Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, J. Neukirch, C. Dinkel, I. Karle

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Letzter Sonntag des Kirchenjahres, Ewigkeitssonntag, 26. November 2006
Predigt zu Jesaja 65, 17-19.23-25 verfaßt von Berthold Köber
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Das Bild über dem Trümmerfeld

17 Denn so spricht der HERR: „Siehe, ich will einen neuen Himmel und eine neue Erde schaffen, daß man der vorigen nicht mehr gedenken und sie nicht mehr zu Herzen nehmen wird.“ 18 Freuet euch und seid fröhlich immerdar über das, was ich schaffe. Denn siehe, ich will Jerusalem zur Wonne machen und sein Volk zur Freude, 19 und ich will fröhlich sein über Jerusalem und mich freuen über mein Volk. Man soll in ihm nicht mehr hören die Stimme des Weinens noch die Stimme des Klagens.

23 Sie sollen nicht umsonst arbeiten und keine Kinder für einen frühen Tod zeugen; denn sie sind das Geschlecht der Gesegneten des HERRN, und ihre Nachkommen sind bei ihnen.

24Und es soll geschehen: „Ehe sie rufen, will ich antworten; wenn sie noch reden, will ich hören. 25 Wolf und Schaf sollen beieinander weiden; der Löwe wird Stroh fressen wie das Rind, aber die Schlange muß Erde fressen. Sie werden weder Bosheit noch Schaden tun auf meinem ganzen heiligen Berge, spricht der HERR.

I.

Das junge Paar hatte sich auf seiner Heimreise auf seine neue, schön hergerichtete Wohnung gefreut. Als es sie fröhlich betrat, traute es seinen Augen nicht. Die Schränke waren umgestürzt, ihr Inhalt lag verstreut auf dem Fußboden, Gläser und Porzellan zerbrochen, vermischt mit Mörtel und Ziegelstücken von der Zimmerdecke und den Wänden, die teilweise eingestürzt waren. Die Fensterscheiben waren zersplittert, die Töpfe mit den schönen blühenden Blumen lagen zerschmettert unten. Nichts war mehr ganz. Die mit viel Mühe und Aufwand und mit Freude eingerichtete Wohnung glich einem einzigen Trümmerfeld. Auf der Fahrt hatten sie das Erdbeben nicht wahrgenommen, das stattgefunden hatte. - Zunächst stummes, lähmendes Entsetzen, dann Tränen und Trauer und Verzweiflung, ob das alles noch Sinn mache. Doch dann beginnen sie, sich an die Arbeit zu machen. Was tut er als erstes? Er nimmt das heruntergefallene Bild und hängt es an die eine noch heile Wand. Ein bunt blühender Blumenstrauß…

Ein wunderbares Bild über einem Trümmerfeld - das sind auch die Worte des Propheten, die wir gehört haben. In ihrer langen schrecklichen babylonischen Gefangenschaft hatten sich die Israeliten nichts sehnlicher gewünscht, als in ihre Heimat zurückzukehren. Sie hatten nie aufgehört, davon zu träumen; in den schönsten Farben ihrer Phantasie hatten sie sich das alles ausgemalt: Den prächtigen Tempel, die wunderbare Stadt, die schönen Häuser, die fruchtbaren Weingärten, keine Angst und Bedrohung, ein Leben in Freiheit und Würde. Das hatte ihnen geholfen, trotz aller düsteren Zukunftsperspektiven die Hoffnung auf Befreiung nicht aufzugeben, die Kraft, trotz allen Unrechts durchzuhalten.

Und wie bot sich ihnen nun die ersehnte Heimat dar? Der Tempel war zerstört, die Häuser verfallen, die Weinberge verwüstet, das Land verwahrlost. Entbehrungen, Hunger und Not, Verzweiflung und Tod - das war die Wirklichkeit, die sie erwartete, das Gegenteil von ihren Träumen und Hoffnungen. Machte es da überhaupt Sinn, Häuser zu bauen, Weinreben zu pflanzen, Kinder in die Welt zu setzen? Für wen das alles, wenn es keine Zukunft gab? Die Euphorie wich einer tiefen, tödlichen Resignation. Ein einziges Trümmerfeld, äußerlich wie auch innerlich. Wo war denn Gott? Warum schwieg er?

Trümmerfelder - die kennen wir auch. Unser ganzes Land war ein einziges Trümmerfeld. Das ist es - Gott sei Dank - lange nicht mehr. Aber es ist unsere Seele, die oft einem solchen Trümmerfeld gleicht. Der Partner - einem Herzinfarkt erlegen, in den schönsten Jahren, wo man noch so viel vorhatte. Die Mutter, die die Kinder so sehr gebraucht hätten - Opfer eines Verkehrsunfalls. Das mit Freuden erwartete Kind - unheilbar krank. Der Tod reißt immer neue, schmerzvolle Lücken auf, die sich nicht mehr schließen. Wir gedenken am heutigen Ewigkeitssonntag aller unserer Lieben, die wir hergeben mussten, die viel zu früh von uns gegangen sind. Wir sind von Schmerz und Trauer erfüllt. Warum hat Gott es zugelassen? Warum hat er nicht eingegriffen? Warum hat er uns allein gelassen? Die Gräber, die wir besucht und auf die wir Blumen gelegt haben, schweigen.

Unsere Seele - ein Trümmerfeld. Nach der zerbrochenen Beziehung und plötzlichen Trennung. Nach der 67. erfolgslosen Bewerbung. Nach der Entlassung in die Arbeitslosigkeit. Nach dem schweren Unfall. Nach der Krebsdiagnose. Nach dem langen Krankenhausaufenthalt. Nach dem Schlaganfall… Trümmer unserer Träume, unserer Vorhaben, unserer Hoffnungen, unserer Bemühungen. Trümmer geben keine Antwort auf unsere stummen oder ausgesprochenen Fragen. Sie ergeben auch keinen Sinn. Aus ihnen lässt sich keine Zukunft bauen. Das Trümmerfeld - es ist ein Zeichen von Sinnlosigkeit.

II.

Die Worte des Propheten - sie sind ein wunderbares Bild über dem Trümmerfeld. Durch ihn spricht Gott selbst zu diesen traurigen, resignierten Menschen. „Siehe…“ Gleich zweimal ruft er die Menschen auf, ihre Blicke zu erheben und sich dem zu öffnen, was Gott ihnen zu sagen hat. Siehe. Durch dieses Wort kündigt Gott in der Bibel meistens an, dass etwas Unerwartetes und ganz Bedeutsames geschieht. Siehe, dein König kommt zu dir, ein Gerechter und ein Helfer- die frohe Botschaft des Advent. Siehe, ich verkündige euch große Freude - das Weihnachtsevangelium.

Von einem neuen Himmel und einer neuen Erde ist hier die Rede. Gott selbst will sie schaffen. Das Alte, das Trennende und Belastende, die Vergangenheit wird nicht mehr sein. Anstelle des Trümmerfelds schafft Gott eine neue, heile Welt, ein neues Paradies. Darin wird es kein Weinen und Klagen, keine Schmerzen und keine Trauer mehr geben, kein vergebliches Bauen von Häusern, die sich dann andere aneignen, kein vergebliches Pflanzen, dessen Früchte andere genießen, kein vorzeitiges Sterben und Abschied nehmen müssen. Auch zwischen den Tieren in der Natur wird es keine Feindschaft mehr geben.

Messianischer Friede wird die Erde erfüllen, bei dem Wichtigste dieses ist: Die zerstörte Gottesbeziehung wird wieder heil werden. Gott wird nicht schweigen, sondern er wird den Menschen antworten, noch ehe sie fragen. Er wird für die Menschen da sein. Sie werden sich nicht mehr als von Gott verlassen oder verstoßen vorkommen, sondern sie und ihre Nachkommen werden Gesegnete des Herrn sein. Das alles wird Gott schaffen, er allein.

Es ist ein wunderbares Bild über dem Trümmerfeld, ein Bild, das das Trümmerfeld vergessen lassen kann. Es ist ein Gegenbild zur Wirklichkeit, mit dem gegen das Trümmerfeld protestiert wird, ein Gegenentwurf zur Wirklichkeit. Aus diesem Bild spricht die Freude. Gott möchte damit Freude schaffen für seine Menschen und ruft sie dazu auf. Das Bild zeigt, wie Gott die Welt und die Menschen haben möchte. Und er selbst möchte sich auch freuen über seine Erde und sein Volk. Es ist das Bild einer neuen und heilen Welt. Dabei fällt auf, dass hier eine radikale und reale Verwandlung dieser Welt verkündigt wird, nicht eine völlig andere, jenseitige Welt.

Auf dieses Bild sollen die klagenden, trauernden, resignierten Menschen sehen, wie das Ehepaar in der durch das Erdbeben zerstörten Wohnung. Es soll sie trösten und ihnen Mut und Kraft, Hoffnung und Zuversicht auf die Zukunft und auf neues, erfülltes, sinnvolles Leben geben. Es soll sie der Nähe Gottes gewiss werden lassen.

Hat diese Heilszusage Gottes die Menschen damals wirklich getröstet und neu aufgerichtet? Hat sie ihnen Kraft zum Durchhalten gegeben? Ist diese Zusage wirklich in Erfüllung gegangen?

III.

Es ist tatsächlich geschehen, dass Trauernde und Weinende getröstet wurden. Im Jugendalter Verstorbene sind auferweckt worden. Kranken wurden die Schmerzen genommen und geheilt, Leidenden wurde geholfen, Hungrige wurden gesättigt, belastende Vergangenheit und Schuld wurde vergeben, Einsamen wurde Gemeinschaft geschenkt, Resignierten und Hoffnungslosen wurde neue Zukunft gegeben. Damit erhielt ihrer aller Leben neuen Sinn und Freude.

Und sie alle durften erfahren: Gott ist uns nahe, er ist bei uns. Er hat zu uns gesprochen und wir können mit ihm sprechen. Er hat unser Leben geteilt. Unsere Sorgen und Nöte hat er selbst kennengelernt, unsere Leiden erlitten, unsere Einsamkeit und Verlassenheit durchgestanden, die Macht des Bösen am eigenen Leibe erfahren, unsere Ohnmacht und unser Preisgegebensein durchkostet und ist sogar unseren Tod gestorben.

So hat Gott in Jesus Christus gehandelt. In seinem Leben und Wirken, Leiden, Sterben und Auferstehen hat Gott die neue Welt zeichenhaft Wirklichkeit werden lassen, die Welt, wie Gott sie wollte. Daran erkennen wir, welches Gottes Wille und Absicht mit uns und mit seiner ganzen Schöpfung ist.

Das ist mehr als nur ein schönes Bild über dem Elend dieser Welt. Es ist ein Vor-Zeichen eines realen Geschehens, des machtvollen Eingreifens Gottes, des Kommens seines Reiches. In ihm wird es keine Sorgen und Ängste, keine Trennungen und Verletzungen, kein Leid und Elend, kein Abschied-nehmen-müssen und Sterben, keine Tränen und Trauer, keine Verzweiflung und Resignation mehr geben. Das Trümmerfeld unserer Existenz wird verwandelt werden in eine neue Welt. Es ist eine heile Welt, eine Welt der Freude und Friedens zwischen Gott und den Menschen und zwischen seinen Geschöpfen.

IV.

Das alles klingt schön und wunderbar, fast zu schön, um wahr zu sein. Ist das eine nicht eine längst vergangene Vergangenheit, die mehr als 2000 Jahre zurück liegt? Und ist das andere nicht Zukunftsmusik, die auf eine bessere Zeit, auf ein paradiesisches Jenseits vertröstet, aber nicht wirklich hier und heute hilft? Ein Vorwurf, der den Christen immer wieder gemacht wurde und wird, ein Ablenkungsmanöver von den Problemen der Gegenwart?!

Wir werden zum Sehen aufgefordert. Und das heißt, nicht nur auf das gegenwärtige Leid und Elend sehen, sondern auch auf die Frau, die in einem Verkehrsunfall ihren Mann und ihren erwachsenen Sohn und dadurch den Sinn ihres Lebens verlor - und daran doch nicht zerbrach. Sehen - auch die alte, vereinsamte Frau im Altenheim, von ihren Kindern vergessen und Freunden verlassen - und die nicht in Selbstmitleid und Verbitterung versank. Sehen - auch den wenige Jahre vor seiner Rente entlassenen Arbeitslosen, für den die Welt zu zerbrechen schien und der daran nicht kaputt ging. Sehen…

Wir sehen, dass auch heute Menschen Freude im Leid erfahren, Trost in der Trauer, Stärkung in der Ohnmacht, Ermutigung in der Resignation, Durchhilfe im Verlassensein, Zuversicht in aller Aussichtslosigkeit, Neuorientierung in aller Sinnlosigkeit. Sonst gäbe es in dieser Welt nur noch hoffnungslos und rettungslos verzweifelte, trauernde, mutlose, verbitterte und resignierte Menschen.

Wir sehen darin den Anbruch der neuen Welt Gottes schon hier in unserer Welt und in unserem Leben - zeichenhaft und nur dem Glauben erkennbar und dennoch real und erfahrbar. Das bestärkt uns in unserer Gewissheit, dass diese neue Welt Gottes nicht Vertröstung, nicht ein nie in Erfüllung gehender Wunschtraum oder Illusion ist, sondern Wirklichkeit werden wird. Das Wichtigste dabei ist aber, dass es der lebendige Herr selbst ist, damit alle seine Verheißungen in unvorstellbarer, wunderbarer Weise erfüllen wird - indem er selbst kommt.

Prof. Dr. Berthold Köber, Köln
E-Mail: bwkoeber@gmx.de

 


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