Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: C. Dinkel und I. Karle

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Theologische Meditationen zur Passionszeit
Texte im Anschluß an Briefe, Gedichte und Reflexionen aus Dietrich Bonhoeffers „Widerstand und Ergebung“
Wolfgang Vögele über den Essay „Nach zehn Jahren“ (WEN 11-27)
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


„Nach zehn Jahren“: Bonhoeffers Gedanken über Tugend, Erfahrung und Lebensgeschichte

1. Erfahrung und Leben

Man muß damit rechnen, daß die meisten Menschen nur durch Erfahrungen am eigenen Leibe klug werden.“ In diesem nüchternen Satz des Theologen und Pfarrers Dietrich Bonhoeffer liegt eines seiner Geheimnisse verborgen. Wie wenige andere Theologen war Bonhoeffer in seinen Schriften, in seinen Predigten und Briefen in der Lage, Christenmenschen über ihre Lebens- und Alltagserfahrungen zum theologischen Nachdenken zu bringen. Er entdeckte die Frömmigkeit mitten in den Routinen des Alltagslebens. Und er pfropfte seine Erkenntnisse nicht anderen auf. Er brachte sie selbst zum Nachdenken. Er kannte sich nicht besser aus, sondern er weckte die Erkenntnis in anderen.

In seiner beharrlichen Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, mit seinem Glauben und seinen Zweifeln und nicht zuletzt mit sich selbst gelangte der in Tegel inhaftierte Briefschreiber Bonhoeffer zu einem ganz eigenen Stil theologischen Nachdenkens. Er war völlig frei von falscher Autorität und Aufdringlichkeit. Er wusste es nicht besser, und er musste nicht unbedingt recht haben. Es zeigt sich darin ein freundlich-pastoraler Zug in Bonhoeffers Denken, der in seinen Briefen und Essays beständig als Unter- und Grundton zu spüren ist.

2. 1933 und die Tugenden

Am Anfang von Bonhoeffers Sammlung von Gefängnisbriefen, „Widerstand und Ergebung“ steht der Essay „Nach zehn Jahren“ (*) , geschrieben in der Wende vom Jahr 1942 zu 1943, also zu einer Zeit, als Bonhoeffer noch gar nicht in der Haftanstalt Tegel inhaftiert war. Den Essay bezeichnete Bonhoeffer selbst im Untertitel als „Rechenschaft an der Wende zum Jahr 1943“.

In den Anmerkungen zu „Widerstand und Ergebung“ wird herausgestellt, daß ein Exemplar des Essays unter den Dachsparren des Bonhoefferschen Elternhauses in Charlottenburg aufbewahrt wurde. Im Falle von Hausdurchsuchungen sollte ihn die Gestapo nicht entdecken.

Was war das für ein Text?

Man kann vermuten, daß der Herausgeber Eberhard Bethge diesen Essay deshalb am Anfang von „Widerstand und Ergebung“ platzierte, weil er die Voraussetzungen zusammenfasst, die für das Verständnis von Bonhoeffers Gefängniszeit so wichtig sind. Bonhoeffer verdichtet in „Nach zehn Jahren“ die Erfahrungen von 10 Jahren Nationalsozialismus.

Jedoch rekapituliert er nicht dessen Terror-Geschichte, sondern er verfolgt eine ganz andere Methode. Er verdichtet die bedrückenden Erfahrungen des Kampfes gegen die Nationalsozialisten zu einer Tugendlehre des Widerstands. Er fragt nach den Haltungen des Alltags; so entstehen Fragmente einer Alltagsethik. Sie konzentriert sich auf eine Reihe entscheidender Begriffe:

Zivilcourage und Erfolg.
Gerechtigkeit gegen Menschenverachtung.
Vertrauen und Qualitätsgefühl.
Leiden und Mitleiden.
Gegenwart, Zukunft und Optimismus.
Gefahr und Ehrlichkeit.
Der Blick von unten.

Das sind Bonhoeffers wichtige Themen. Auf diese Liste von Tugenden und Gütern wirft er einen ethischen, einen theologischen, aber auch einen spirituellen Blick. Es geht, wie der Untertitel sagt, um Rechtfertigung, aber genau so auch um Habitusformen, um Haltungen und Prinzipien und um Ziele.

Tugenden gelten für Bonhoeffer nicht überzeitlich. Er beschreibt und reflektiert Tugenden, die wichtig werden mit der Erfahrung von zehn Jahren nationalsozialistischen Terrors im Rücken. Diese Erfahrungen haben in Bonhoeffers Blick die Menschen verändert, und sie haben die Tugenden und Haltungen verändert, die Bonhoeffer hochhalten will.

Leben und Ethik bedingen einander und verändern sich wechselseitig. Erfahrungen und Tugenden sind aufeinander bezogen. „Wir sind stumme Zeugen böser Taten gewesen, wir sind mit vielen Wassern gewaschen, wir haben die Künste der Verstellung und der mehrdeutigen Rede gelernt, wir sind durch Erfahrung misstrauisch gegen die Menschen geworden (...).“ Kein Wunder, daß Bonhoeffer die Frage stellt: „Sind wir noch brauchbar?“

Für Bonhoeffer tritt an die Stelle des Wegschauens der Blick von unten und das Eingreifen bei Gefahr und Leid anderer: „Tatenloses Abwarten und stumpfes Zuschauen sind keine christlichen Haltungen. Den Christen rufen nicht erst die Erfahrungen am eigenen Leibe, sondern die Erfahrungen am Leibe der Brüder, um derentwillen Christus gelitten hat, zur Tat und zum Mitleiden.“

Diese Verbindung von Erfahrungen und Tugenden ist es, welche die Lektüre von „Nach zehn Jahren“ noch heute so faszinierend macht.

Der Essay kann als historischer Text gelesen werden. Dann bezieht er sich auf Bonhoeffers Erfahrung im Nationalsozialismus. Und er kann als visionäre alltagsethische Tugendlehre des Christentums gelesen werden, die in der Gegenwart ihre Bedeutung nicht verloren hat. Zivilcourage, Ehrlichkeit und der Blick von unten sind heute noch aktuell.

3. Passion statt Heroismus

Handeln und Erleiden.
Dulden und Beobachten.
Sich beschränken, ohne tätig werden zu können.
Dem Rad in die Speichen fallen.

Passion in den vielfältigen Bedeutungen des Wortes ist das wichtigste Thema von „Nach zehn Jahren“. Bonhoeffer gibt Fragen auf.

Was kann ich tun? Was tun die anderen?
Was muß ich tun? Was müssen die anderen tun?
Was muß ich erdulden? Was erdulden die anderen?
Wogegen muß ich mich wehren? Wogegen wehren sich die anderen?
Wo leide ich mit? Wo leiden die anderen?

All das denkt Bonhoeffer nicht selbst-, sondern zukunftsbezogen: „Die letzte verantwortliche Frage ist nicht, wie ich mich heroisch aus der Affäre ziehe, sondern wie eine kommende Generation weiterleben soll.“

Passion ist die Erfahrung, im Nichthandeln zu handeln.
Passion ist der Untergang des Helden.
Passion ist das „freie Glaubenswagnis verantwortlicher Tat“.
Passion ist Zivilcourage.
Passion ist Verantwortung.
Passion ist die Erfahrung der Vergebung.
Passion ist Ent-Täuschung.

„Den Christen rufen nicht erst die Erfahrungen am eigenen Leibe, sondern die Erfahrungen am Leibe der Brüder, um derentwillen Christus gelitten hat, zur Tat und zum Mitleiden.“

4. Glaubensbekenntnis

Am wichtigsten und folgenreichsten ist eine kurze Passage aus „Nach zehn Jahren“ geworden, die vor allem als ein Glaubensbekenntnis Bonhoeffers verstanden wurde.

„Ich glaube, daß Gott aus allem, auch aus dem Bösesten, Gutes entstehen lassen kann und will. Dafür braucht er Menschen, die sich alle Dinge zum Besten dienen lassen. Ich glaube, daß Gott uns in jeder Notlage soviel Widerstandskraft geben will, wie wir brauchen. Aber er gibt sie nicht im voraus, damit wir uns nicht auf uns selbst, sondern allein auf ihn verlassen. In solchem Glauben müsste alle Angst vor der Zukunft überwunden sein. Ich glaube, daß auch unsere Fehler und Irrtümer nicht vergeblich sind, und daß es Gott nicht schwerer ist, mit ihnen fertig zu werden, als mit unseren vermeintlichen Guttaten. Ich glaube, daß Gott kein zeitloses Fatum ist, sondern daß er auf aufrichtige Gebete und verantwortliche Taten wartet und antwortet.“

Der cantus firmus dieser Zeilen ist das „Ich glaube“, gleichzeitig Überzeugung, Gewissheit, Vertrauen, Hoffnung. Gewissheit bleibt nicht unbestimmt, sondern sie zielt auf den wahren Gott, der die Wirklichkeit umgreift, auf den Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs.

Gott ist nicht das abstrakte Wesen, das die Kontingenz steuert, das wäre viel zu klein gedacht.
Gott ist der, der sich den Menschen zuwendet.

Dem cantus firmus an die Seite tritt eine zweite Hauptmelodie: Gott verändert die Menschen, die ängstlichen und die mutigen, die zweifelnden und die zaghaften, die bösen und die guten.

Gott läßt sich anrühren von den Ängsten und von der Furcht der Menschen.
Gott ist kein Moralapostel. Aus allem, wirklich aus allem, kann Gott etwas Gutes machen.
Die Menschen müssen nur dafür bereit sein, im Beten und auch im Handeln.
Gott will das Böse durch Gutes überwinden. Das ist das Thema der Passion: die Liebe auch in Abgründen entdecken.
Den Kleinglauben überwinden, daß Gott sich nur den „guten“ Christen zuwendet. Den Kleinglauben überwinden, daß Gott sich von den Fehlern der Menschen abschrecken läßt.
Den Kleinglauben überwinden, daß Gott auf unsere Gebete nicht reagiert.
„Ich glaube, daß Gott aus allem, auch aus dem Bösesten, Gutes entstehen lassen kann und will.“

Wer Gott als den Handelnden versteht, macht den Menschen nicht klein. Das ist eine der wesentlichen Einsichten, die Bonhoeffers theologisches Denken prägen. Wer Gott ganz ernst nimmt, muß sich nicht in fromme Innerlichkeit zurückziehen, ganz im Gegenteil. Er wird seinen Glauben in der Welt bewähren.

Gnade prägt den Menschen vor allem anderen. Sie macht ihn frei für Gebet und „verantwortliche Taten“ – in Widerstand und Ergebung, in Gnade und Handeln, in Aktion und Passion.

(*) Dietrich Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung. Neuausgabe, München 1977², 11-27.

PD Dr. Wolfgang Vögele
Mail: wolfgang.voegele@aktivanet.de


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