Göttinger Predigten im Internet
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Buß- und Bettag - 22. November .2006
Predigt zu Offenbarung des Johannes 3,14-22, verfaßt von Hans Joachim Schliep
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Textlesung - Offenbarung 3,14-22 (Luther 1984):
3,14Und dem Engel der Gemeinde in Laodizea schreibe: Das sagt, der AMEN heißt, der treue und wahrhaftige Zeuge, der Anfang der Schöpfung Gottes:
15Ich kenne deine Werke, dass du weder kalt noch warm bist. Ach, dass du kalt oder warm wärest! 16Weil du aber lau bist und weder warm noch kalt, werde ich dich ausspeien aus meinem Munde. 17Du sprichst: „Ich bin reich und habe genug und brauche nichts!“ und weißt nicht, dass du elend und jämmerlich bist, arm, blind und bloß. 18Ich rate dir, dass du Gold von mir kaufst, das im Feuer geläutert ist, damit du reich werdest, und weiße Kleider, damit du sie anziehst und die Schande deiner Blöße nicht offenbar werde, und Augensalbe, deine Augen zu salben, damit du sehen mögest. 19Welche ich lieb habe, die weise ich zurecht und züchtige ich. So sei nun eifrig und tue Buße!
20Siehe, ich stehe vor der Tür und klopfe an. Wenn jemand meine Stimme hören wird und die Tür auftun, zu dem werde ich hineingehen und das Abendmahl mit ihm halten und er mit mir. 21Wer überwindet, dem will ich geben, mit mir auf meinem Thron zu sitzen, wie auch ich überwunden habe und mich gesetzt habe mit meinem Vater auf seinen Thron. 22Wer Ohren hat, der höre, was der Geist den Gemeinden sagt!

Klopfzeichen, liebe Gemeinde, geben Rettungstrupps, um verschüttete Bergleute ausfindig zu machen. Werden diese erwidert, besteht Aussicht, die Eingeschlossenen zu bergen. Klopfzeichen gibt auch Christus: „Siehe, ich stehe vor der Tür und klopfe an.“ Solche Klopfzeichen vernimmt der Seher Johannes stellvertretend für die Gemeinde in Laodizea.

Aber sind die Christinnen und Christen dort denn Eingeschlossene? Verschüttete gar: statt in unterirdischen Gängen in ihrem Herzen, ihrem Geist, ihrer ganzen Lebensweise? Es geht ihnen doch gut! Es geht ihnen sogar bestens! Als der Stadt Laodizea nach einem Erdbeben im Jahre 60/61 n. Chr. aus der fernen Kapitale Rom finanzielle Wiederaufbauhilfe angeboten wird, lehnt sie dankend ab. Laodizea hat ausreichend eigenes Kapital, um die Schäden zu reparieren. Sie haben genug und brauchen nichts.

Laodizea, am Fluß Lykos gelegen, ist gegen Ende des 1. Jahrhunderts n. Chr. die reichste Stadt in der römischen Provinz Phrygien. Dort sprudeln die Geldquellen aufgrund eines blühenden Handels und Wandels. Prosperität pur. Reichen Römern wird empfohlen, ihr Geld in einem der Bankhäuser Laodizeas anzulegen, wegen der hohen Zinsen. Dazu boomt das Geschäft mit der Gesundheit: Im Zentrum für Augenheilkunde therapieren die besten Augenärzte mit einer besonders wirksamen Augensalbe, die in alle Welt vertrieben wird. Zudem der Verdienst an den Modewünschen der Betuchten durch den Verkauf von feinstem Tuch!

Ein gutes Investitionsklima und hohe Renditen. Davon profitiert auch die Christengemeinde. Wie auch wir gesteigerte Einnahmen unserer Kirchen erwarten, wenn sich die Wirtschaft erholt. Was kann daran falsch sein? Es wäre doch wirklich höchste Zeit, ginge endlich die Arbeitslosigkeit nachhaltig zurück und könnten Staat und Kirche mehr für Bildung und soziale Sicherung tun und die Armut bekämpfen! Nur wer hat, kann geben!

Im Blick auf die Lage in Laodizea sieht es der Seher Johannes ganz anders. Offenbar nimmt er eine massive Verschlossenheit der Gemeinde wahr, die er als letzte von sieben Gemeinden in Kleinasien anschreibt und die er als einzige heftig kritisiert. Er eröffnet sein Sendschreiben statt nur mit einem Klopfzeichen gleich mit einem Hammerschlag: „Das sagt der AMEN heißt, der treue und wahrhaftige Zeuge, der Anfang der Schöpfung Gottes“. Mit dem Bekräftigungswort AMEN, das gemeinhin am Schluß steht, nimmt er Christus als höchste Autorität in Anspruch. Kann er nur so unsichtbare Mauern des Verkennens und Verbergens der wahren Verhältnisse durchbrechen, verschlossene Gehörgänge und verstopfte Herzenswindungen öffnen?

Kann der Seher Johannes nur durch den Hinweis auf die SCHÖPFUNG neuen Lebensraum eröffnen, eine Kreativität wecken, die, wie er es wahrnimmt, in allem Handel und Wandel zu kurz kommt? Um dieser Kreativität willen, so verstehe ich es, verbindet er die harsche Kritik an der „Lauheit“ der Christinnen und Christen in Laodicea mit dem drastischen Bild vom „Ausspeien“. Ihr weder „Warm“ noch „Kalt“, ihr unentschiedenes „Anything Goes“ findet er „einfach zum Kotzen“. Ein ur-lebendiges, höchst kreatürliches Bild; zum Erbrechen war uns alle schon einmal. Aber befremdlich und geschmacklos. Nun, wem alles gleich gültig ist, ist am Ende alles gleichgültig, also ohne Geschmack, zum Ausspeien. Aber unser Leben soll doch Geschmack haben: Farbe, Form, Gesicht! Und die Kirche „Profil“!

Was genau erregt den heiligen Zorn des Sehers dermaßen, dass er die Klopfzeichen Christi geradezu mit Hammerschlägen, ja, mit Axthieben ankündigt? Er erkennt hinter den Kulissen, wie gerade die intensive Aktivität die wahre Kreativität verschüttet: Die laodizenische Christengemeinde ist sich selbst genug. Sie meint, alles zu haben und nichts zu benötigen. Aus dieser Haltung resultiert ein doppelter Schaden. Nach aller Lebenserfahrung will, wer schon alles hat, paradoxerweise immer mehr haben. Wie in dem Bilderbuch von Leo Lionni „Das größte Haus der Welt“: Eine kleine Schnecke verschafft sich durch eigenes Drücken das prächtigste Schneckenhaus, das man sich vorstellen kann. Doch nun kann sie zu keinem neuen Blatt gelangen. Zum Glück zerfällt aus Nahrungsmangel das größte Haus der Welt auf ihrem Rücken rechtzeitig. Mit einem kleinen Haus kehrt ihre alte Beweglichkeit, ihre Kreativität zurück.

Dazu kommt etwas Anderes, Entscheidendes: Was kann Gott dem noch geben, der schon alles hat? Nichts! Was hat Gott dem gegeben, der alles hat? Alles! Aber kann das noch erkennen, wer alles hat und deshalb noch mehr haben will? Wer aber das nicht mehr erkennt, verkennt in Selbstgenügsamkeit, wie er angewiesen ist auf Lebenskraft von außen, von Gott. Verkennung - das ist eigentlich Sünde: selbstverschuldete Abkehr von der Lebenskraft. Aus dieser Verkennung holen uns Buße und Vergebung zurück, um uns so zu neuer Lebenskraft zu führen.

Doch blickt der Seher Johannes noch tiefer, ohne es jetzt ausdrücklich zu erwähnen. Das Grundübel ist für ihn der Kaiserkult. Vom Kaiserkult wird das erfolgreiche wirtschaftliche System in Laodizea zusammengehalten. Es hat natürlich eine starke militärische Präsenz der Römer zur Folge. Zu allen Zeiten und an allen Orten jedoch lassen Menschen sich viel gefallen, solange die Geschäfte florieren und die Kurse steigen. Besonders Domitian, von 81 bis zu seinem gewaltsamen Tod im Jahr 96 in Rom auf dem Cäsarenthron, legt auf Verehrung als Gott wert. Warum sollte man sie ihm verweigern? Zu den alten Göttern, für jeden Lebensbereich einer, kommt nur ein neuer Gott hinzu. Der beansprucht im Alltag der Zivilreligion zwar gesteigerte Aufmerksamkeit, aber die Vorteile liegen auf der Hand. Auch die Christen könnten ihm doch ihre Referenz erweisen: Was kostete es sie denn schon, sich vor seinem großen Standbild, ohne an ihn zu glauben, nur der Form halber zu verneigen?!

Der Seher Johannes aber, auf die Insel Patmos wegen religiös motiviertem Widerstand gegen die Staatsgewalt verbannt, ist unter keinen Umständen bereit, den römischen Kaiser als Gott anzuerkennen. Folglich fordert er auch von der Gemeinde in Laodizea, keine Kompromisse mehr mit dem Kaiserkult einzugehen. Jeder Kompromiss, davon ist er überzeugt, brächte sie, modern gesprochen, um ihre Identität.

Dafür könnte er strategische Gründe ins Feld führen. Die kleine Christenheit muss ihre eigene „corporate identity“ finden. Nach der Zerstörung Jerusalems im Jahre 70 n. Chr. gerät sie unter doppelten Druck. Das Band zum Judentum löst sich. Ohnehin schwinden die Vorteile, bei den Römern als jüdische Sekte zu gelten. Schon Vespasian, Domitians Vor-Vorgänger aus dem Haus der Flavier, baut die Ausnahmerechte für die Anhänger der jüdischen Religion ab und erhebt eine Sondersteuer, die - anders als früher an den Jerusalemer Tempel - jetzt an Rom zu entrichten ist. Domitian weitet die Steuer auf alle „Gottesfürchtigen“ aus, die aus Sicht der Römer dem Judentum irgendwie nahestehen, und verschärft ihre Eintreibung. Ab wann ist nun mit der Militärpflicht auch für Christen zu rechnen, zu der der Eid auf den „göttlichen“ Kaiser gehört? Also müssen die Christen, immer mehr auf sich allein gestellt, gewappnet und widerstandsfähig sein, wollen sie Gott, dem Einen, Einzigen, dem Vater Jesu Christi, treu und damit christliche Gemeinde bleiben.

Doch wie wir den Seher Johannes aus seiner prophetischen Schrift, der „Offenbarung“, kennen, spielen für ihn ganz andere als strategische Gründe die entscheidende Rolle: Wo es um Christus geht, um die Freiheit des Glaubens an den, der Gottes Erbarmen und Liebe verkörpert, kann es für ihn ohnehin nur eine Lebensorientierung geben: an Christus selbst. Doch warum duldet der Christusglaube keine Kompromisse mit dem Kaiserkult? Um das wirklich zu verstehen, müssen wir unsere Augen öffnen lassen für die große Vision und Audition, die den Seher Johannes aus seiner Verbannung heraus auf einen ganz neuen Horizont blicken lässt: „Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde. ... Und ich hörte eine große Stimme von dem Thron her, die sprach: Siehe da, die Hütte Gottes bei den Menschen! Und er wird bei ihnen wohnen ...; und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein“ (OffJoh 21,1-4 i. A.).

Dieser Ausblick wird für Johannes zum Aufbruch. Indem er die Unvereinbarkeit zwischen Christusglauben und Kaiserkult proklamiert, wagt er eine Kritik an der politischen Macht. Deren deutlichster Ausdruck war damals nun einmal der Kaiserkult. Mag diese Art politischer Macht auch mit vernünftigen Argumenten vom Vorteil für alle, wenn sie sich einer starken, einzigen Macht unterstellen, daherkommen - sie ist auf Zwang gebaut und deshalb voller Gewalt. Der Seher dagegen ist beseelt von Gottes Erbarmen, von der Hingabe und Liebe des Christus, die er in das Bild des „Lammes“ kleidet. Diese Hingabe, diese Liebe bis in den Tod hinein und durch den Tod hindurch wirkt auf ihn einfach bezwingend. Der Glaube: ein zwangloser Zwang - wie ein schönes Bild, eine wundervolle Musik, ein gutes Wort, eine hilfreiche Tat unmittelbar zu Herzen gehen und es ganz in Anspruch nehmen.

Zwar verbirgt der Seher Johannes es im Sendschreiben an die Laodizener zunächst noch hinter schneidenden Worten und erschreckenden Bildern. Sein Wort, Christus weise zurecht und züchtige gar, wen er liebe, müssen wir zurückweisen. Nicht einmal die Liebe, die um des Geliebten willen in Zorn gerät, könnte körperliche Züchtigung rechtfertigen. Akzeptabel wäre es allein, von der Zucht der Liebe zu reden: von der unbedingten Verpflichtung und Anstrengung, die die Liebe zum Anderen erheischt. Auch ihre Quelle ist der Glaube, der dem Seher Johannes in seiner Vision des neuen Himmels und der neuen Erde und von dem Gott, der alle Tränen abwischt, zuteil wird und dessen ganz Anderes er bezeugt. Solchen Glauben vergleicht der Politologe und Philosoph Otto Kallscheuer in seinem neuen, überraschenden Buch „Die Wissenschaft vom Lieben Gott“ mit der unwiderstehlichen Schönheit: „Wir können gar nicht anders als (die) Schönheit zu bewundern - und doch übt sie keinerlei Gewalt wider unseren Willen aus. Eher schon müssten wir unserem Willen Gewalt antun, um unseren Blick von der schönen Gestalt oder Vision abzuwenden. Der Zwang der Schönheit ist zugleich zwingend und zwanglos.“ (S. 302) So schenkt auch die Schwester des Glaubens, die Liebe, Freiheit im unbedingten Ja zueinander: allein die gelebte Bindung macht frei. Ja, der Glaube: ein „Zwang ohne Zwang“. Deshalb befreiend. Deshalb Absage an alle Gewalt und missbraucht, wo er als religiöse Rechtfertigung von Gewalt herhalten muss. Deshalb mit dem Kaiserkult unvereinbar.

Denn diese gewaltgestützte politische Macht wird sich zum Waffengebrauch gezwungen empfinden, wenn jemand sich ihrem Zwang entzieht. Zugleich drückt sich in dieser Art politischer Macht der allbekannte Allmachtsanspruch des Endlichen aus, das mit seiner Endlichkeit partout nicht einverstanden sein will. Damit wird die Verkennung des Lebens, wie es geschaffen ist, auf die Spitze getrieben. Eine der Folgen ist ein Leistungsanspruch, der auf rastlose Produktion in fehlerfreier Perfektion aus ist. Unfertiges und Unvollkommenes, Fehlerhaftes und Fragmentarisches gelten dann als das Unzulässige. Du darfst deine Tränen nicht zeigen, geschweige denn abwischen lassen! Von der Freiheit zum Totalitären hin sind es dann nur wenige Schritte. Machen wir uns doch nichts vor: Das ist, trotz aller Vorzüge, die sie hat, die eigentliche Logik unserer kapitalistischen Wirtschaft. Ich kenne - noch - keine bessere. Aber ihr wahres Gesicht: das Doktrinäre und Revolutionäre, das ihr innewohnt, ihr explosives Gewaltpotential gegen Menschen und Mitwelt zu verschleiern, wäre doch wohl Verkennung in höchstem Maß!

Dagegen schließt - in zwanglosem Zwang - der Glauben, wie Christus ihn in Gang setzt, alles Marginale und Fragmentarische in seine Hoffnung und seine Liebe ein, lässt es teilhaben am Leben, nimmt es in seine Obhut, gibt ihm sein Recht, erweckt in ihm neue Lebenskraft. Kreativität und Humanität aus Glauben, Hoffnung, Liebe! Eine Liebe, der alles, die sich selbst verlorengeht, wenn sie nur nimmt, aber alles gewinnt, wenn sie nur gibt!

Was könnte ein Kaiser denn auch geben, selbst wenn er ein gerechter Kaiser wäre? Fragen wir ruhig, auch wenn zwischen dem großen Kaiser in Rom und der großen Koalition in Berlin der himmelweite Unterschied eines demokratischen Staatswesens liegt: Wofür könnte eine gute Regierung allenfalls sorgen? Für Gerechtigkeit. Das wäre ja schon ganz, ganz viel. Gerecht aber ist, dass jeder bekommt, was er verdient. Dann aber wird niemandem etwas geschenkt. Im Leben sind jedoch alle darauf angewiesen, mehr zu bekommen, als sie sich erwirken können. Vom Anfang bis zum Ende ist das Leben selbst das gnädig Gewährte, das jedem Erwerben zuvorkommt, der große Gewinn, der durch keinen Ertrag überboten werden kann.

Diesen tieferen Lebenszusammenhang deckt der Seher Johannes auf, wenn er den Laodizenern als Christuswort schreibt: „Ich rate dir, dass du Gold von mir kaufst, das im Feuer geläutert ist, damit du reich werdest, und weiße Kleider, damit du sie anziehst und die Schande deiner Blöße nicht offenbar werde, und Augensalbe, deine Augen zu salben, damit du sehen mögest.“ „Gold“, „weiße Kleider“, „Augensalbe“ - wir wissen schon: die Einnahmequellen der Laodizener. „Augensalbe“ von Christus dagegen - die steht für die tiefbetrübten, aber doch gnädigen Augen, mit denen Jesus Christus den Verleugner Petrus angeblickt hat: dass wir also unser wahres Ansehen vom Ansehen Gottes her gewinnen. „Weiße Kleider“ von Christus - die erinnern an das Kleid, das bei der Taufe am Auferstehungsmorgen umgelegt wird: dass wir also schon unser altes in der Kraft des neuen Lebens leben dürfen. „Gold, das im Feuer geläutert ist“ - der Preis des eigenen Lebens, den es Jesus Christus in seiner unbedingten Gottestreue und Menschenliebe im glühenden Hass erlittener Gewalt gekostet hat.

Mag seine aggressive Sprache bisweilen ganz anders klingen, der Seher Johannes entkommt doch der Falle, die römische Großmacht anzugreifen von einer göttlichen Allmacht her, die nur die höchste Steigerung der Cäsarenmacht wäre. Er ist kein Taliban. Er erschüttert allein von der Macht der Liebe her, die die Ohnmacht zu ertragen vermag und sich in der Ohnmacht erweist: von dem Christus her, der sein Leben mit den Menschen teilt. Denn die Klopfzeichen, mit denen Christus Einlass in den verschlossenen Raum begehrt, bedeuten, obwohl man nach den harten Worten vorher durchaus anderes erwarten könnte, nicht den Beginn einer Buß- und Strafaktion. Im Gegenteil: Sie signalisieren seine Bitte um Gemeinschaft in der Feier des Abendmahls, im Brechen des Brotes, das seinen eigenen gebrochenen Leib, und im Reichen des Kelches, das seine eigene Lebenshingabe vergegenwärtigt.

Wo die Cäsarenmacht zu Gericht sitzen müsste, lässt die Gottesmacht Gnade walten. Ist uns heute noch bewusst, welche Revolution im Gottesbild sich darin ausspricht? Im Bilde gesprochen: Ein Gott, der seinen hohen „Thron“ verlässt, um selbst bei den Eingeschlossenen und Verschütteten, den gleichsam lebendig Begrabenen zu sein! Und der so - in Christus - die Menschen, auch das geringste seiner Geschöpfe, zu höchster Würde erhebt! Sie alle sollen mit Christus beim „Vater“ sein, auf dem „Thron“ sitzen, auch der Niedrigste soll teilhaben am „Reich“, an der „Kraft“, an der „Herrlichkeit“. Das neue Gottesbild, das Gott tief unten im Leben erkennt, führt zu einem neuen Menschenbild, das unüberboten hoch vom Menschen denkt. Der Mensch - ein König. Und „Könige“ - oder wer auch immer und wo auch immer an der Spitze steht: alle sind Menschen.

Nun aber, liebe Gemeinde, die wichtigste Frage, die sich uns heute am Buß- und Bettag von diesem Text her stellt: Welchen Temperaturgrad würde der Seher Johannes bei den christlichen Kirchen im Jahr 2006 messen? Gäbe er sich wohl zufrieden mit den „Leuchtfeuern“ einer „Kirche der Freiheit“? Oder wären wir ihm an Lauheit nicht zu überbieten? Eine Kirche, die - um nur wenige Beispiele zu nennen - in Fragen der Migration, der Arbeitsmarkt-, Bildungs-, Gesundheits- und Entwicklungspolitik sich auf gesellschaftliche Probleme mit stichhaltiger Kritik und durchdachten Argumenten einlässt, die z. B. gerade eine Armutsstudie herausgebracht hat? Eine Kirche, die menschengerechte und sachgemäße Wege in ethischen Konflikten sucht und damit notwendigerweise auch Kompromisse hinnimmt? Eine Kirche, die den Dialog mit allen gesellschaftlichen Gruppen, auch mit anderen Religionen sucht? Eine Kirche, die die Zivilreligion überall dort akzeptiert, wo sie nicht eklatant der biblischen Botschaft widerspricht? Eine Kirche, die sich in einem klug austarierten staatskirchenrechtlichen System bewegt? Eine Kirche, die mit wohlerwogenen Gründen Kirchensteuer durch die staatliche Finanzverwaltung erhebt und eine der größten Arbeitgeberinnen in unserem Land ist, eine „Firma“ mit Milliardenumsätzen? Eine Kirche, die sich um öffentliche Präsenz bemüht und Internet-Chaträume eröffnet? Eine Kirche, die den Vorzug genießt, dass aus in Rundfunknachrichten aus der Reformationspredigt ihrer Landesbischöfin zitiert wird? Eine Kirche, die auf der Suche nach neuen Einnahmequellen durch Vereine und Stiftungen vom privaten Reichtum auch der Unkirchlichen etwas abschöpfen will? Diese Kirche ist meine Kirche, in der mitzuwirken für mich eine Lust und Freude ist und der ich nach 32 Dienstjahren unendlich viel verdanke.
Findest du, Seher Johannes, meine Kirche „zum Kotzen“?

Bevor du antwortest, Seher Johannes, mache ich dich darauf aufmerksam, wie deine theologisch-politische Kritik wenigstens mittelbar zu dieser Entwicklung mit beigetragen hat. Denn wie du die Königswürde des Menschen siehst, wie du am Ende doch der Gnade Vorfahrt vor dem Recht gibst, wie du den Richter als Retter verkündigst und Gott als den, der noch unsere hinuntergeschluckten Tränen „abwischt“, wie du die Gewalt (dann doch) durch Liebe überwunden siehst, das hat doch auch mit zu einer demokratischen Gesellschaft geführt. In der wird die christliche Botschaft zwar oft an den Rand gedrängt, aber sie kann ungehindert weitergegeben, der Glaube kann unvermindert gelebt werden. Obwohl sie für dich wie für mich alles andere als der „neue Himmel“ und die „neue Erde“ sein kann, ist diese moderne, plurale, offene Gesellschaft, die sich auch in unseren Kirchen spiegelt, doch nicht völlig jenseits des Evangeliums, das auch du, wofür wir dir danken, an uns weitergegeben hast.

Darum seien die heutigen christlichen Fundamentalisten aller theologischen und politischen Coleur gewarnt vor einer apokalyptischen Pose und dem Schwingen der Flagge religiös-moralischer Eindeutigkeit, womit sie ohnehin immer einen Schritt vor dem Abgrund der Bigotterie stehen. Den Abschied vom Kaiserkult sehe ich auch in einer Verabschiedung religiös-moralischer Bevormundung und eines schlichten Entweder-Oders, das einer komplexen und darum komplizierten Gesellschaft niemals mehr angemessen sein wird. Die Teilhabe aller, wirklich aller Menschen auf der Erde, auch kommender Generationen, an der Lebensgabe und den Lebensgaben ist das Grundkriterium, für das die christlichen Kirchen einzutreten haben. Auf dieser Basis aber gilt es, Verantwortung im ethischen Konflikt zu übernehmen. Möge uns Gott, indem er uns Freiheits- und Gerechtigkeitssinn sowie politische Klugheit schenkt, davor bewahren, politische Tyrannei aushalten oder gar beseitigen zu müssen. Was und wie es auch kommen mag, sind alle, die Verantwortung übernehmen, auf Vergebung angewiesen. Das wird am Buß- und Bettag besonders deutlich.

Heute will uns der Seher Johannes den Blick dafür schärfen, dass jede Christin, jeder Christ und durch sie die christlichen Kirchen Maß nehmen an dem, der anklopft, um sein Leben in letzter Hingabe mit uns zu teilen und in dessen Kraft auch uns die Vision vom „neuen Himmel“ und der „neuen Erde“ zuteil wird. Vor diesem Horizont sind uns erneut die Fragen gestellt: Was macht uns wirklich reich? Wie leben wir wirklich unserer Würde gemäß? Wie bekommen wir wirklich einen klaren Blick für das, was dem Leben dient?

Die prophetische Vision vom Reich Gottes, das allein durch Gott selbst kommt, will uns vor der Illusion bewahren, das wirklich Neue, End- und Letztgültige durch unser Handeln herstellen zu können. Das muss ich wissen, wenn ich mich durch kein noch so rational oder ethisch gut motiviertes Argument bisher davon überzeugen lassen konnte, dass - um wieder nur Beispiele zu nennen - die Gentechnik wirklich lebensdienlich ist und die Kernenergienutzung wirklich der verträglichste Weg, unseren Energiebedarf zu decken. Deshalb muss ich die Verantwortung für die Folgen tragen, die ein Verzicht auf derartige Mittel zugleich immer bedeutet - und bereit sein zum Dialog, der auch zur Änderung meiner Meinung führen kann.

Das betrifft allemal die Frage, wie die Kirche Kirche ist. Denn der Seher Johannes, wollen wir ihn ernst nehmen, darf doch erwarten, dass wir Alternativen wenigstens in den Blick nehmen, zumal dann, wenn der Umbau unserer Kirchen ohnehin ansteht. Die christlichen Kirchen in unserem Land, die Freikirchen eingeschlossen, sind tief in unser politisch-kulturelles System eingebunden, das sich nicht zuletzt aus der Kraft der christlichen Botschaft speist. Deshalb können und dürfen sie sich nicht aus dieser Gesellschaft verabschieden. Gleichwohl ist ihre Basis eine ganz andere. Gleichwohl haben sie der Gesellschaft nicht nur Werte (nach)zuliefern, sondern ihre Werte auch in Frage zu stellen (so kürzlich Robert Leicht). Gleichwohl stehen sie einzig mit Gott, wie er sich in Jesus Christus gezeigt hat, auf dem Markt der Werte, Waren und Wahrheiten. Gleichwohl zeugte es von Glaubensmut und Geisteskraft, nähmen wir ein ganz anderes Christ- und Kirchesein in den Blick: Nur noch drei krumme Nägel an einer nackten Wand! Nur noch ein paar Steine von den Trümmern des Tempels!

Hörten wir dem Seher Johannes, diesem alten Aufdecker und Aufklärer, zu, wenn er uns etwa so fragte: Seid ihr nicht immer noch zu selbstgenügsam? Würdet ihr wirklich in den drei Nägeln an der Wand den Gekreuzigten erkennen oder in den Trümmersteinen die ganze Kirche? Verlasst ihr euch nicht immer noch zu sehr darauf, gebraucht zu werden und durch das Staatskirchenrecht geschützt zu sein? Seid ihr nicht - trotz allem diakonischen Einsatz und obwohl ihr den Finger oft früher als andere in die Wunde legt und gangbare Lösungen zur Überwindung sozialer Schieflagen anbietet - viel zu kompromissbereit? Könntet ihr, die ihr euch um neue finanzielle Standbeine kümmert, euch auch vorstellen, euch nur aus eigenen Mitteln finanzieren und mit mächtig viel weniger auskommen zu müssen? Warum musstest du, könnte er mich persönlich fragen, unbedingt einen Beruf in der Kirche haben, statt in deinem ursprünglich erlernten Beruf dein Christsein zu leben? Warum sind eure Pastorinnen und Pastoren nicht im Hauptberuf Bäckereifachverkäuferinnen (sie wissen um das, was nährt) oder Taxifahrer (sie kennen die Wege und Kreuzungen), die Diakone und Diakoninnen Lehrer, Erzieher oder Berufsberater (die kennen die jungen Leute und - hoffentlich - wie es ist, wenn man Arbeit sucht), die Personaldezernentin Vorsitzende eines Betriebsrats (wegen der Übung im Umgang mit Menschen), der Präsident des Landeskirchenamtes - oder was an kirchlicher Leitung und Verwaltung nötig sein wird - Justitiar eines anderen großen Non-Profit-Unternehmens (der weiß etwas von Finanzen und vom Recht: auch die Kirche lebt ja unter den harten Bedingungen des Diesseits), die Bischöfin Vorstand - Oder wäre das schon zu angepasst? - eines weltweit operierenden Unternehmens, in dem sie sich für die Fair-Trade-Regeln einsetzt (sie hat Menschenkenntnis und dazu internationale Kontakte)?
Helmut Gollwitzer hatte Recht: „Laodizea - das sind wir.“

Deshalb: Welche Alternativen auch immer tragfähig und zu ergreifen sein werden, es kommt darauf an, wie wir „Kirche der Freiheit“ sind und die derzeitige Freiheit nutzen: Bereit und in der Lage, mitten im Reichtum Bettler zu sein und eine Option für alle, die seelische oder leibliche Not leiden, zu leben? Alles kommt darauf an, die wirkliche Lebensalternative bei uns selbst zum Tragen kommen zu lassen, die Johannes als Christuswort ausspricht: „Siehe, ich stehe vor der Tür und klopfe an. Wenn jemand meine Stimme hören wird und die Tür auftun, zu dem werde ich hineingehen und das Abendmahl mit ihm halten und er mit mir.“

Alles kommt darauf an, das wahre Lebensangebot wahrzunehmen, wodurch Christus uns vor Verschlossenheit und Verschüttetwerden bewahren will und das er uns ankündigt mit seinem Klopfzeichen. Amen.

Hans Joachim Schliep
Pastor am Ev. Kirchenzentrum
Kronsberg in Hannover (EXPO-Neubaugebiet)
E-Mail: Hans-Joachim.Schliep@evlka.de


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