Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, J. Neukirch, C. Dinkel, I. Karle

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Letzter Sonntag des Kirchenjahres, Ewigkeitssonntag, 26. November 2006
Predigt zu Philipper 1, 21-26, verfaßt von Karin Klement
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Liebe Angehörige unserer Verstorbenen!
Liebe Gemeinde!
Wie Menschen trauern, geschieht genauso individuell und unterschiedlich, wie sie ihr Leben leben. Sie werden in eine Situation hineingeworfen, die sie in der Theorie kennen, doch in der Praxis erst noch er-leben, ja durchleiden müssen. Und jeder Mensch wird dabei auf sich selbst zurückgeworfen – auf die persönlichen Ressourcen: Eigene Stärken oder die Liebe und Kräfte seiner Mitmenschen, die ihn begleiten und stützen. Er hat nicht freiwillig diese Situation gesucht oder ausgewählt; er wurde gefangen – vom Schicksal (wie es manche nennen), durch Zufall, naturgegeben oder auch – von Gott. Gefangen in den eigenen, schmerzenden Gedanken, im Fragen nach dem letzten Warum, auf das es keine Antwort gibt. Wirbelnde Erinnerungen strömen durch seine Gedanken, Bilder, die das Herz bluten lassen.
Menschen in Trauer sind oftmals gefangen in einem Schmerz, der nicht aufzuhören scheint; der manchmal vergeht in der alltäglichen Beanspruchung, um doch intensiv und gewaltig wie eine Welle wieder zurückzurollen.
Jeder Mensch trauert auf seine persönliche Weise; dennoch gibt es auch Gemeinsames: Phasen von Trauer und Abschied, die in ähnlicher Weise von allen durchlebt werden müssen. Die Ärztin (Psychiaterin) , Dr. Elisabeth Kübler-Ross, erforschte solche seelischen Abläufe in den 60er Jahren anhand ihrer „Interviews mit Sterbenden“. Ihr Werk wurde zur Grundlage für unsere heutigen Erkenntnisse über den Umgang mit Sterbenden und Trauerarbeit. Der Rückzug von der Realität, das Nicht-wahr-haben-wollen und Sich-Einigeln jener Menschen, die so abrupt oder auch schleichend vom Tod berührt werden. Aufbegehren und Zorn gegenüber allen anderen, die weiterleben dürfen, können in einem Menschen aufbrechen, der sich wie zum Tode verurteilt fühlt. Eine kurze Phase der Verhandlung schließt sich an; bevor nach einer tiefen Phase der Depression und Verzweiflung die Realität des Todes endlich an- und wahrgenommen wird. In Zustimmung und Hoffnung! Ein langer Trauerprozess kann so entstehen; und wenn es gut geht, mündet er ein in die Bereitschaft, ein Menschenleben freizugeben, loszulassen.

Sie alle, liebe Trauernde, kennen sicher solche Zeiten und haben sie auf Ihre Weise bewältigt. Sie sind darin reifer geworden, lebens-erfahrener. Und manches Leid tragen Sie vielleicht noch in Ihrer Seele, verborgen unter dem Deckmantel des Alltags.
Sie spürten den Tod eines geliebten Menschen an sich vorüber streifen wie einen eisigen Windhauch – und hoffentlich zugleich auch den wärmenden Schutzmantel von Geborgenheit in Familie oder bei Freunden. Der Verlust eines Menschen traf Sie auf unterschiedliche Weisen: erschreckend abrupt, wie ein Blitzschlag aus heiterem Himmel durch Krankheiten oder Unfälle; oder auch vorbereitet, dankbar für ein hohes Alter, das dem geliebten Mitmenschen geschenkt wurde. Vielleicht empfinden Sie noch immer eine brennende Sehnsucht nach der Person, die Ihnen so lange und so innig vertraut war. Vielleicht konnten Sie aber auch schon loslassen; den Menschen, der Ihnen lieb und wichtig ist, gehen lassen, weil Sie längst spüren, dass die Gemeinschaft mit ihm nicht aufgehoben ist. Sie tragen ihn in sich. So wie Gott uns alle in sich trägt, mit unseren Namen in Seinen Gedanken. Es bleibt unsere menschliche Aufgabe, den Tod in unser Leben einzubinden und das Leben mit seinen Aufgaben jeden Tag neu zu vollenden.

Vielleicht ist PAULUS sogar noch einen Schritt weiter in seiner „Trauerarbeit“, als die fünf Genannten. Hin- und hergerissen zwischen Todessehnsucht als Akt seiner Befreiung und Lebensnotwendigkeit als sinnvolle Hilfe für andere, schreibt er einen offenen, ungeschminkt ehrlichen Brief an seine Mitchristen in Philippi. Er hält weder seine Todesgedanken zurück, noch seine Hoffnungen, denn er weiß, dass seine Freunde ihn mit Gebet und Sympathie tragen. Und so ringt er sich durch, aus seiner Zustimmung in den Tod in die Zustimmung zum Weiterleben.
Hören wir, was der Apostel und Missionar PAULUS im ersten Kapitel seines Philipperbriefes schreibt:
„Christus ist mein Leben, und Sterben ist mein Gewinn! Wenn ich aber weiterleben soll im Fleisch, so dient mir das dazu, mehr Frucht zu schaffen; und so weiß ich nicht, was ich wählen soll.
Denn es setzt mir beides hart zu: ich habe Lust aus der Welt zu scheiden und bei Christus zu sein, was auch viel besser wäre! Aber es ist nötiger, im Fleisch zu bleiben um euretwillen.
Und in solcher Zuversicht weiß ich, dass ich bleiben und bei euch allen sein werde, euch zur Förderung und zur Freude im Glauben. Damit euer Rühmen in Christus Jesus größer werde durch mich, wenn ich wieder zu euch komme.“

Wieviele körperliche und seelische Lasten kann ein Mensch ertragen, bevor er daran zerbricht? Für Paulus ist dieses irdische Leben schier unerträglich geworden. Sein mutiges, öffentliches Predigen, die Christusbotschaft, die er verkündet, brachte ihn schon mehrfach ins Gefängnis. Und jetzt wieder. Erneut ist er körperlichen Misshandlungen ausgesetzt, mit Todesstrafe bedroht und einem ungewissen Ausgang seiner Verhandlung – so kann und will er nicht weiterleben! Er spürt die Grenzen seiner Kraft und hat Lust „aus dieser Welt zu scheiden“. Den Tod fürchtet er nicht. Dazu verbindet ihn sein Glaube inniglich und unzertrennbar mit dem, der ihm durch das Sterben vorausgegangen ist. Seine Beziehung zu Christus trägt ihn, im Diesseits und Jenseits, auch über die Schwelle des Todes. Paulus erscheint mir im Diesseits lebens-müde und lebens-satt. Er hat genug ausgehalten und möchte sich ausruhen, dort, wo er sich glücklich weiß: In unmittelbarer Nähe, an der Seite seines HERRN und HEILANDS. Indem er offen und ehrlich seinen Freunden mitteilt, welche Gedanken ihn umtreiben, spürt er zugleich, dass ihm auch die Beziehung zu seinen Mitchristen wichtig ist. Er hat eine Aufgabe ihnen gegenüber zu erfüllen; er trägt Verantwortung, gerade weil er Christus predigt und IHM nahe sein will. Die mitmenschliche Gemeinschaft wird zum Symbol für das, was Christus ihm verspricht und schenken wird: Unbegrenzte Nähe und Geborgenheit. Paulus hat sich vom Tod zum Leben durchgerungen; denn für ihn ist Christus auf beiden Seiten der HERR.

Es ist nicht einfach, sich in Gefangenschaft frei zu fühlen. Weder, wenn man von Trauer und Schmerz festgehalten und „eingesperrt“ ist. Noch, wenn man von äußeren Katastrophen oder inneren Krisen wie gelähmt und gefesselt wird. Doch was immer auch mit uns geschieht, es bleibt notwendig, darüber zu sprechen. Worte zu finden, die unsere eigenen stockenden Gedanken in fließende Bahnen gießen. Dann brechen äußere Begrenzungen auf, ein frischer Geist weht Freiheit und Geborgenheit hinein, wo vorher nur die Enge der Angst die Luft abzuschnüren drohte.
Paulus gibt uns ein Beispiel, wie Menschen zwischen Todessehnsucht und sinnvoller Lebensnotwendigkeit ihren Standort finden können. Er redet und schreibt, was ihm auf der Seele liegt, und Christus ist sein Therapeut, der ihm dazu „dient“, den Sinn seines Lebens, seine Aufgabe wiederzufinden.

Was aber, wenn das Gefängnis einer depressiven Trauer so einengend und niederdrückend ist, dass kein gnädiger, göttlicher Lichtfunke einen Hoffnungsschimmer hineinzutragen vermag? Ein Jugendlicher trauert um den Verlust seines Lieblingsonkels schon seit etwa acht Jahren. Die Trauer von damals wurde nicht verarbeitet; und der Verlust schmerzt zeichenhaft auch für alle anderen, nachfolgenden leidvollen Erfahrungen. Längst kann der junge Mann die Trauer nicht mehr hergeben; wer weiß, was sonst noch darunter aufbrechen, aus-brechen könnte? Was ihn letztlich davon abhält, sich umzubringen, sind die Freunde, die ihn immer wieder mitnehmen; die ihn nicht im Stich lassen, vielmehr herausfordern. Die etwas von ihm wollen: dass er für sie da ist; dass er mit ihnen Fußball trainiert oder Computerspiele ausprobiert; dass er mit ihnen streitet, lacht und weint; und dass er nie vergisst, dass sie ihn brauchen. Genauso wie JESUS ihn braucht hier auf dieser Erde mit all seinen schmerzlichen Erfahrungen, mit seiner Niedergeschlagenheit, die ihn sensibel macht für seine Mitmenschen und ihre Nöte. Eine neue Lebens-Aufgabe wird ihm zuteil: aufmerksam hinzuhören, wenn ein Mitmensch klagt und leidet; aus seinen eigenen Lebenserfahrungen heraus ein Sympathisant zu werden, ein Mit-Leidender, ein Mit-Fühlender.

Paulus ist sich der Sympathie seiner Freunde in Philippi bewusst. Das stärkt seine Gewissheit noch in diesem Leben bei ihnen nötig zu sein, von ihnen gebraucht zu werden. Für ihn sind Leben und Tod keine trennenden, unüberbrückbaren Gegensätze. Vielmehr sind sie verbunden durch den, der lebte und starb und von den Toten auferstand, weil Gott es so wollte. Wie ein Regenbogen das nachtblaue, unergründlich-tiefe Meer der Zeit überspannt und das Land diesseits und jenseits der Tiefe miteinander verbindet, so spannt der lebendige Christus seinen Lebensbogen über den tiefdunklen Tod. Von jetzt an gilt, „ob wir leben oder sterben, sind wir des HERRN. Denn dazu ist Christus gestorben und wieder lebendig geworden, dass er über Tote und Lebende HERR sei.“ Am Kreuz breitet Christus seine Arme aus, als ob er Lebende und Tote umfangen will. Mit dieser Geste des Segens erwartet er uns auf beiden Seiten: Wenn wir das Licht der Welt erblicken, und wenn wir unsere Augen zum letzten Mal schließen.
Dieser Gedanke erfüllt Paulus mit großer Sehnsucht, mit Lust und Vorfreude auf die Gemeinschaft hier in dieser Welt und jenseits in einer Welt ohne alle irdischen Beschränkungen. Der Glaube an und das Vertrauen in den lebendigen Christus setzt Beziehungen frei, knüpft Verbindungen, schafft Gemeinschaft mit Gott und unter uns Menschen. Sogar mit jenen, die nicht mehr in dieser Welt leben. So werden zerrissene Fäden wieder verknüpft, schmerzlich getrennte Wege führen zu ein- und demselben Ziel.
Wer sich dem Gedanken an den Tod gestellt hat, muss ihn nicht mehr fürchten. Er bleibt eine Grenze, über die uns der Glaube an Christus mit einander verbindet. Und dann können wir beides sehnsuchtsvoll genießen: Die Vorfreude auf das Leben bei Christus, genauso wie den alltäglichen Kleinkram, der uns hier mit Lust und Frust beschäftigt.
Wie sagte eine alte Pfarrersfrau an ihrem 85. Geburtstag: „Eigentlich müsste ich jetzt ja – als gute Christin und noch dazu in meinem Alter – etwas mehr Sehnsucht nach dem Himmel haben. Aber ich leb` halt so gern auf dieser Erde!“
AMEN


Pastorin Karin Klement
Lange Straße 42
37077 Göttingen
email: karin.klement.@evlka.de




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