Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, J. Neukirch, C. Dinkel, I. Karle

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1. Sonntag im Advent, 3. Dezember 2006
Predigt zu Lukas 1, 67-79, verfaßt von Thomas Bautz
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Lukas 1:67 Und sein Vater Zacharias wurde vom heiligen Geist erfüllt, weissagte und sprach: 68 Gelobt sei der Herr, der Gott Israels! Denn er hat heimgesucht und erlöst sein Volk 69 und hat uns aufgerichtet eine Macht des Heils im Hause seines Dieners David 70 - wie er vorzeiten geredet hat durch den Mund seiner heiligen Propheten - , 71 daß er uns errettete von unsern Feinden und aus der Hand aller, die uns hassen, 72 und Barmherzigkeit erzeigte unsern Vätern und gedächte an seinen heiligen Bund 73 und an den Eid, den er geschworen hat unserm Vater Abraham, uns zu geben, 74 daß wir, erlöst aus der Hand unsrer Feinde, 75 ihm dienten ohne Furcht unser Leben lang in Heiligkeit und Gerechtigkeit vor seinen Augen. 76 Und du, Kindlein, wirst ein Prophet des Höchsten heißen. Denn du wirst dem Herrn vorangehen, daß du seinen Weg bereitest, 77 und Erkenntnis des Heils gebest seinem Volk in der Vergebung ihrer Sünden, 78 durch die herzliche Barmherzigkeit unseres Gottes, durch die uns heimsuchen wird das aufgehende Licht aus der Höhe, 79 damit es erscheine denen, die sitzen in Finsternis und Schatten des Todes, und richte unsere Füße auf den Weg des Friedens.

Liebe Gemeinde,

Gestatten Sie eingangs einige Bemerkungen zur Form und zur Herkunft dieses Gedichts (1)

Der erste Teil ist ein Lobgesang und der zweite Teil eine Prophetie in Form eines über dem Neugeborenen: Johannes ausgesprochenen Wunsches; das Gedicht insgesamt ist jüdischer Herkunft und stammt wahrscheinlich aus der Täuferbewegung. Es enthält viele Anknüpfungen an atl. Psalmen, aber auch an jüdische bzw. rabbinische Gebete, z.B. an das sog. Achtzehnbittengebet.

Zur Zeit des Lukas dürfte dieses Gedicht als Lobgesang in jüdisch-christlichen Gemeinden fester Bestandteil der Liturgie gewesen sein. Noch heute wird es in den Klöstern des Westens jeden Morgen bei den Laudes - das Magnificat ( Lobgesang der Maria) jeden Abend beim Vesper - gesungen.

Indem die Kirche diesen Hymnus als Benedictus – als Lobgesang – in ihre Liturgie aufnahm, stimmte sie ein in den Lobpreis gegenüber dem Gott Israels, der sein Volk immer wieder heimgesucht hat, um sein Erbarmen und seine Wohltaten zu erweisen, und der kraft seiner Barmherzigkeit auch in Zukunft sein Volk heimsuchen wird.

Der Lobgesang des Zacharias besingt die Hoffnung auf das erbarmende Entgegenkommen Gottes. Er lobpreist Gott, weil dieser sein Volk nicht im Stich läßt. In der Gestalt des Johannes verdichtet sich diese Hoffnung, weil er der Wegbereiter dessen wurde, der als aufgehendes Licht aus der Höhe – als Licht der Welt – diejenigen aufsucht, die in Finsternis und Schatten des Todes wohnen.

Wir dürfen aber nicht vergessen, dass Zacharias nicht nur als Priester Grund hatte, Gott zu loben, sondern auch als Vater: Hochbetagt durften seine Frau Elisabeth und er noch Eltern eines Kindes werden, dessen prophetische Laufbahn von Anfang an vorbestimmt war. Das hatte Zacharias zunächst buchstäblich die Sprache verschlagen. Er hatte doch längst die Hoffnung auf ein Kind aufgegeben, da seine Frau zudem noch als unfruchtbar galt. Es war für sie schwer genug, diese Schmach – denn Kinderlosigkeit wurde damals als Schmach empfunden – auf sich zu nehmen. Kein Wunder also, dass Zacharias der Botschaft des Engels zunächst keinen Glauben schenkte. Auch sein Beruf als Priester bewahrte ihn keinesfalls davor, so menschlich zu reagieren.

Doch inzwischen bewahrheitete sich die Frohbotschaft von der Geburt ihres Sohnes. Allerdings herrschte wegen der Namensnennung in der Verwandtschaft Verwirrung; man befragte den Vater, und Zacharias schrieb auf ein Schreibtäfelchen: Johannes, so wie es dem Willen Gottes – vermittelt durch den Engel des Herrn – entsprach. Und sofort löste sich bei Zacharias die Sprachlosigkeit und er segnete Gott für seine fürsorgliche Barmherzigkeit. Damit stand auch das Ansehen des Zacharias als Priester in einem neuen Licht; im Leben von Elisabeth und Zacharias war es hell geworden. Sie ahnten aber auch, dass sie auf geheimnisvolle Weise eingebunden waren in die Heilsgeschichte Gottes mit seinem Volk.

Deshalb besingt Zacharias die vergangenen Gnadenerweise und die künftigen, erhofften Heilstaten Gottes: Wo Gott seinem Volk entgegenkommt, wurde und wird dies nach jüdischem Glaubensverständnis auch spürbar in politischen, sozialen und wirtschaftlichen Veränderungen zum Wohl derer, die ihn fürchten – ganz besonders zum Wohl der Einsamen, Elenden, Gequälten; zum Wohl der zu Unrecht Benachteiligten; zum Wohl der Witwen und Waisen; zum Wohl der Unterdrückten. Dies entspricht dem Schalom Gottes: Frieden im umfassenden Sinne.

Der Lobgesang ist auch ein Gebet, ein Gebet, in dem der Beter Gott segnet. Das mag uns fremd erscheinen. Das Gottsegnen entspricht aber der Grundgestalt jüdischen Gotteslobs (2).

Indem wir Gott segnen, anerkennen wir Gott als Geber all dessen, was wir zum Leben nötig haben. Wir bestätigen ihn in seiner Großzügigkeit und freundlichen Zuwendung. Wenn wir Gott segnen, bekennen wir, dass wir unser Leben letztendlich nicht selbst in der Hand haben.

Propheten Israels – bis einschließlich Johannes – haben den umfassenden Schalom Gottes, sein barmherziges Entgegenkommen meist unter großen Benachteiligungen und persönlichen Entbehrungen bezeugt. Ihrer Botschaft wurde oftmals kein Glauben geschenkt, und wenn sie öffentlich politische und soziale Missstände anprangerten, wurden sie manchmal ins Gefängnis geworfen und gefoltert. Wenn sie Partei nahmen für die Armen, Benachteiligten und Entrechteten, wurden sie bitter verfolgt; aber sie ließen sich nicht schrecken.

Gott möchte Frieden für sein Volk, aber letztlich sogar Frieden für die ganze Welt – Frieden, der soziale und wirtschaftliche Gerechtigkeit umgreift; diese politische Dimension gilt es mitzuhören, wenn Gottes Taten gepriesen werden. Freilich hat sich dieser Schalom immer nur vorübergehend verwirklicht, und es gab und gibt grausige Zeiten, die man kaum mit einem entgegenkommenden, barmherzigen Gott verbinden mag. Israel kannte solche Zeiten der so erlebten Gottesferne; dieses Volk hat Vertreibungen, Exil, zweimalige Zerstörung des zentralen Heiligtums in Jerusalem und zuletzt den schrecklichen Holocaust erfahren. Und dennoch brach das Lob Gottes nicht ab. Viele Psalmen zeugen davon, und selbst in den Konzentrationslagern wurden noch das Glaubensbekenntnis mit zitternder Stimme gesprochen und der Segen Gottes mit bebender Stimme gesungen.

Natürlich haben auch Christen unter solchen schier unmenschlichen Bedingungen gebetet und gesungen, und manchmal stimmten sogar erklärte Atheisten ein. Wie ist es möglich, dass Menschen Gott preisen, obwohl sie furchtbar leiden müssen, gequält werden und ihr baldiges Ende ahnen?

Oder fragen wir – eher auf unsere Verhältnisse bezogen: Wie schaffen es Menschen bei uns, in sozialen, wirtschaftlichen und persönlichen Nöten dennoch Gott gegenüber dankbar zu bleiben? Diese Dankbarkeit äußert sich freilich eher im Stillen; es wird kaum darüber gesprochen. Aber die grundsätzliche Einstellung einer dankbaren Ergebenheit ist da, und daraus beziehen einzelne Menschen ihre Kraft zur Daseinsbewältigung. Das jedenfalls gibt es doch auch bei uns, dass Menschen lernen mit Behinderung zu leben. Dass Menschen trotz schwerer Krankheit noch einen Sinn im Leben sehen. Dass Menschen trotz Verlust eines liebgewordenen Menschen nicht am Leben verzagen. Dass Menschen trotz Zerbrechens einer Ehe nicht ihrerseits völlig am Leben verzweifeln.

Mir fällt allerdings immer wieder auf, dass der oder die vom Leid Betroffene kaum zu klagen wagt; so als sei es ein ungeschriebenes Gesetz, eine eiserne Regel, was sich in einer Redensart niedergeschlagen hat: „Aber ich will nicht klagen“. Oder: „Man muss zufrieden sein.“

Dabei brächte es unter Umständen dem Einzelnen innere Befreiung, sich Luft machen zu können und das Leid oder das erfahrene Unrecht zur Sprache zu bringen.

Mir scheint, dass wir in unserer Kultur – gerade auch im kirchlichen Leben, bis in die Liturgie hinein – der Klage zu wenig Raum geben. Bei uns „müssen“ Menschen zufrieden sein, auch wenn sie es gar nicht sind. Davon zeugt auch unsere Gesprächskultur. Die Frage: „Wie geht es Ihnen?“/ „Wie geht es dir?“ ist offenbar schon zur bloßen Floskel entartet; häufig lautet die „gepflegte“, korrekte, gesellschaftsfähige Antwort“: „Danke, es muss ...!“ – Nun, wenigstens vor Gott dürfen wir doch ehrlich sein und uns öffnen, dürfen wir uns auch Luft machen und unsere Sorgen und Nöte raus lassen. – Damit Sie mich nicht missverstehen: Ich meine nicht ein ständiges Lamentieren, ein wiederholtes Bejammern, das sich im Kreise dreht und dem Betroffenen nicht wirklich Aufatmen lässt. Das gibt es natürlich auch; da kann es eine Hilfe sein, einfach mal darüber nachzudenken, wofür ich im Leben dankbar sein kann. Wenn ich dankbar werde für das, was – trotz Krankheit, Trauer oder Arbeitslosigkeit oder anderer Not – noch gelingt; wenn ich wieder einen Blick dafür bekomme, was mir im Leben sogar ohne mein Zutun geschenkt wurde und wird, beginne ich auch, befreit aufzuatmen und werde eher fähig, Belastendes zu tragen und Menschen zu ertragen, die mir Unrecht tun. Und dann kann es wiederum heilsam sein, meine Not mit einem Menschen meines Vertrauens zu teilen.

Wenn wir uns die liturgische Praxis des Judentums anschauen, entdecken wir, dass dort nicht nur dem Lobgesang, sondern auch der Klage Raum gegeben wird. Viele Psalmen bringen beides offen zum Ausdruck: Klage- und Lobgesang. Wenn sich der Einzelne klagend Luft verschafft und dann wieder frei ein- und ausatmen kann, lösen sich Beklemmungen und Verkrampfungen. Der Mensch wird sogar wieder frei für das Loben Gottes.

Im Advent feiern wir und besingen wir fröhlich das innige, intime „Heimsuchen“ Gottes. Indem wir unser Herz dafür öffnen, kommen wir Gott entgegen. Wir werden bereit, Vergebung für all das zu empfangen, was Gottes Entgegenkommen und dem Kommen seiner Herrschaft im Wege steht. Gott möchte, dass es auch bei uns hell wird und das Licht seiner erbarmenden Liebe sich unter uns ausbreitet. Gottes Heimsuchung drückt sich in seiner heilenden Nähe, seiner umsichtigen Fürsorge aus.

Auch für uns hat Gottes gnädige Zuwendung gesellschaftspolitische Dimensionen, die sich allerdings nur unter bereitwilliger Mitwirkung verantwortlicher Menschen verwirklichen lassen. Rechtlich haben wir in unserer Republik dafür eine solide Grundlage, aber die sozial-wirtschaftlichen Verflechtungen sind derart kompliziert geworden, dass es faktisch zu vielen Ungerechtigkeiten gekommen ist: Das Recht auf Arbeit, das Recht auf Bildung, das Recht auf eine optimale medizinische Versorgung, das Recht auf Altersversorgung – all diese Rechte sind durch bestimmte wirtschaftliche Entwicklungen immer mehr relativiert worden.

Sogenannte „Sachzwänge“ und vor allem das wirtschaftliche Kalkül rangieren häufig vor dem Wohl der Gemeinschaft und des Einzelnen.

Hier hat Kirche auch eine gesellschaftskritische, politische Dimension und sollte nicht aufhören, ihre prophetische Stimme laut – aber nicht lautstark, werbend – aber nicht besserwisserisch – zu erheben, damit auch die in unserer Gesellschaft Benachteiligten und Schwachen wieder erleichterten Herzens und aufatmend in das adventliche Lob Gottes einstimmen können.

Das Lichtermeer der Weihnachtsmärkte kann durchaus bedrückend wirken auf diejenigen, deren Lebenssituation eher im Dunklen angesiedelt ist und in deren Innerem eher Finsternis als heller Frohsinn herrscht. Gott schenke uns den Mut, solchen Menschen unsere Herzenstür zu öffnen und das Gespräch mit ihnen zu suchen.

Wie viele Menschen fühlen sich eher von Unglück und Ungerechtigkeit als von Gottes herzlichem Erbarmen heimgesucht. Wenn wir ihnen aber entgegenkämen und ein Ohr für ihre Sorgen und Nöte hätten – auch für unsägliches Leid, würden sie sich vielleicht Luft machen können und ihre Klage laut äußern können.

Diese Offenheit vor einander erfordert Mut und Vertrauen; wir sind darin völlig ungeübt, haben es verlernt. Deshalb sollten wir zunächst die Gebetskultur pflegen, bevor wir uns einen Schritt weiter vorwagen – hin zur Gesprächskultur.

Es sollte uns nicht unnötig schwer fallen, Gott gegenüber für all das, was uns geschenkt ist und was uns bereits im Leben gelingen durfte, dankbar zu sein und ihn dafür zu loben. Darum lasst uns nach der Predigt in einen Lobgesang für den entgegenkommenden, barmherzigen Gott einstimmen: „Macht hoch die Tür, die Tor macht weit / es kommt der Herr der Herrlichkeit ...“. Amen.

Anmerkungen:
(1) vgl. im Folgenden François Bovon: Das Evangelium nach Lukas (Lk 1,1 -9,50), EKK III/1 (1989), 95 -112
(2) vgl. im Folgenden Magdalene L. Frettlöh: GPM 2006/ 2007, 11–18: 12ff.

Thomas Bautz
bautz@efh-bochum.de

 


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