Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: C. Dinkel und I. Karle

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Theologische Meditationen zur Passionszeit
Texte im Anschluß an Briefe, Gedichte und Reflexionen aus Dietrich Bonhoeffers „Widerstand und Ergebung“
Predigtmeditation zu „Wer ist Gott?“, Reinhold Mokrosch

(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)

Predigtmeditation zu D. Bonhoeffers Überlegungen „Wer ist Gott?“, geschrieben am 3. August 1944 im Gefängnis Berlin – Tegel

Liebe Mitchristen in der Passionszeit 2006, kurz nach D. Bonhoeffers 100. Geburtstag!

Bitte versetzen Sie sich mit mir in folgende Lebenssituation D. Bonhoeffers: Der Morgen des 3. August 1944 war angebrochen. Bonhoeffer saß am Tisch in seiner engen Gefängniszelle in Berlin-Tegel. Er schrieb an seinen Lebensfreund Eberhardt Bethge, -vom Plan eines neuen Buches, das er schreiben wollte. Wie bitte, möchte man fragen? Ein neues Buch in diesen hoffnungslosen Tagen?

Die Situation war aussichtslos und die Hoffnung auf Überleben war geschwunden. Das Attentat auf Adolf Hitler und seine NS-Elite am 20. Juli war gescheitert. Graf Staufenberg und alle anderen Mittäter waren an Fleischerhaken erhängt worden. Bonhoeffer wusste das. Er wusste, dass die NS-Schergen jetzt verschärft nach weiteren Hintermännern dieses und der anderen Attentate forschen würden. Er wusste, dass sein Name – evtl. in den Zossener Akten seines Schwagers Hans von Dohnanyi – gefunden werden könnte. Er hatte entsprechend Angst, dass ihm Folter drohen könnte. Er hatte Angst, dass er im Verhör seine Freunde verraten müsste. Er hatte Angst, dass er in verschärfte Isolierhaft verlegt werden könnte. Und in dieser Situation plante er ein neues Buch?

Er war im Gefängnis stets „für andere da“. Aber er hatte auch höllische Angst um sich selbst. Am 9. Juli 1944, also 11 Tage vor dem Attentat vom 20. Juli, hatte er in einem Gedicht diese Diskrepanz zwischen seinem „Für andere da sein wollen“ und seiner „Angst um sich selbst“, die er auch vor dem Attentat gehabt hatte, geradezu heraus geschrien:

„Wer bin ich? Sie sagen mir oft,
ich träte aus meiner Zelle
gelassen und heiter und fest
wie ein Gutsherr aus seinem Schloss.

 Wer bin ich? Sie sagen mir oft,
ich spräche mit meinen Bewachern
frei und freundlich und klar,
als hätte ich zu gebieten…..

Bin ich das wirklich, was andere von mir sagen?
Oder bin ich nur das, was ich selbst von mir weiß?
Unruhig, sehnsüchtig, krank, wie ein Vogel im Käfig, ringend nach Lebensatem, als würgte mir einer die Kehle…..

Wer bin ich? Der eine oder jener?
Bin ich denn heute dieser und morgen ein anderer?
Bin ich beides zugleich? Vor Menschen ein Heuchler
Und vor mir selbst ein verächtlich wehleidiger Schwächling?
Oder gleicht, was in mir noch ist, dem geschlagenen Heer,
das in Unordnung weicht vor schon gewonnenem Sieg?

Wer bin ich? Einsames Schweigen treibt mit mir Spott.
Wer ich auch bin, Du kennst mich, Dein bin ich, o Gott!“

So sah Bonhoeffers Situation am 9. Juli 1944 aus. Jetzt am 3. August hatte sich alles nochmals verschärft. In der Nacht vom 2. auf den 3. August war das Gefängnis von den Alliierten bombardiert worden. Bonhoeffers Mitgefangenen hatten in ihren Zellen vor Angst geschrien. Dietrich hatte versucht, sie mit Klopfzeichen, Zusprüchen und Gebeten zu beruhigen. – Eine Flucht aus dem Gefängnis, die ihm mit Hilfe seines Gefängnis-Wärters Knobloch möglich gewesen wäre, hatte er im letzten Moment abgelehnt. Er hatte befürchtet, dass sein soeben verhafteter Bruder Klaus und sein Schwager Dohnanyi Nachteile erleiden könnten; wenn er fliehen würde. Die Nazis dachten stets in der Kategorie von Sippenhaft. Wieder hatte er „für andere“ entschieden und gelebt. Er wollte für die Mitgefangenen da sein und beruhigte sie auch in der Bombennacht.

Trotzdem – er selbst lebte in schlotternder Angst und dachte oft an Selbsttötung. Er war zwar bereit, „für andere“ zu sterben, aber er hatte Angst. Er war bereit, für diejenigen, die den Führer und die NS-Elite nicht zu töten wagten, als Attentäter schuldig zu werden. Er war bereit, das 5. Gebot „Du sollst nicht töten“ und Jesu Bergpredigtweisung „Widerstehe nicht dem Bösen“ (Mt 5, 39) zu brechen, um sie zu erfüllen. Er war bereit, für seine Schuld Strafe zu erleiden. Ja, er war, wie gesagt, bereit zu sterben. Aber trotzdem hatte er bittere Angst. Wie Jesus in Gethsemane.

Zwar hatte er im Angesicht eines möglichen Todesurteils in seinem ergreifenden Gedicht „Von guten Mächten“ zum Jahreswechsel 1944/1945 fest und standhaft bekannt:

„Und reichst Du uns den Kelch, den bittern,
des Leids, gefüllt bis an den höchsten Rand,
so nehmen wir ihn dankbar ohne Zittern
aus Deiner guten und geliebten Hand.“

Aber trotzdem zitterte er vor Angst. Und ich bin gewiss, dass er oft mit Jesu Worten gebetet hatte: „Mein Vater, ist es möglich, so gehe dieser Kelch an mir vorüber“ (Mt 26,39) und dass er sicherlich auch mit Jesus fort fuhr: „Aber nicht, wie ich will; sondern wie Du willst.“ Er war kein Passions-Heros! Wie Jesus! Er schrie und zitterte vor Angst. Wie Jesus. Aber er vertraute sich trotzdem Gott an und war zum Sterben bereit. Wie Jesus.

Er lebte eine Existenz „für andere“. Und als wohl erster protestantischer Ethiker war er überzeugt, dass derjenige, der „für andere“ Verantwortung zu übernehmen bereit war, auch bereit sein müsse schuldig zu werden und zu leiden. Das nannte er Nachfolge. Er selbst lebte in solcher Nachfolge.

Am 3. August 1944 nun schrieb er nach der langen Bombennacht an Eberhard Bethge, vom Plan seines Buches. Man kann es kaum fassen. Die Bomben wurden immer grauenhafter; das Todesurteil wurde immer wahrscheinlicher; der Untergang stand unmittelbar bevor. Und Dietrich plante ein neues Buch!

Ich denke spontan an M. Luthers Dictum: „Und wenn ich wüsste, dass morgen die Welt unterginge; so würde ich noch heute ein Apfelbäumchen pflanzen.“ Bomben und Tod waren für Bonhoeffer kein Ende, sondern, wie er im Augenblick seiner Todesverhaftung aufschrieb „für ihn der Anfang des Lebens“.

Er plante, in diesem Buch der Frage nachzugehen „Wer ist Gott?“ Und er schrieb in seiner Skizze an E. Bethge:

„Wer ist Gott? Nicht ein allgemeiner Gottesglaube an Gottes Allmacht etc…(Sondern) Begegnung mit Jesus Christus…Das „Für-andere-dasein“ Jesu ist die Transzendenzerfahrung! Aus der Freiheit von sich selbst, aus dem „Für-andere-dasein“ bis zum Tod entspringt erst die Allmacht, Allwissenheit, Allgegenwart. Glaube ist das Teilnehmen an diesem Sein Jesu. (Menschwerdung, Kreuz, Auferstehung) Unser Verhältnis zu Gott ist kein „religiöses“ zu einem denkbar höchsten, mächtigsten, besten Wesen – dies ist keine echt Transzendenz - , sondern unser Verhältnis zu Gott ist ein neues Leben im „Dasein-für-andere“, in der Teilnahme am Sein Jesu. Nicht die unendlichen, unerreichbaren Aufgaben, sondern der jeweils gegebene erreichbare Nächste ist das Transzendente. Gott in Menschengestalt!...... – „der Mensch für andere“! Darum der Gekreuzigte.“

 Er wollte also seine Erfahrungen des „Daseins-für-andere“ zu Papier bringen. Seine Sätze aus seiner Zelle waren und sind revolutionär: Gott sei nicht erkenn- und aussagbar als transzendenter, allmächtiger, allwissender Gott. Sondern er sei allein in Jesu Lebensweg „für andere“ erkennbar und glaubhaft. Noch mehr: Nur wenn wir teilnehmen an Jesu „Dasein-für-andere“, sei Gott „da“. Er existiere nur in der Praxis des „Daseins - für - andere“.

Führt das nicht zu einer ethischen Überbeanspruchung des Christen? Fördert Bonhoeffer nicht ein hyperaktives Helfersyndrom? Ist es wirklich sinnvoll, immer für andere da sein zu wollen? Ist ein so radikaler ethischer Altruismus nicht sehr einseitig? Und außerdem: Löst er nicht Theologie in Ethik und Glaube in Praxis auf? Wie oft fordern Kinder ihre Mütter auf: „Opfere dich doch nicht auf für andere! Denk doch mal an dich selbst! Genieße dein Dasein für dich!“ Und nun fordert Bonhoeffer zum Gegenteil, zum ausschließlichen Dasein-für-andere auf. Ist das nicht ein sinnwidriger Altruismus?

Der Vorwurf kann nicht eindeutig entkräftet werden, da man Bonhoeffer auch in diesem ethisch-altruistischen Sinn verstehen kann ohne ihn misszuverstehen. Aber zwei Gedanken nötigen m. E. zu einem anderen Verständnis: Zum einen betonte Bonhoeffer immer wieder, dass er mit „für andere“ „für alle“ meine. Ist das nicht noch überfordernder? Nein, denn es ging ihm darum, dass Kirchen und Christen sich - anders als alle anderen Gruppierungen - auch für Nichtchristen, Juden, Kommunisten, Sintis, Muslime usw. – eben „für alle“ einsetzen sollten. Sie sollten nicht für alles, aber für alle da sein. Entsprechend Jesu Gleichnis vom Barmherzigen Samariter sollten sie sensibel dafür werden, wer ihnen zum Nächsten würde und wer schutzlos vor ihren Füssen läge. „Für andere“ ist also nicht vorrangig ein Aufruf zum Altruismus. Sondern es ist der Aufruf zu einem Perspektivenwechsel: Engagiere dich nicht allein für deine Bekannten und Freunde, sondern auch für Unbekannte und Gegner!

Der zweite Gedanke betrifft die Kongruenz der Erfahrung des Daseins für andere und der Erfahrung der Transzendenz. Die Transzendenz ist für Bonhoeffer nicht das Jenseits, sondern der Nächste, der mir begegnet. Denn Gott ist, wie er sagte, „mitten im Diesseits jenseitig“. Gott sei mitten in der Welt. Er begegne im Nächsten, oft Unbekannten. Er sei kein jenseitiger, sondern ein diesseitiger, Mensch gewordener Gott.

Diese beiden Gedanken, dass Christen auch für „den gänzlich anderen“ da sein und „im anderen“ Gott erkennen sollten, bewahrt m. E. vor einem einseitigen Altruismus. Bonhoeffer wollte kein Helfersyndrom aufrichten, sondern für die Erkenntnis Gottes mitten im Alltag im gänzlich anderen werben.

Unter dieser Perspektive konnte er am 21. Juli 1944, einen Tag nach dem gescheiterten Attentatsversuch zur Beseitigung Hitlers, aus seiner Gefängniszelle in seinem Gedicht „Stationen auf dem Weg zur Freiheit“ in seiner 2. Strophe schreiben:

Tat
Nicht das Beliebige, sondern das Rechte tun und wagen, /
Nicht im Möglichen schweben, das Wirkliche tapfer ergreifen, /
Nicht in der Flucht der Gedanken, allein in der Tat ist die Freiheit.
Tritt aus ängstlichem Zögern heraus in den Sturm des Geschehens,
nur von Gottes Gebot und deinem Glauben getragen /
und die Freiheit wird deinen Geist jauchzend empfangen.

Er war bereit zur Passion, weil er Verantwortung zu übernehmen und schuldig zu werden bereit war. Er ist für uns, insbesondere in der Passionszeit, ein Vorbild antwortenden und verantwortenden Glaubens.

Prof. Dr. Reinhold Mokrosch
Institut für Ev. Theologie an der
Universität Osnabrück  
Leiter der Forschungsstelle für
Werterziehung in Religion und Gesellschaft
rmokrosc@uni-osnabrueck.de

 

 


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