Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, J. Neukirch, C. Dinkel, I. Karle

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2. Sonntag im Advent, 10. Dezember 2006
Predigt zu Jesaja 35, 3-10, verfaßt von Peter Taeger
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Wenn ich über den Weihnachtsmarkt gehe, ist das schön und erschütternd zugleich. Glänzende Kinderaugen bestaunen eine glitzernde Welt. Ich sehe Menschen, die etwas suchen. Vordergründig natürlich Geschenke aber hintergründig, denke ich, einen Rest von Glück, Frieden und Heil.
Ich mag Menschen, die etwas suchen.
Erschütternd ist nur, dass diese Suche nach Glück radikal ausgebeutet wird. Kauft Leute, kauft noch mehr, dann wird euer Leben glücklicher. Das ist nicht nur Weihnachten so, aber Weihnachten springt es deutlicher ins Auge. Süßer die Kassen nie klingeln als in der Weihnachtszeit. Aber ein ganz artiger Weihnachtsmarkt wäre auch komisch.
Also, es stört mich nicht wirklich. Ich bemerke es. Empört? Nein, eher erstaunt.

Ich bleibe vielmehr am Gedanken der Suche, an der Sehnsucht hängen.
Warum ist so etwas in unser Herz gelegt. Warum sind wir zutiefst erfüllt von einer unstillbaren Sehnsucht? Warum ist die Sehnsucht nach Glück, nach Frieden und Heil so groß? Warum ist sie so groß, dass wir immer wieder, auch auf dem Weihnachtsmarkt danach suchen?
Ich denke, das hängt mit unserer Welt zusammen.
Die Welt ist wie sie ist, schön und faszinierend aber oft auch schrecklich, vernichtend, bedrohlich, eben ganz anders, als wir es uns wünschen.
Und da hören wir zum 2. Advent: Seht auf, erhebt eure Häupter, weil sich eure Erlösung naht. Am 2. Advent sind wir dieser Erlösung auf der Spur.
Genau davon redet unser heutiger Predigttext, den der Prophet Jesaja für sein Volk in einer schwierigen Lage geschrieben hat.

Merkwürdigerweise deckt sich unser Blick mit dem des Jesaja.
Müde Hände und wankende Knie sehen wir damals wie heute. Auch an verzagten Herzen mangelt es nicht.
Er wie wir entdeckt an den Straßen und Wegen Blinde, Taube und Lahme. Leib und Seele sind betroffen. Menschen, die für sich und die Welt keinen Weg mehr sehen.
Anderen, denen die Stimmen dieser Zeit viel zu schrill und zu laut geworden sind, sind ertaubt. Auf wen soll ich noch hören. Dann lieber gar nicht. Auch Menschen, die dem Tempo der Zeit nicht mehr folgen können, denen deshalb im Herzen bange ist. Was soll nur werden.
Wüste erstreckt sich bis an den Horizont.
Ich denke, sie sind uns nah, die Heimkehrer aus Babylon. Die erst mal nur Wüste und Verwüstung vorfinden, nichts von glorreicher Heimkehr.

Aber bei Jesaja verwandelt sich der Zug der Heimkehrenden vor unseren Augen. Triste Gegenwart bekommt einen besonderen Glanz.
Die Blinden beginnen zu sehen, den Tauben öffnen sich die Ohren, die Lahmen lassen sich zu Sprüngen verleiten und die Stummen reden nicht irgend etwas, sondern sie frohlocken. Welch wunderbares altes Wort. Ihre Zunge macht Sprünge und sie loben und preisen Gott.
Und nicht nur die Menschen verändern sich, auch die Umgebung ist mit einem Schlag eine andere. Es brechen Wasser in der Wüste hervor und Ströme ergießen sich. Teiche und Brunnen machen das Land fruchtbar, sogar Rohr und Schilf beginnen zu wachsen. Wie in einer großen Prozession sieht er die Menschen, jetzt nicht mehr mühsam, mit allen Gebrechen sich schleppend, sondern auf heiligem Wege schreitend. Keine reißenden Tiere und keine Gefahr mehr. Freude und Wonne, statt Schmerzen und Seufzen.

Wie ist das mit euren Visionen, fragt mich jemand, der noch von DDR-Zeiten her sehr vorsichtig mit Visionen ist: Helfen sie zu überleben oder verführen sie zur Weltflucht oder gar in Diktaturen?
Also führen sie in die Zukunft oder in Sackgassen?

Die Geschichte zeigt deutlich, die Vision des Sozialismus hat überall auf der Welt, unter welchen Vorzeichen er auch immer begonnen wurde, schlimme Folgen gehabt. Der Mensch hatte sich gefälligst der Vision anzupassen, ob er wollte oder nicht. Nicht dem Bild des visionären Menschen zu entsprechen, bedeutete Repressalien, Verfolgung, Lager. Daher ist die Frage, Nutzen oder schaden Visionen nicht uninteressant.
Für die Israeliten jedenfalls lässt sich erst einmal sagen, sie hätten ohne ihre Visionen als Volk nicht überlebt. Ihre Identität hing geradezu an der Vision, dass Gott sein Volk nicht im Stich lässt, sondern es wiederbringt ins gelobte Land, durch alle Schwierigkeiten hindurch.
Am 3. Advent wird als Evangelium Matthäus 11 gelesen.
Johannes sitzt schon im Gefängnis und hört von den Taten Jesu und lässt durch seine Jünger anfragen: „Bist du es, der da kommen soll oder sollen wir auf einen anderen warten?“ Und Jesus antwortet ihm auf verschlüsseltet Weise genau mit der Vision des Jesaja: Blinde sehen und Lahme gehen, Aussätzige werden sein und Taube hören, Tote stehen auf, und Armen wird das Evangelium gepredigt und selig ist, wer sich nicht an mir ärgert.
Das Neue Testament nimmt also die Vision des Jesaja auf und spitzt sie auf das mit Christus hereinbrechende Gottesreich zu.

Diese Art von Verzauberung und Veränderung der Wirklichkeit kann nicht angeordnet oder befohlen werden. Wir können sie auch nicht selbst herbeizwingen.
Wir können uns ihr nur anvertrauen und wenn wir es tun, verändert sie unser Leben und unsere Wahrnehmung von Wirklichkeit. Welt und Leben stehen dann unter dem Vorbehalt, dass sie nicht letzte Wirklichkeit sind. Unsere Wirklichkeit wird relativiert und unter die Verheißung des Kommenden gestellt. Sie wird sozusagen schon von der verheißenen Wirklichkeit angestrahlt und wir nehmen sie auf veränderte Weise wahr.
In Thüringen spielt das Elisabethjahr natürlich eine besondere Rolle. Und für die Heilige Elisabeth verändert sich die Wirklichkeit so, dass sie im Angesicht des Siechen und Kranken das Angesicht Christi erkennt und ihr Herz in Liebe entflammt. Die Vision führt hier beispielhaft zur tätigen Liebe. Sie verändert sie Wahrnehmung von Wirklichkeit durch Elisabeth genauso wie die Wirklichkeit der Siechen und Kranken.
Bei Jesaja betrifft die Veränderung und Erlösung übrigens nicht nur den Menschen, sondern die ganze Schöpfung. Das, finde ich, ist ein ausgesprochen beruhigender Gedanke, wo wir uns zunehmend nur im Zusammenhang allen Lebens auf dieser Welt begreifen können. Und die Perspektiven dieser Sichtweisen sind bis heute noch nicht wirklich ausgelotet.

Im Advent rückt uns der Gedanke der Erlösung nah.
Es lohnt sich, das Haupt zu erheben und nicht nur den kleinen Umkreis unseres Gesichtsfeldes im Blick zu haben. Wer sein Haupt auf die Erlösung hin erhebt, sieht mehr und nimmt unsere Welt anders wahr, denn im Zusammenhang Gottes verändern sich die Dinge.
Diesen Ausblick wünsche ich Ihnen an diesem 2. Sonntag im Advent.


Superintendent Peter Taeger
Saalfeld-Rudolstadt
Peter_Taeger@gmx.de


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