Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, J. Neukirch, C. Dinkel, I. Karle

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1. Sonntag im Advent, 3. Dezember 2006
Predigt zu Matthäus 21, 1-9, verfaßt von Marianne Christiansen (Dänemark)
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Sehnsucht ist das erste.
Sehnsucht ist nicht Entbehrung. Entbehrung ist, wenn man etwas oder jemanden nicht hat, das oder den man kennt und liebt. Entbehrung richtet sich nach rückwärts.
Sehnsucht richtet sich nach vorn, sie streckt sich, öffnet sich für das, was kommen soll, das, was kommen muss, für den, der kommt.

Die Liebe beginnt mit Sehnsucht –
der Glaube beginnt mit Sehnsucht –
die Hoffnung beginnt mit Sehnsucht.
Wir eng der Glaube mit der Liebe verwandt ist, vergessen wir hin und wieder, und wir bilden uns ein, dass Glaube mit Meinungen oder mit Wissen zu tun habe. Aber Glaube ist dasselbe wie Liebe, Hingabe, Vertrauen. Deshalb sind die Bilder des Glaubens auch Bilder der Liebe – Liebesbilder vom Verhältnis zwischen Gott und Mensch.
Der Glaube und die Hoffnung und die Liebe sind verschiedene Seiten ein und derselben Sache: das Verlangen, die Sehnsucht nach Zusammengehörigkeit, nach der vollkommenen Vereinigung mit Gott und mit anderen Menschen. Und das Vollkommene gibt es nur in Gott, ist Gott.

Die Sehnsucht ist ohne Richtung, wenn wir Gott nicht in der Welt mitdenken. Dann irren der Glaube und die Hoffnung und die Liebe heimatlos umher und suchen Erfüllung nur unter Menschen, nur im sichtbaren Leben. Wir können uns gegenseitig plagen, indem wir die ganze Sehnsucht nach dem Vollkommenen aufeinander richten; der oder die Geliebte ist Gott, die Familie ist Gott, oder das Bier ist Gott, oder Fußball ist Gott, sogar der Tour-de-France-Sieger Bjarne Riis ist Gott – es ist der Trend der Zeit, das eine oder andere zum Gott zu ernennen – aus der reinen Sehnsucht nach etwas, was die Sehnsucht nach dem Vollkommenen wirklich tragen kann. Deshalb schätzen wir das Verliebtsein so hoch – die Augenblicke im Leben eines Menschen, in denen die Sehnsucht sich auf einen bestimmten Menschen richtet und in denen die Sehnsucht selbst den Auserwählten vollkommen macht, ja, nahezu göttlich in den verblendeten Augen des Verliebten. Das dauert leider nicht so lange. Und wir sind gleichermaßen enttäuscht, jedesmal wenn es schief geht, – jedesmal wenn sich herausstellt, dass ein Mensch oder eine Leidenschaft nicht das Vollkommene ist, das die innerlichste Sehnsucht hätte stillen können.

Aber die Sehnsucht kann sich auch öffnen und das Unbekannte aufnehmen, das, was man sich nie vorgestellt hatte, das einem dann aber plötzlich entgegentritt. Die Sehnsucht nach Gott und Mensch kann in der Begegnung sagen: ”Ich kannte dich nicht, du fehltest mir nicht, ich hatte mir dich nicht vorgestellt. Aber jetzt weiß ich, dass du es warst, nach dem ich mich gesehnt habe.”

Es kann geschehen, dass ”der Prinz auf dem weißen Pferd” auf einem Esel oder einem Ziegenbock kommt.

”Sagt der Tochter Zion: Siehe, dein König kommt zu dir, sanftmütig und auf einem Esel reitend” – und du erkanntest ihn nicht, du hattest dir ihn anders vorgestellt, aber er kommt. Wenn du Sehnsucht empfunden hast, kannst du ihn sehen.

Es war einmal eine Königstochter, die sich sehnte. Nach wem, wusste sie nicht, aber sie wollte nicht einfach einen Mann haben, sie wollte einen haben, mit dem sie sprechen konnte und der ihr etwas zu sagen hatte. Da ließen sie die Trommel im ganzen Lande schlagen, dass die Königstochter den zum Manne nehmen wolle, der ihrer Meinung nach am besten für sich sprechen könne. Und alle klugen Köpfe und Schriftgelehrten des Landes kamen auf weißen und schwarzen Pferden zum Schloss geritten, um die Königstochter über ihre Weisheit zu belehren, aber keiner von ihnen entsprach ihrer Sehnsucht, und einer nach dem anderen wurde mit einem ”er taugt nicht, weg mit ihm” beschieden.
Schließlich kam einer polternd durch die hohen Türen und das weite Tor quer auf einem Ziegenbock sitzend mit dem festen Entschluss: ”Nimmt sie mich, so nimmt sie mich, und nimmt sie mich nicht, so nehme ich sie trotzdem.” Was brachte er mit? Sachen, die er im Graben an seinem Weg aufgesammelt hatte und an denen die anderen vorbeigeritten waren – einen Holzschuh und eine tote Krähe und sich selbst. Aber als er in den Saal trat, begann das Gespräch ganz unerwartet und erhob sich zu einem Fest. Die Königstochter gewann die Sprache wieder und antwortete: ”Das gefällt mir! Du kannst reden, und du kannst antworten, und dich will ich zum Mann haben.”
Und so bekam Tölpel-Hans eine Frau und eine Krone, und er saß auf einem Thron.

Das Märchen wäre nie entstanden, wenn es nicht einmal geheißen hätte:
”Sagt der Tochter Zion: Siehe, dein König kommt zu dir, sanftmütig und auf einem Esel reitend.”

Tochter Zion – die Königstochter –, wie die Alten die Stadt Jerusalem nannten, sie ist das Bild für jedes einzelne Menschenherz. Die Sehnsucht der Königstochter nach dem König, dem Prinzen ist die Sehnsucht des Herzens nach der Erfüllung des Glaubens und der Hoffnung und der Liebe in Gott.

Siehe, dein König kommt unerwartet. Er kommt wie Jesus, er, der all das aufgesammelt hat, was alle die anderen missachtet hatten. Und die Königstochter fragt:
Zeig mir dein Heer: es ist ein Gruppe mit grünen Zweigen in den Händen, eine Schar von Geheilten, Blinden und Lahmen, Verrückten und Normalen, Frauen, Männer und Kinder, eine singende Gemeinde.
Zeig mir deine Stärke: es ist die Liebe, die stärker ist als der Tod.
Zeig mir deinen Reichtum: das ist er selbst – er kommt, um sich selbst zu geben. „Nimmt sie mich, so nimmt sie mich, und nimmt sie mich nicht, so nehme ich sie trotzdem.“ Sie nimmt ihn nicht, sie lehnt ihn ab und lässt ihn hinrichten. Aber er hält an ihr fest, selbst im Tod, und er kommt ihr entgegen als der Auferstandene.
Siehe, dein König kommt zu dir – er kommt immer.
Und die Sehnsucht sieht ihn.

Wenn das Herz keine Sehnsucht hat, wenn es nichts anderes nötig hat als das, was es hat, und wenn es an sich selbst genug hat, warum sollte es sich dann die Mühe machen, die Tür hoch und das Tor weit zu machen für eine fremde göttliche Geschichte, die nur den Frieden stört?

Wenn das Herz Sehnsucht hat und weiß, dass nichts und niemand auf dieser Welt sie erfüllen kann, so kann es die Tür öffnen und den Sohn hineinreiten lassen auf seinem sonderbaren Reittier und sehen und hören und fortgesetzt zuhören und hineinsehen, wer er ist und was er über Gott offenbart.
„Komm, o mein Heiland Jesu Christ, / meins Herzens Tür dir offen ist.
Ach zieh mit deiner Gnade ein; / dein Freundlichkeit auch uns erschein.“

Er kommt und verwandelt das ganze Haus – verwandelt Schweigen in Gespräch, verwandelt Sehnsucht in Glauben und Hoffnung und Liebe, verwandelt die Wüste in ein Rosenbeet. Freue dich, Königstochter, – die Rosen springen aus in deinem Haar.

Amen

Pastorin Marianne Christiansen
Asylgade 22
DK- 7700 Thisted
Tel.: ++ 45 – 97 92 03 16
E-mail: mch@km.dk


Übersetzung aus dem Dänischen: Dietrich Harbsmeier


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