen Recht und Pflicht, zwischen Leistung und Genuss. Das alte Ideal von der Gegenseitigkeit gilt noch immer.

Und so ist es – auch in dieser Welt, wenn wir geben. Bekämen wir nichts dafür, würden wir wohl kaum geben. Wir geben, um einen letzten Rest einer untergegangenen Welt zu retten, um einen letzten Rest untergegangenen Menschenschicksals zu retten. Aber wir bekommen etwas dafür. Deshalb ist es vernünftig und machbar. Es besteht ein Gleichgewicht. Wir retten einen Rest von Sinn bei uns selbst. Einen Rest Gewissen. Wir geben einiges. Und wir bekommen einiges.

Aber es gibt noch eine andere Welt – die Welt, in der das einzig Entscheidende ist, was im Herzen eines Menschen wohnt – und dieser Welt begegnen wir nicht nur in der armen Witwe, die alles gab, oder in anderen von ihrer besonderen Art, die uns Jesus von Zeit zu Zeit in der biblischen Welt sichtbar macht. Wir leben auch selbst in ihr, ja, wir leben von ihr, und wäre das nicht so, könnten wir gar nicht hier sein.

Vom Angemessenen können wir nämlich nicht leben. Das wäre, wie wenn man mit allzu kalten und gleichgültigen Augen sähe. Wenn es nicht Menschen gibt, die uns etwas zu geben haben, was vom Herzen kommt und größer ist als alle Angemessenheit, dann mögen wir zwar gute Verhältnisse haben, Reichtum und Lebensmöglichkeiten im Überfluss, aber das alles ist zu wenig, um davon zu leben. Und wenn wir nicht selbst etwas haben, was wir von uns geben können an andere, verschwenderisch und ohne Gedanken daran, was wir selbst davon haben können, dann haben wir noch etwas Wichtiges zugute. Es mag sein, dass wir vor allem glauben und denken, das Glück bestehe in dem, was wir an uns bringen können, was wir mit dem, was wir tun, verdienen und behalten können. Und müssten wir etwas davon abgeben, dann würden wir ärmer. Aber so ist es nicht in allen Zusammenhängen, und ganz und gar nicht in denen, die dem Sinn des Lebens am nächsten kommen. Darin, dass man verschwenderisch mit sich selbst sein kann, liegt eine Freude, die dichter an dem liegt, wovon wir leben, als wir oft glauben. Und vielleicht ist es deswegen auch verkehrt, dass wir die arme Witwe immer noch arm nennen. Denn am ärmsten wird man, wenn man für sich behält, und reich wird man, wenn man gibt, was man hat.

Und auf diese Weise werden in der Geschichte von der armen Witwe einige Rollen getauscht. Die Reichen werden arm, und die Arme wird reich. Und fühlen wir Mitleid, dann müssen wir gut nachdenken, ehe wir unserem Mitleid den einen oder den anderen Ort anweisen. Jesus hatte Sinn für das Wichtige in einem Menschenleben – er war jemand, der sehen konnte – und dann wusste er ja auch, dass es seinem eigenen Leben glich, dieses Leben, das er bei dieser Frau sah. Auch er war einer, der alles gab.

Das eigene Leben des Himmelreichs, das Jesus selbst mitbrachte und verschwenderisch an Menschen gab, denen er auf seinem Weg begegnete, war von derselben Art wie das, das er bei dieser Frau sah. In dem, was er an Worten und Taten von sich gab, waren es die Augen Gottes, die auf einen jeden gerichtet wurden, Augen, die auch dich sehen, wie du bist, und dich doch lieben. Auch wenn du einer von denen sein solltest, die ein unscheinbares Dasein führen, einer, der nichts Besonderes von dem, was wirklich zählt, vorzuweisen hat.

Sören Kierkegaard erzählt von einem Mann, den er kannte, der selbst in kümmerlichen Verhältnissen lebte und nichts Großes besaß, das er anderen hätte geben können und darum auch nie genannt wurde; von ihm, sagt Kierkegaard, habe er mehr über das Geben gelernt als von irgend jemandem sonst. Denn manchmal – erzählt er – „gab dieser Mann auf der Straße einem Armen, und wenn er gab, nahm er vor dem Armen immer so ehrerbietig den Hut ab, als wäre er ein Vorgesetzter, so freundlich, als wäre er ein Gleichgestellter“.

Dieses Bild mag vielleicht als Ausdruck dafür dienen, was der christliche Glaube ist und was in dem Wort von der Sündenvergebung verborgen ist, dass Gott in Jesu Leben, Tod und Auferstehung einen jeden von uns gesehen hat mit den Augen, die wir nötig haben, um unser Menschenleben leben zu können, mit den Augen, die etwas Großes selbst in dem Ärmsten sehen, die in einem jeden einen Menschen sehen.

Das Christentum ist der Glaube daran, dass du gesehen bist. Und dass deshalb nicht alles davon abhängt, wie sichtbar du nach der Fordrung der Zeit dich selbst zu machen imstande bist. Es ist genug, einfach zu sein . Dem allein sollst du dich hingeben.

Und darum werden wir gleich Kingos großartiges Gedicht von der Eitelkeit singen, von dem Lebewohl an die Welt. Wir singen es nicht so oft, denn es sind Worte, die leicht missverstanden werden können, heute aber wollen wir es singen, denn heute können wir es vielleicht als ein Lebewohl an die Welt hören, das ein Willkommensgruß an das Leben ist, ein Willkommensgruß an das Leben, das unter der Schminke wirklicher und bedeutungsvoller ist als darüber.

Amen!

Pastor Hans-Ole Jørgensen
Hyrdestræde 5
DK-6000 Kolding
Tel.: +45 75 52 06 61
E-mail: haoj@km.dk

Übersetzung aus dem Dänischen: Dietrich Harbsmeier

 


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