Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: C. Dinkel und I. Karle

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Meditationen über Texte von Dietrich Bonhoeffer - 2006
Meditation über Dietrich Bonhoeffer: Von der Dummheit (WE 17-20)
Hans Gammeltoft-Hansen (Dänemark)
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Der schlimmste Feind des Guten

Der gefährlichste Feind des Guten ist nicht die Bosheit, sagt Bonhoeffer; es ist die Dummheit. Die Dummheit, die entsteht, wenn Menschen – oft in Gruppen – dumm gemacht werden, oder sich vielleicht sogar geradezu dumm machen lassen. Wenn die Menschen in ihrer Unwissenheit und Dummheit ihrer inneren Selbständigkeit beraubt worden sind, sind sie auch fähig, böse zu handeln. – Das schreibt Bonhoeffer im Winter 1942-43 aus dem Gefängnis in einem Rückblick auf die 10 Jahre, die seit der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten vergangen sind.

Dummheit, Unwissenheit, soll ein gefährlicher Feind des Guten sein, gefährlicher als die bewusste Bosheit? – Ein merkwürdiger Gedanke für den Juristen, der mit unserem Strafrecht vertraut ist. Denn in diesem System, in dem die Empfindungen und Gedanken der Gesellschaft über das Böse in rechtliche Normen umgesetzt sind, ist es doch gerade umgekehrt.

Nur die Tat, die wissentlich oder absichtlich begangen ist, kann mit schwerer Strafe belegt werden. Der Jurist nennt das „Vorsatz“; und der Vorsatz kann in Absicht (Wille) oder Einsicht (Wissen) bestehen. Aber man kann ja nicht etwas mit Willen oder Absicht tun, ohne auch davon zu wissen, deshalb gehört Wissen oder Einsicht unter allen Umständen dazu. Wissen darum, dass die Handlung, die man ausführt, anderen Schaden zufügt. – Zwar kann man auch für etwas bestraft werden, wovon man nichts wusste, wovon man aber in hohem Maße Wissen und Einsicht haben sollte; man nennt das „Fahrlässigkeit“. Aber hier befinden wir uns auf der relativ gesehen niedrigeren Ebene von weitaus geringeren Strafen. Schwere Strafe für eine böse Tat setzt Wissen und Bewusstsein darum voraus bei demjenigen, der die Tat begeht.

Was stimmt nun? Was ist der schlimmste Feind des Guten, die bewusste Bosheit oder die Dummheit, die Unwissenheit?

Ja, betrachtet man sein eigenes Innere, dann herrscht wohl kein Zweifel: Es ist für mich als Mensch schlimmer, böse zu sein als dumm und unwissend. Die Bosheit im Menschen ist wie eine Krankheit, ein Krebsgeschwür, das die Menschlichkeit wegfrisst. Jedenfalls, wenn sie sich zu einer Eigenschaft entwickelt hat, die ich kenne und für deren Zähmung ich nichts tue, und ich nichts unternehme, um ihre Folgen zu lindern oder zu beseitigen.

Und die Dummheit? Mit ihr kann man jedenfalls selbst besser leben, unter anderem weil man sie in der Regel nicht erkennt; würde man sie erkennen, wäre man ja nicht dumm und unwissend. – Erst im Nachhinein sieht man es vielleicht ein – und ärgert sich.

Aber es mag sein, dass es für die Anderen nicht so leicht ist, mit der Dummheit zu leben, für diejenigen nämlich, die ihren Folgen ausgesetzt sind. Vielleicht ist es in Wirklichkeit für Andere schwerer, mit der Dummheit als mit der bewussten Bosheit zu leben. Über sie ist man sich im Klaren. Und sie hat wohl auch eine Tendenz, sich im Verhältnis zum Gemeinsam-Menschlichen zu isolieren, wenn sie ihr hässliches Angesicht deutlich zeigt.

„Die Dummheit,“ schreibt Bonhoeffer aus dem Gefängnis der Nazis, „scheint vielleicht weniger ein psychlogisches als ein soziologisches Problem zu sein.“ Die Dummheit hat, in dem Spiegel eines Jahrzehnts, in dem er sie betrachtet, nichts mit den intellektuellen Fähigkeiten des Einzelnen zu tun. Die Dummheit, wenn sie der schlimmste Feind der Guten ist, ist die Dummheit der Vielen, ist dies, dass sich die Vielen dumm machen lassen.

Wenn das geschieht – und darauf hat das Deutschland der 1930er und 40er Jahre gewiss nicht das Patent –, dann kann die Folge Bosheit sein, manchmal sogar große Bosheit. Dann können die Machthaber im Schutze der Unwissenheit und Dummheit der Vielen mit viel Bosheit durchkommen. Dann können die Schwachen misshandelt, unterdrückt oder gedemütigt werden, ohne dass ein Finger gerührt würde, um das zu verhindern, oder ein Mund geöffnet würde, um dagegen zu protestieren; jedenfalls nicht genug Finger oder Münder, so dass sie eine Wirkung hätten, so dass sie den Untaten, der Unterdrückung oder den Demütigungen ein Ende machen könnten.

„Das Böse trägt immer den Keim der Selbstzersetzung in sich, indem es mindestens ein Unbehagen im Menschen zurücklässt,“ sagt Bonhoeffer, „aber gegen die Dummheit sind wir wehrlos.“

Es gibt recht viele Dinge, von denen wir jeder für sich nicht viel wissen. Aber sind wir nicht trotzdem oft geneigt, uns eine Meinung über solche Dinge zu bilden – und dieser, in Wirklichkeit schlecht begründeten, Meinung Ausdruck zu verleihen? Wir haben durch Zufall jemanden darüber reden hören, wir haben einige Ausschnitte im Fernsehen gesehen, wir haben ein paar oberflächliche oder einseitige Artikel in der Zeitung gelesen. All das gibt uns keineswegs eine Grundlage, etwas darüber zu wissen. Aber hält uns dies etwa immer davon ab, dennoch eine Meinung zu haben, und davon, sie kundzutun? Kaum viele von uns können sich davon freisprechen, sich mindestens hin und wieder so zu verhalten.

Wir können, bei einer guten Gelegenheit mit ehrlicher Besinnung, vielleicht sehen, dass etwas eigentlich dumm ist. Aber böse? Nein, so wollen wir es sicher nicht auffassen.

Und dann kommt Bonhoeffer, mit seiner zehnjährigen bitteren und erschütternden Erfahrung, und stellt uns vor die unbequeme Frage, ob wir uns denn dessen so sicher sein können, dass es nicht schlicht und einfach böse ist, was wir tun.

Vielleicht haben wir uns selbst in unserer unwissenden und dummen Selbstsicherheit in eine wachsende Gruppe begeben, die die Grundlage dafür abgibt, dass andere Menschen – die Schwachen, die Minderheiten in unserer Gesellschaft – ein böses Schicksal erleiden.

Vielleicht hat der Mann, der im Gefängnis saß und auf das vergangene Jahrzehnt zurückblickte, Recht. Vielleicht ist die Dummheit ein größerer Feind des Guten, als es die eigentliche Bosheit ist.

Vielleicht befinden wir uns tatsächlich in der Gefahr, dass wir in unserer Unwissenheit und Dummheit nicht allein unwissend und dumm sind – sondern böse.

Prof. Dr. jur Hans Gammeltoft-Hansen, Ombudsmand des dänischen Folketing
E-mail: ombudsmanden@ombudsmanden.dk

 


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