Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, J. Neukirch, C. Dinkel, I. Karle

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Letzter Sonntag des Kirchenjahres, Ewigkeitssonntag, 26. November 2006
Predigt zu Philipper 1, 21-26, verfaßt von Reinhold Mokrosch
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


„Welche Einstellung haben wir zu unserem Tod?“

Liebe Gottesdienstbesucher, liebe Gemeinde!

Der grauenhafte Amoklauf des 18jährigen ehemaligen Realschülers Sebastian B. in Emsdetten / Münsterland hat uns tief erschüttert und ratlos gemacht. Ein offenbar vereinsamter und isolierter Jugendlicher suchte den Tod statt das Leben – allein! Er wollte, wie er im Internet schrieb, aus Rache an seiner ehemaligen Schule Lehrer und Schüler mit in den Tod reißen – allein! Seit zwei Jahren hatte er ein perfektes Tötungsarsenal aufgebaut – allein! Er hatte jahrelang tötungsverherrlichende Videos gesehen und produziert – allein! Und er hatte wirklich zugeschlagen – allein! Er hat aus Lebensfrust sich selbst getötet und wollte anonyme Andere töten – allein. Tod und Töten waren für ihn die einzige Alternative zum Leben. Zwischen Volkstrauertag und Totensonntag.

Liebe Gottesdienstbesucher! Mit diesem Erlebnis in den Knochen las ich am vergangenen Montag Abend unseren Predigt – Text aus Phil. 1, 21-26. Ich erschrak furchtbar. Ich sage Ihnen noch nicht warum. Ich möchte zunächst auch Ihnen den Text vorlesen:

(Verlesung des Predigt – Textes Phil 1, 21 – 26)

Sie verstehen meinen Schrecken: Auch Paulus gesteht: „Ich habe Lust, aus der Welt zu scheiden.“ Ja, er schrieb sogar: „Sterben ist mein Gewinn.“ Klingt das nicht ähnlich wie bei dem 18jährigen Amokläufer Sebastian B.? Natürlich nicht! Das wissen wir alle. Ja, ich muss mich entschuldigen, dass ich überhaupt einen solchen Vergleich erwogen habe. Er kam mir nur unter dem Schock von Emsdetten. Auch der 18jährige Sebastian wollte aus dem Leben scheiden. Und wahrscheinlich sah er seinen Tod auch als Gewinn an. Trotzdem: Der Vergleich ist barer Unsinn!

Natürlich ist Paulus’ Situation total anders gewesen: Er saß in Ephesus im Gefängnis, richtig angekettet. Und er wusste nicht, ob er zum Tode verurteilt oder freigelassen würde. Wir heute wissen, das er noch einmal davon gekommen ist. Aber er wusste das damals noch nicht. Deshalb sind seine Worte angesichts seiner möglichen Ermordung so bewegend: „Ich bin bereit zu sterben“, bekannte er, „weil ich überzeugt bin, dass ich dann mit Christus sterben und bei Christus sein werde.“ Dieser unerschütterliche Glaube ließ ihn sogar sagen: „Solches Sterben und Ermordetwerden ist mir ein Gewinn. Ja, ich bin bereit und habe Lust, so zu sterben.“

Also – ist Paulus ein Märtyrer gewesen? Nein! Von Martyriumssehnsucht kann bei ihm überhaupt keine Rede sein. Er redete hier weder vom Suizid noch hatte er den Wunsch, zum Tode verurteilt zu werden. Im Gegenteil: Er hielt es ja für besser, wie er schrieb, weiter zu leben und das Evangelium von Jesus Christus weiter zu verkündigen. Märtyrer wollte er nicht sein. Aber er war, wenn er denn zum Tode verurteilt werden sollte, bereit zu sterben.

Also doch ein Märtyrer? Nein! Denn er schrieb ja: „Christus ist mein Leben!“ D.h.: Nicht erst nach dem Tod, sondern schon mitten im Leben fühlte er sich mit Christus verbunden. Das kommt noch deutlicher in dem Vers vor unserem Predigt – Text zum Ausdruck. Denn dort heißt es: „Ich hoffe, dass Christus verherrlicht wird an meinem Leib, sei es im Leben oder im Tod.“ (Phil 1,20) Er fühlte und glaubte sich mit Christus verbunden keineswegs erst nach dem Tod, sondern auch und erst recht im Leben. Deshalb hatte er überhaupt keine Todessehnsucht. Das unterschied ihn von jedem Märtyrer – damals und heute.

Das unterscheidet ihn natürlich auch total von dem 18jährigen Sebastian B. in Emsdetten, der aus Lebensfrust und Rachebedürfnis andere und sich töten wollte. Ich brauche dazu nichts weiter zu sagen. Der Vergleich spottet Hohn.

Aber er zeigt mir, dass wir vermutlich alle ein gänzlich anderes Verhältnis zum Tod haben als Paulus. Wieso? Für Paulus war es das Wichtigste, „in, mit und bei Christus zu sein“. Was bedeutete das für ihn? Ich möchte es folgendermaßen zusammenfassen: Wenn Paulus sich „bei Christus“ fühlte, dann fühlte er sich als „Neuer Mensch“: frei, unabhängig, versöhnt, sorgenlos, zufrieden, angstfrei und auch ohne Angst vor Sterben und Tod. Und diesen Zustand, den er als Lebender erlebt hatte, stellte er sich auch als Toter vor. Tot sein war für ihn nicht besser als Leben und Leben war für ihn nicht besser als Tot sein. In beiden Fällen glaubte er, mit Christus frei, angstlos, sorgenlos und zufrieden zu sein.

Ja, in der Tat: Paulus hatte ein gänzlich anderes Verhältnis zum Tod als wir – vermute ich! Können wir – besonders heute am Ewigkeits- bzw. Totensonntag – von ihm etwas lernen? Ist Paulus’ Einstellung zum Tod für uns erstrebenswert? Ich möchte mit einem klaren Ja antworten. Und ich möchte Sie auffordern zu überlegen, ob auch Sie diesem Ja folgen könnten.

Ich räume ein, dass viele von uns nicht so wie Paulus vor 2000 Jahren von einem „Leben nach dem Tod“ reden können. Paulus lebte in der Antike, wir nicht. Wenn das also bei Ihnen so ist, dass Sie Paulus Glaube an ein Leben nach dem Tod so nicht übernehmen können, dann bitte ich Sie, die paulinische Vorstellung, dass wir nach dem Tod „bei Christus und Gott sein werden“ als Symbol aufzufassen. Ich sage nicht: „nur“ als Symbol. Ein Symbol ist und hat Realität. Ein Symbol hat Macht wie die Realität. Das Symbol des Ringes z.B. hält in Krisenzeiten oft eine Ehe zusammen. Ein Symbol ist stark. Und das Symbol „nach dem Tod bei Christus und Gott sein“ hat eine ungemein tröstende und angstbefreiende Kraft. Deshalb bitte ich Sie, zu überlegen, ob Sie an diesem Symbol festhalten können!

Zum anderen bitte ich Sie, auch noch die andere Erfahrung von Paulus zu bedenken. Paulus bekannte ja: So wie Christus mir im Leben beistand, so wird er mir auch im Tode beistehen. Und umgekehrt: So wie er mir im Tode beistehen wird, so wird er mir auch im Leben beistehen. Christus und Gott sind die Kontinuitäten zwischen mir als Lebendem und mir als Totem, sagt er. Ich finde diesen Gedanken großartig und enorm tröstend: Ob ich als Ich weiterleben werde, weiß ich nicht. Aber ich glaube, dass Christi und Gottes Geist meine Kontinuität sein wird.

Ich wäre Ihnen dankbar, liebe Gottesdienstbesucher, wenn Sie sich auch auf diesen Gedanken heute am Ewigkeits- und Totensonntag einlassen könnten: So wie wir uns in Leben bei Christus und Gott geborgen fühlen, so wird es auch nach unserem Tod sein. Wir werden in Christus und Gott ruhen. Und falls wir uns im Leben nicht von Christus und Gott geborgen fühlen, aber hoffen, dass wir nach dem Tod bei Gott sein werden, dann sollten wir auch unerschütterlich hoffen und suchen, ob uns Christus und Gott nicht doch im Leben beigestanden haben.

Solcher Glaube kennt keine Todessehnsucht. Erst recht nicht Rachebedürfnisse. Und solcher Glaube befreit auch von der Angst vor dem Sterben. Die meisten von uns würden ja sagen: Vor dem Tod habe ich keine Angst, aber vor dem Sterbepropzess. Auch vor solcher Angst kann der Glaube bewahren. Denn wir können gewiss sein, dass uns Christi und Gottes Geist beim Sterben beistehen werden, - auch wenn es schwer werden sollte.

„Christus ist mein Leben“, bekennt Paulus, „sowohl im Leben als auch im Tod!“ Ich wünschte, dass wir ihm diesen Satz nachsprechen könnten.

„Der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus.“ Amen.

Prof. Dr. Reinhold Mokrosch
Institut für Evangelische Theologie an der Universität Osnabrück
49069 Osnabrück
0541-682134
rmokrosc@uni-osnabrueck.de

 


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